Im Häuserblock, der einst hunderte Menschen beheimatete, klafft eine gewaltige Lücke voller Trümmer: Die russische Armee hat am 14. Januar mit einem Marschflugkörper vom Typ Ch-22 einen Wohnblock im ostukrainischen Dnipro zerstört und dabei laut ukrainischen Angaben 46 Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Woher kommt die Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung, mit der viele Menschen in Russland auf die Zerstörung von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur in der Ukraine blicken? Das fragt der politische Analyst Alexander Baunow auf Carnegie politika und sieht imperiale Denkmuster am Werk.
Dnipro nach einem Raketenangriff am 14. Januar 2023 / Foto © State Emergency Service of Ukraine unter CC-BY SA 4.0
Wladimir Putin hat wiederholt zu verstehen gegeben, dass er die Sowjetunion nicht wiedererrichten, sondern übertreffen will beziehungsweise sie bereits übertroffen hat. Er verkündete stolz, Russland sei flächenmäßig zwar kleiner als die UdSSR, überhole sie dafür jedoch bei der Produktion und Ausfuhr von Getreide sowie beim Seegüterumschlag (gemeint ist selbstverständlich vor dem Krieg). Die russische Armee sei nicht dank sowjetischer Technik stark, wie viele selbst patriotisch gestimmte Bürger glauben, sondern dank moderner Waffen, die ihren westlichen Pendants überlegen seien.
Die Krim-Brücke, die Stalin (für viele Russen der größte Herrscher Russlands) anlässlich der Jalta-Konferenz hat bauen lassen, hielt nicht lange, bevor sie im Winter 1945 vom Packeis fortgerissen wurde. Putins Brücke ist für Jahrhunderte gedacht. Und genauso soll auch Putins Russland ein stabileres, moderneres Gebilde sein als die UdSSR und das Reich der Romanows, die beide zerfielen. Auf der Suche nach diesem neuen, auf Jahrhunderte angelegten Gebilde und nach neuen stabilen Grenzen wurde auch der jetzige Krieg begonnen.
Auf der Suche nach einer neuen Stabilität kommt es zu einer Abkehr von sowjetischen Konstrukten, wie der Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk, die jeweils eine eigene Republik bewohnen (für deren Gründung Putin das sowjetische Projekt unermüdlich kritisiert), und das zu Sowjetzeiten als ur-ukrainisch geltende Saporishshja wird nach einem hastigen „Referendum“ zu einer normalen russischen Region erklärt, ohne den geringsten Unterschied zu anderen zentralrussischen Regionen.
Wo sollen die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen?
Wo sollen nach Ansicht derer, die die Bombardierung von Kraftwerken rechtfertigen, die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen, das stabiler werden soll als das sowjetische und zaristische Imperium?
Zur Beantwortung dieser Frage wird gewöhnlich die russische Sprache herangezogen: Dort, wo Russisch gesprochen wird oder wurde. Und zweitens: Dort, wo wir „unsere Siege“ errungen haben, in erster Linie während des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Prinzip könnte man folgendermaßen formulieren: Vom Faschismus befreite Gebiete können nicht feindlich sein. In den letzten Monaten verweist Putin vermehrt auf die Siege unter Peter I. und Katharina II., allerdings nicht nur auf die Siege, sondern auch auf die Aneignung dieser Gebiete, als hätte dort erst mit der Ankunft der Russen die Zivilisation Einzug gehalten.
Daraus ergibt sich das dritte Kriterium, womit definiert werden soll, was uns gehört und was nicht: die sowjetische Industrialisierung und ganz allgemein die industrielle Erschließung von Gebieten. Also dort, wo die UdSSR aktiv die Industrie förderte und Staudämme, Kraftwerke, U-Bahnen, Eisenbahnstrecken und Fabriken baute. All das betrachtet die heutige Führung und der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung als ihr Eigentum: Wir haben diese Gebiete gestaltet, deshalb gehören sie uns und dürfen nicht gegen uns verwendet werden.
