„Die Russen haben mich gerettet und durchgebracht.“ So heißt es in einem Brief des Auschwitzgefangenen Otto Frank an seine Mutter in Basel. Er ist datiert auf den 23. Februar 1945, also weniger als einen Monat nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Frank konnte gerade wieder einen Stift in der Hand halten. Dass eben jener Otto Frank im Jahr 1947 das Tagebuch seiner Tochter Anne veröffentlichte, ist bekannt. Dass er selbst von sowjetischen Soldaten und Ärzten gerettet und behandelt wurde, hingegen weniger.
Geschichten wie diese, die einen Bezug zwischen der Sowjetunion und dem Holocaust herstellen, blieben in der Sowjetunion und später auch in Russland lange unerzählt. Die UdSSR sah sich selbst als Hauptopfer der nationalsozialistischen Verbrechen, weswegen der Begriff Holocaust aus politischen Gründen nicht benutzt und der Mord an den europäischen Juden nicht öffentlich thematisiert wurde – obwohl zahlreiche Opfer des Holocausts sowjetische Staatsbürger waren. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange ebenfalls kein staatliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sodass zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen einerseits und Holocaustleugner andererseits das Feld besetzten. Mittlerweile ist es russischen Politikern zwar ein Anliegen, die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der Juden zu betonen, doch weiterhin gibt es in Russland bis heute keinen Gedenktag an die Opfer des Holocausts, keinen eigenen Strafrechtsparagraphen für seine Leugnung und nur wenige Denkmäler für die auf dem Gebiet des heutigen Russlands ermordeten Juden.
РУССКАЯ ВЕРСИЯ
Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde in der UdSSR der offizielle Standpunkt formuliert, alle Bewohner des Landes hätten – unabhängig von ihrer Nationalität – gleichermaßen unter den NS-Verbrechen gelitten. Schon im Februar 1944 war in der amtlichen Untersuchung des Massakers von Babyn Jar nur die Rede von der Ermordung „friedlicher Sowjetbürger“1. Vor dem Hintergrund des spätstalinistischen Antisemitismus und der anschließenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel kam es dann faktisch zum „Vergessen des Holocausts“. Darüber, dass der Genozid an den Juden eine besondere Stellung unter den NS-Gräueltaten einnimmt, wurde kaum gesprochen; das Wort Holocaust kam weder in der Propaganda noch in Schulbüchern oder in der Kunst vor.
Erst während der Perestroika trat allmählich ein Wandel ein. Doch selbst 1992, im Gründungsjahr des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums Holocaust, war dieser Begriff noch weitgehend unbekannt. Und es dauerte bis Mitte der 1990er Jahre, ehe das Gedenken an den nationalsozialistischen Genozid als Anliegen des russischen Staates – und nicht nur als eines der jüdischen Gemeinden – erörtert wurde.
Zugleich konnte man Russland noch zu Beginn der 2000er Jahre als internationale Hochburg der Holocaustleugnung bezeichnen. Zwar gehörte die sowjetische Politik eines staatlichen Antisemitismus der Vergangenheit an, doch man ging nicht konsequent gegen antisemitische Bestrebungen vor: Insbesondere Schriften westlicher Holocaustleugner konnten in Russland offen publiziert und verkauft werden.
Erst 2003 tauchte der Begriff „Holocaust“ erstmals im staatlichen Rahmenplan für den Geschichtsunterricht an weiterführenden Schulen auf.2 Das führte dazu, dass in vielen Schulbüchern einzelne Aspekte der Shoah dargestellt wurden.3 Doch Bestandteil der Einheitlichen Staatlichen Abschlussprüfung ist das Thema erst seit 2011.
Widersprüchliche Erinnerungspolitik
Dass so viel Zeit verging, bis der Holocaust Eingang in den schulischen Lehrplan fand, entspricht dem komplizierten Verhältnis der russischen Regierung und Gesellschaft zu dem Thema. Einerseits hebt die russische Führung in offiziellen Verlautbarungen immer wieder die Bedeutung des Gedenkens an dieses NS-Verbrechen hervor. So hat Wladimir Putin den Holocaust letztes Jahr nicht nur in seinem Artikel 75 Jahre Großer Sieg: Gemeinsame Verantwortung für Geschichte und Zukunft4 erwähnt, sondern auch in seiner Rede bei der Siegesparade 2020.5 Das zeigt, dass der Holocaust auf Staatsebene erstmals überhaupt als integraler Bestandteil des Großen Vaterländischen Krieges wahrgenommen wird.
