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„Der Geschichte sind die Augen verbunden“

Sandarmoch ist ein ursprünglich namenloses Waldgebiet in Karelien. In der Zeit des Großen Terrors wurde es neben Kommunarka bei Moskau und Lewaschowo bei Leningrad zu einem der größten geheimen Erschießungsplätze des NKWD. Stalins Schergen erschossen hier 1937/38 mehr als 7000 Menschen und verscharrten sie in Massengräbern. 60 Jahre später wurden sie von Memorial-Mitarbeitern unter Leitung des Lokalhistorikers Juri Dmitrijew entdeckt und zur Gedenkstätte Sandarmorch gemacht.

Seit 1998 findet am 5. August in Sandarmoch der Tag des Gedenkens der Opfer des Stalinismus statt. In diesem Jahr wird er zugleich ein Tag der Solidarität mit Juri Dmitrijew sein. Dem Memorial-Mitarbeiter wurde erst die Herstellung von Kinderpornografie vorgeworfen. Nach seinem Freispruch im April 2018 läuft nun eine neue Ermittlung: Ihm wird der sexuelle Missbrauch seiner Ziehtochter zur Last gelegt.

Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. Nun kommen Nachfahren derer zu Wort, die in dem Wald Sandarmoch getötet wurden und erst seit 1998 Namen bekommen. Zugehört hat ihnen Anastasija Platonowa für Takie Dela.

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Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

Taissija Fjodorowna Makarowa, Medweshjegorsk

Wir waren morgens schon in die Schule gegangen, unser Vater machte sich gerade für die Arbeit fertig. Er war Verwalter eines Warenlagers, das sich gegenüber von unserem Haus befand. So sahen wir ihn nie wieder. Als wir nach Hause kamen, war er nicht da, sie haben ihn direkt von der Arbeit weggeholt. Am selben Abend durchsuchten sie das Haus. Unsere Mutter hatte eine Schatulle, in der sie die Briefe unserer älteren Schwestern aufbewahrte, die in Petrosawodsk lebten. Die Ermittler haben diese Schatulle förmlich umgekrempelt, sonst hatten wir auch nichts, nur unsere Betten.

Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut

Das war 1937, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß noch, dass sie alle geholt haben. Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden.

Auch abends nichts als Tränen. Papas Schwester war zu uns gekommen und meine großen Schwestern aus Petrosawodsk. Wir waren sechs Geschwister. Als unser Vater plötzlich verschwunden war, wurde es bitter. Es war hart.

Wir haben ihn gesucht, meine Mutter fuhr nach Medweshja Gora, meine Schwestern schrieben Briefe, aber man sagte uns nichts. Nur einmal haben sie ein Päckchen entgegengenommen, mit Schuhen: Der Schnee war mittlerweile schon geschmolzen, aber als man ihn geholt hatte, hatte er noch Filzstiefel an. Ansonsten hörten wir nichts von ihm.

Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

Wir lebten in Powenez, und manchmal wurden am Haus Gefangene vorbeigeführt, zum Kanal [in Powenez befinden sich die ersten Schleusen des Belomorkanals – Anm. Takie Dela], und dann setzten wir uns auf die Bank vor unserem Haus und beobachteten sie: Vielleicht würden wir ja unseren Vater sehen. Es waren viele, sie liefen und liefen und liefen.

Aber wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er liegt. Wir hörten und wussten also nichts von ihm.

Wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er begraben liegt

Erst als die Ausgrabungen bei uns in Sandarmoch losgingen, erfuhren wir, dass er dort ist. Wir sahen im Gedenkbuch nach und fanden seinen Namen. Alle haben geweint, alle. Meine Schwester Raja und ich sind dorthin gefahren, nach Sandarmoch – und es war, als würde die eine Stelle uns besonders anziehen. Dort stellten wir einen Gedenkstein auf.

Als ich erfuhr, dass mein Vater dort ist, war das bitter. Sie haben ihn nicht leben lassen! Wenn er noch gelebt hätte, wäre ja auch unser Leben ganz anders verlaufen, wir hätten eine Ausbildung machen können …

Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist, können ihn besuchen. Ich glaube, sie haben damals nach „Parasiten“ gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. Diese Menschen hatten nichts verbrochen, sie hätten noch lange leben können …

Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

Ljudmila Jakowlewna Stepanowa, Medweshjegorsk

Sie kamen nachts, klopften an die Tür. Er hat sofort gewusst, was los war: Wir lebten im Dorf, da führte nicht einmal eine richtige Straße hin, wer sollte da sonst mitten in der Nacht kommen? Schon als sie ihn das erste Mal verhaftet und wieder freigelassen hatten, hatte er zu meiner Mutter gesagt: „Dascha, wenn nachts jemand kommt, dann wollen sie zu mir.“

Und so war es auch. Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha, den einzigen echten Nichtsnutz. Mama lebte dann mit uns Fünfen, alles Mädchen: Jahrgang 1928, 32, 34, ich von 37 und Walja von 39. Wir zwei Kleinen waren von einem anderen Vater.