Kraftwerke und Fabriken gab es vor der Sowjetzeit nicht: ‚Wir haben die für euch gebaut‘
Die russischen Normalbürger nehmen es leichtfertig, ja fast freudig hin, dass die russische Armee ukrainische Fabriken und Kraftwerke zerstört, die die Städte mit Strom und Wärme versorgen, weil sie sie als ihr Eigentum betrachten, frei nach dem Motto: „Wir haben die für euch gebaut.“ In ihren Augen handelt Russland rechtmäßig, wenn es sie vernichtet.
Die von Putin verkündete „Entsowjetisierung“ der Ukraine bedeutet paradoxerweise gleichzeitig den Wiederaufbau von Lenin-Denkmälern als Teil des gemeinsamen Erbes (sie stehen in allen russischen Städten, warum sollen sie nicht auch bei euch stehen?) und die Zerstörung von Fabriken, Kraftwerken, Brücken und Straßen (ihr wolltet ohne uns leben, also lebt in der Steinzeit, ohne das, was Russland für euch gebaut hat). Das ist übrigens auch der Grund, warum sich Kasachstan, eines der Zentren der sowjetischen Industrialisierung, akut bedroht fühlt.
Eine solche Haltung wie gegenüber der Ukraine findet eine Entsprechung innerhalb Russlands: Genauso behandelt die politische Führung (mit Unterstützung des Volkes) die russische Wirtschaft. Fabriken, Staudämme, Bergwerke – alles, was der sowjetische Staat aufgebaut hat und das später privatisiert, modernisiert und an das Leben in der Marktwirtschaft angepasst wurde, hat niemals wirklich aufgehört, Staatseigentum zu sein, das heißt einer Führungsclique zu gehören, die im Namen des Staates und des Volkes auftritt.
Eine Haltung wie der Ukraine gegenüber findet sich auch innerhalb Russlands
Seit der Privatisierung sind fast drei Jahrzehnte vergangen, aber in den Augen der Staatsführung sowie der meisten Russen sind die Großunternehmen nicht die Eigentümer, sondern lediglich „Halter“ der Vermögenswerte: Sie benutzen sie, solange man es ihnen erlaubt. Doch sobald der Kreml einen Unternehmer als Feind einschätzt, wird sein Unternehmen genauso vernichtet wie die Kraftwerke in der Ukraine: Was uns gehört, darf nur für uns sein.
In Russland wird die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend als Geschenk an die weniger entwickelten Peripherien betrachtet. Das ist ein weiterer Bruch mit der sowjetischen Identität, die darauf beruhte, dass die Fabriken, Brücken und Straßen im ganzen Land das Ergebnis einer multinationalen Anstrengung aller Völker der Union waren. Die russischen Bürger befürworten die Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine, weil sie diese als ihr Geschenk an die undankbaren Ukrainer betrachten, die es nicht zu Russlands Wohl verwenden.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden: ‚Ohne uns und nach uns wird es hier nichts geben‘
Die Sowjetregierung manipulierte auf eine ganz ähnliche Weise: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sie ihre Wirtschaftsindikatoren stets mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung im zaristischen Russland im Jahre 1913 verglichen – als ob es ohne die Sowjetunion keine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hätte und andere Kennzahlen wie die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nicht gestiegen wären.
Ebenso neigen der Kreml und die russischen Bürger dazu, im Hinblick auf die Ukraine und andere Teile des ehemaligen Imperiums zu vergessen, dass die Entwicklung dort mit oder ohne sie stattgefunden hätte, und dass es unmöglich ist, sich ein europäisches Land wie die Ukraine mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen ohne Kraftwerke, Schulen und Fabriken vorzustellen. In dem Teil der Welt, in dem sich die Ukraine befindet, hätte es Ende des 20. Jahrhunderts in jedem Fall Strom, fließendes warmes und kaltes Wasser in den Häusern der Städte und öffentliche Verkehrsmittel auf den Straßen gegeben.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden – „ohne uns und nach uns würde und wird es hier nichts geben“ –, und begründen damit ihr Recht auf Erbeutung und Zerstörung. Der Übergang vom gemeinsamen sowjetischen „wir“ zu einem neuen „wir und sie“ wird vor unseren Augen vollzogen. Putins Krieg gegen die Ukraine stärkt nicht nur die nationale Identität der Ukrainer, indem er sie von ihren sowjetischen Merkmalen befreit, sondern er verändert auch die postsowjetische Identität einer riesigen Zahl von Bürgern im eigenen Land.