In diesen Reden werden jedoch immer wieder drei Thesen vorgebracht. Erstens wird der Holocaust zwar als schreckliches Verbrechen bezeichnet. Doch wird dabei darüber hinweggegangen, dass er sich nicht nur in Europa, sondern auch auf dem Territorium der UdSSR und des heutigen Russland abgespielt hat.6 Zweitens wird die Beteiligung baltischer und ukrainischer Kollaborateure an diesem Verbrechen benannt, während die russischen und belarussischen keine Erwähnung finden. Und drittens wird schließlich auf die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hingewiesen.
Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung
Das Schweigen über den Holocaust auf dem Territorium Russlands ist offenkundig ein Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung, die die Vernichtung der sowjetischen Juden verschwieg. Die beiden anderen Thesen stehen hingegen im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage. Russlands Beziehungen zu vielen postsowjetischen Ländern gestalten sich äußerst schwierig. Dabei wird der Holocaust als Argument herangezogen, um die russische politische Position zu rechtfertigen. Darauf beruht auch das russische Vorgehen gegen die Heroisierung von NS-Erfüllungsgehilfen in den betreffenden Ländern, die dort mitunter vor allem als Kämpfer gegen die Sowjetunion gelten und entsprechend positioniert werden (etwa durch die Verleihung hoher staatlicher Auszeichnungen, Umbenennung von Straßen und Stadien, Errichtung von Denkmälern oder Kundgebungen von SS-Legionären).
Auch das Verhältnis Russlands zu den westlichen Ländern ist kompliziert. Russische Politiker und Medien heben daher immer wieder die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hervor und bedienen zugleich die Vorstellung, diese werde in den USA und Europa totgeschwiegen.
Zugleich ist die UNO-Resolution zur Einführung eines internationalen Holocaust-Gedenktages in Russland bis heute nicht umgesetzt worden, obwohl es 2005 selbst zu den Initiatoren dieser Resolution gehörte.7 Auch wiederholte Appelle des Holocaust-Zentrums sowie jüdischer und Menschenrechtsorganisationen, die sich immer wieder einzeln und gemeinsam an die russischen Behörden wandten, konnten daran nichts ändern. Dabei war das neue Datum als Nationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust und die soldatischen Befreier der Nazi-Todeslager vorgeschlagen worden – sprich, in einer Formulierung, die mit dem offiziellen Diskurs über den Krieg sehr gut vereinbar gewesen wäre. Doch die letzte offizielle Antwort der russischen Präsidialverwaltung lautete, es gebe in Russland bereits einen Gedenktag, der alle mit einbeziehe: nämlich den 22. Juni, den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges.
Vor diesem Hintergrund der widersprüchlichen Erinnerungspolitik ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Leugnung des Holocaust in Russland, anders als in vielen europäischen Ländern, nicht strafrechtlich verfolgt wird.8 Sie steht vielmehr in einer Reihe mit der „Heroisierung“ von Kollaborateuren und der „Leugnung der Rolle der UdSSR beim Sieg über den Nationalsozialismus“. So leugnen denn auch einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und sogar Universitätsprofessoren offen den Holocaust. Der Versuch, den Permer Aktivisten Roman Juschkow wegen Rehabilitierung des Nationalsozialismus strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, endete mit seinem Freispruch durch die Geschworenen. Juschkow forderte daraufhin zynisch eine Entschädigung in Höhe von 6 Millionen Rubel – eine Anspielung auf die angeblich „erdichtete“ Zahl der Holocaust-Opfer.9
Wladimir Matwejew, Professor an zwei Sankt Petersburger Universitäten, erklärte bei einem Vortrag vor Lehrern in der Region Leningrad am Vorabend des Internationalen Holocaust-Tages 2021 rundheraus, der Genozid an den Juden sei eine Erfindung. Den russischen Staatsorganen ist zugute zu halten, dass der Leugner in diesem Fall umgehend entlassen und vor Gericht gestellt wurde.10
Museen, Wissenschaft, Bildung
Das ambivalente Verhältnis zum Gedenken an den Holocaust zeigt sich auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. So wurde 1998 in Moskau das Museum für jüdisches Erbe und den Holocaust eröffnet, wobei auch der damalige russische Präsident Boris Jelzin anwesend war. Trotz der Bezeichnung wird dem Genozid an den Juden in der Ausstellung nur wenig Platz eingeräumt. Auch die Initiative des Holocaust-Zentrums, in Moskau ein eigenes staatliches „Holocaust-Genozid-Toleranz“-Museum einzurichten, wurde nicht umgesetzt. Allerdings entstand daraus zunächst eine kleine Dauerausstellung über den Holocaust im (2005 eröffneten) Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, und später wurde in Moskau das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz gegründet. An den Veranstaltungen dieses Museums hat wiederholt der russische Präsident teilgenommen, was breiten Niederschlag in der Berichterstattung der russischen Medien fand. In den Geschichts- und Heimatmuseen der ehemals von NS-Deutschland besetzten Regionen kommt das Thema Holocaust bis auf wenige Ausnahmen hingegen nicht vor.
Ein weiteres Beispiel ist die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust. Einerseits konnten russische Wissenschaftler in den letzten Jahren Dokumente auswerten, die bis Anfang der 1990er Jahre unter Verschluss waren, und konnten so die Forschung erheblich voranbringen.11 Dank ihrer Arbeit entstand die Enzyklopädie Der Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion12 – ein Nachschlagewerk von über 1000 Seiten, an dem fast 100 Forscher mitgewirkt haben, darunter Vertreter von 15 russischen Universitäten.13 Andererseits findet diese Enzyklopädie in der akademischen Geschichtsschreibung immer noch selten Verwendung, und in allgemeinen Darstellungen zur Geschichte des NS-Besatzungsregimes wird dem Holocaust nicht der ihm zustehende Stellenwert eingeräumt. Auch in Schul- und Universitätslehrbüchern weist die Darstellung des Genozids nach wie vor erhebliche Lücken auf.
Bis heute ist die wissenschaftliche und pädagogische Literatur ganz überwiegend nicht bereit, anzuerkennen, dass der Holocaust als Versuch, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen, ohne Beispiel ist. Die Juden werden unter den übrigen Opfern aufgeführt, in der Regel nach den slawischen Völkern. Nicht durchgesetzt hat sich in Russland auch die These von der Universalität des Holocausts, die im Westen für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs und die Genozidforschung eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um die Bedeutsamkeit der Erkenntnisse aus dieser Tragödie für die Auseinandersetzung mit anderen Genoziden der jüngeren Geschichte.14
„Friedliche Sowjetbürger“
Die sowjetische Tradition, die Opfer des Holocaust unter die umgekommenen „friedlichen Bürger“ zu subsumieren, macht sich auch dort bemerkbar, wo der ermordeten Juden gedacht werden soll. Es gibt in Russland Hunderte von Stätten, an denen Massenexekutionen von Juden stattfanden. In den allermeisten Fällen befinden sich an diesen Orten keine Denk- und Mahnmäler, die auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer hinweisen. Das Bestreben, daran etwas zu ändern, geht von der russischen Zivilgesellschaft aus. 2009 wurde das Projekt Die Würde zurückgeben ins Leben gerufen. Dank dieser Initiative konnten mit Unterstützung der lokalen Behörden bereits rund 90 Mahnmale mit den Namen der Opfer sowie Gedenktafeln errichtet werden. So wurde 2011/2012 im Dorf Ljubawitschi in der Region Smolensk, das vor einigen Jahrhunderten ein bedeutendes Zentrum des Judentums war, ein eigenes Denkmal für die Opfer des Holocaust eingeweiht.
Etwa zur gleichen Zeit, im November 2011, wurde jedoch auch erstmals in der Geschichte des heutigen Russlands eine bereits errichtete Gedenktafel mit einem Text zu den Opfern des Holocaust wieder demontiert. Dies geschah in Rostow am Don, am Ort des „russischen Babyn Jar“ – der größten Massenerschießung von Jüdinnen und Juden auf dem Territorium, das heute russisches Staatsgebiet ist. Die Tafel wurde auf Beschluss des Bürgermeisters angebracht und von dem ihm unterstellten Leiter des Kulturamts wieder entfernt. Auf der neuen Tafel war anstelle von Juden wieder die Rede von „friedlichen Sowjetbürgern“. Dieser Akt der „Entjudaisierung des Holocaust“15 führte zu Diskussionen in der Region und im Internet und sogar zu einem Gerichtsverfahren. 2014 wurde schließlich noch einmal eine neue Gedenktafel angebracht, auf der zwar die Juden genannt werden, nicht jedoch das Wort „Holocaust“.
Holocaust oder „Genozid am sowjetischen Volk“
Diese ablehnende Einstellung gegenüber dem Wort „Holocaust“ ist im jetzigen Russland jedoch eher die Ausnahme. Der Begriff ist nicht mehr tabu wie zu Sowjetzeiten; im Gegenteil wird reger Gebrauch von ihm gemacht. Paradoxerweise lässt seine Popularisierung sich sehr gut mit der Renaissance der sowjetischen Interpretation der Geschehnisse in Einklang bringen. Man muss das Wort „Holocaust“ dazu nur auf andere Tragödien ausweiten.
So veröffentlichte die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RWIO) unter der Leitung des früheren Kulturministers Wladimir Medinski 2019 die Zusammenfassung eines Fachvortrags unter der Überschrift „In der RWIO wurde berichtet, wie die Nazis den slawischen Holocaust vorbereiteten“16. Formulierungen, die das Wort „Holocaust“ verwenden, sind keine Seltenheit. Sie können sich auf Ereignisse aus verschiedenen historischen Perioden beziehen und müssen nicht einmal im Zusammenhang mit dem Krieg stehen. Von dem Historiker Michail Mjagkow, dem wissenschaftlichen Direktor der RWIO, stammt die Aussage: „Faktisch waren die Sowjetbürger ebenso Opfer eines Genozids wie das jüdische Volk.“17
Diese begriffliche Dehnung und Gleichsetzung aller in den besetzten Gebieten von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen mit den Opfern des Genozids wird auch durch Ermittlungen befördert, bei denen NS-Verbrechen 75 Jahre nach Kriegsende neu untersucht werden. 1942 fanden bei dem Dorf Shestjanaja Gorka in der Region Nowgorod Massenerschießungen statt. Die Opfer stammten aus der lokalen Bevölkerung und nur eine relativ kleine Anzahl von ihnen war jüdisch. Im Jahr 2019 leiteten die Ermittlungsbehörden eine Untersuchung dieses Falls ein. Das Geschehen selbst und die Hinrichtungsstätte waren bereits 1947 bei einem Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher festgehalten worden. Die Entscheidung des lokalen Gerichts am 27. Oktober 2020 stützte sich – erstmals bei einer Verhandlung über die Hinrichtung von Zivilisten – auf den Artikel über Genozid.18 Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, auf dessen Grundlage die Ermittlung- und Justizbehörden Russlands derzeit etwa zehn weitere Verfahren durchführen. Das Gericht bezeichnete die Verbrechen in der Urteilsbegründung als „Genozid an nationalen und ethnischen Gruppen, die die Bevölkerung der UdSSR, die Völker der Sowjetunion, repräsentieren“. Sie seien „Teil eines Plans“ gewesen, „mit dem NS-Deutschland sich der gesamten örtlichen Bevölkerung der Sowjetunion entledigen wollte“19.
Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft
Die neuerliche Untersuchung war unter anderem dadurch motiviert, dass einige der Täter aus Lettland kamen (wobei diese allerdings zum Teil russischer Abstammung waren und der KGB die Namen der NS-Handlanger bereits vor 50 Jahren erfahren hatte). Viele der Medien, die diese Ereignisse als Genozid darstellten, thematisierten deshalb nicht die ethnische Identität der Opfer, sondern die der Täter.20 Die gleiche Tendenz zeigte sich in den russischen Medien, als Dokumente über Massenexekutionen veröffentlicht wurden, die 1941 in Südrussland stattfanden. Auch diese Ereignisse wurden als „Genozid“ bezeichnet und in den Berichten wurden ukrainische Täter erwähnt.21 Dabei waren die Erschießungen von der deutschen Geheimpolizei durchgeführt worden, und auf der Liste der Kollaborateure standen überwiegend russische Nachnamen.
Solche Darstellungen bedienen natürlich die ideologische Konfrontation mit den postsowjetischen Ländern, und auch in Russland selbst entfalten sie eine Art mobilisierende Wirkung. Aber sie provozieren dabei zwangsläufig Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft.
Wer den Begriff „Genozid am sowjetischen Volk“ bejaht, erkennt die 6 Millionen Opfer des Holocaust zwar an, setzt ihnen jedoch faktisch die „27 Millionen getöteten Bürger unseres Landes“ entgegen. Damit zählen dann die etwa 2,6 Millionen Juden, die während der deutschen Besatzung der Sowjetunion und in Kriegsgefangenenlagern ermordet wurden, nicht mehr als Opfer des Holocausts. Als Teil des „sowjetischen Volks“ werden sie zu ermordeten „friedlichen Sowjetbürgern“, wie in Vor-Perestroika-Zeiten. Das kaschiert, dass die Juden gezielt aufgrund ihrer „rassischen Eigenschaften“ vernichtet wurden.
Die Beispiellosigkeit des Holocaust
Die Invasoren haben Millionen sowjetischer Menschen umgebracht – sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (so die Juden und auch die Roma), aber auch aus anderen Gründen – Widerstandskämpfer, Staats- und Parteifunktionäre, Geiseln, Kriegsgefangene. Die Opfer des Holocaust sind nicht die einzigen sowjetischen Menschen, die getötet wurden; sie stellen nicht einmal zahlenmäßig die Mehrheit.
Doch zum Holocaust gehört neben Massenmord und Hunger auch die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Opfer. Gegen die Juden wurden besondere Zwangsmaßnahmen ergriffen, von denen die restliche sowjetische Bevölkerung nicht betroffen war: Die Feststellungung der ethnischen Zugehörigkeit, die Umsiedlung ins Ghetto, die Markierung mit besonderen Abzeichen, das Verbot, Kinder zu bekommen, besonders perfide Formen der Zwangsarbeit, das Verbot, religiöse Bräuche zu praktizieren und vieles mehr, was für die restliche Bevölkerung nicht galt.
Historiker und Juristen müssen alle Hinweise auf Völkermord auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion gemeinsam sorgfältig untersuchen. Dabei sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die sich kaum als „Genozid am sowjetischen Volk“ einstufen lassen. So wurden unter der Besatzung zahlreiche Kirchen eröffnet, kulturelle Einrichtungen, Institute und Gymnasien betrieben und mehr als 400 Zeitungen auf Russisch und in anderen Sprachen publiziert. Für die Juden gab es das alles nicht. Für sie war die vollständige Auslöschung vorgesehen.
Zum Weiterlesen
Altman, Ilja (2005): Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuropa, 55, 2005, H.4/5/6, S.149-164
Subotic, Jelena (2019): Yellow Star, Red Star: Holocaust Remembrance after Communism. Ithaca, New York
Karlsson, Klas-Göran (2013): The Reception of the Holocaust in Russia: Silence, Conspiracy, and Glimpses of Light, in: Himka, John-Paul/Michlic, Joanna Beata (Hrsg.): Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, S. 487-515
Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus. Oldenbourg
Winkler, Christina (2020): The Holocaust on Soviet Territory—Forgotten Story? Individual and Official Memorialization of the Holocaust in Rostov-on-Don, in: Brooks, Crispin/Feferman, Kiril (Hrsg.): Beyond the Pale: The Holocaust in the North Caucasus, S. 241-262
Winkler, Christina (2015): Der russische Blick auf die Shoah, in: S:I.M.O.N. Shoah: Intervention. Methods, Documentation 2 (2), 25-37.