Sie haben alle Männer aus dem Dorf geholt, nur den einzigen Nichtsnutz nicht

Als der Krieg begann, war ich vier und meine kleine Schwester zwei. Wir wurden nach Saoneshje evakuiert. Nach dem Krieg kehrten wir nach Hause zurück. Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: „Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.“

Wir wussten gar nichts von ihm. Nach der vierten Klasse bin ich arbeiten gegangen – meine Mutter hat mich als Kindermädchen nach Medweshja Gora geschickt. Zur Schule bin ich nicht mehr gegangen. Später habe ich am Belomorkanal gearbeitet. Schon damals hat man gesagt, er sei auf Knochen errichtet.

Schon damals hat man gesagt, der Kanal sei auf Knochen errichtet

In den 1950er Jahren kam ein Schreiben, dass unser Fjodor in Norilsk an Bauchtyphus gestorben wäre. Dem Schreiben waren 100 Rubel beigelegt. Mama hat dieses Geld auf uns vier Schwestern aufgeteilt, jede bekam 25. Ich habe mir Wollstoff gekauft, für ein Kleid.

Später stellte sich heraus, dass er nie in Norilsk gewesen war. In den 1990ern bekamen alle, deren Eltern erschossen wurden, sogenannte Gedenkbücher. Da haben wir ihn dann gefunden. Und nicht nur ihn, sondern alle aus dem Dorf. Da war sein Bruder und der Mann seiner Tante, Gorbatschow. Ich war erschüttert: Sie hatten uns gesagt, er wäre irgendwo in Norilsk gestorben, und plötzlich liegt er hier, ganz in der Nähe! 40 Kilometer hatte man ihn weggebracht und erschossen.

Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova

Meiner Meinung nach liegt die Verantwortung bei der obersten Führung unseres Landes. Vollkommen unschuldige Menschen sind umgekommen. Er war Flößer – was soll er angestellt haben? Er hat Holzstämme zusammengebunden. Das war das reinste Verbrechen: Alle Männer haben sie vor dem Krieg weggeholt.

Tamara Semjonowa Schikowa, Sosnowka

Meine Großeltern mütterlicherseits, Alexandra Dmitrijewna und Iwan Fjodorowitsch, lebten damals im Rajon Kalinin. 1937 wurde mein Großvater geholt. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Nur von einem ehemaligen Nachbarn, dass er ihn 1941 in einem Strafbataillon gesehen habe, das in südlicher Richtung abgeführt wurde. Dort ist er auch gestorben.

Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ihr war klar, dass sie alleine nicht überleben würde. Deshalb beschloss sie, nach Leningrad zu fahren und die Kinder dort am Bahnhof zu lassen, damit man sie in ein Kinderheim bringt.

Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova

Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: „Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden“, sagte sie: „Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.“

Ich habe in den Listen nach ihm gesucht, aber nichts gefunden.

Ich habe deinen Wanja denunziert

Was damals geschehen ist, kann ich noch immer nicht begreifen. Noch vor dem Krieg war ein Nachbar zu meiner Großmutter gekommen. Er warf sich vor ihr nieder und sagte: „Alexandra Dimitrijewna, verzeih mir. Ich war es, ich habe deinen Wanja denunziert.“ Er hatte ihn aus purem Neid angezeigt, mein Großvater war ein tüchtiger Mann, fleißig und geschickt. Dafür musste er büßen. Wie soll man sich das erklären? Der Nachbar hat alles zugegeben, hat um Verzeihung gebeten. Aber sie hat zu ihm gesagt: „Gott wird dir vergeben, ich kann das nicht.“

Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova

Sandarmoch war schon immer ein unguter Ort. Selbst als dort noch nichts entdeckt war und wir nichts davon wussten. Einmal sind mein Mann und ich mit dem Fahrrad in die Pilze gefahren. Wir fuhren weit, bis in dieses Waldstück. Als wir anfingen Pilze zu suchen, wurde mir plötzlich ganz anders. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Edik, lass uns schnell hier weg, mir ist hier ganz unheimlich.“

Alexandra Alexejewna Bassalajewa, Pinduschi

Beide meiner Großväter waren Repressierte. Papas Vater war Pionier bei der Leibgarde, hatte in der Schützenbrigade beim Semjonowski-Leibgarderegiment gedient. Er wurde mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet – 1. und 4. Grades.

In der Kolchose war er Brigadier, irgendwer hat ihn angezeigt: Man machte ihn für den Tod eines Pferdes verantwortlich, dafür kam er für zehn Jahre ins Lager nach Komi. Er hat überlebt, aber er kam als gebrochener kranker Mann zurück.

Mamas Vater war ein Kulak: Zwei Desjatinen [circa zwei Hektar – dek] Land, Waldbestand. Sie kamen nachts. Der Vorsitzende der Kolchose hatte ihn angezeigt, und er wurde erschossen, er liegt bei Leningrad. Meine Mutter hat mir von meinem Großvater erzählt. Was für ein guter Mann im Haus er war, sehr ordentlich, ein kluges Köpfchen. Aber immer, wenn sie das erzählte, fügte sie hinzu: „Sascha, sag das nur ja niemandem.“ Außerdem sagte sie: „Der Geschichte sind die Augen verbunden, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird sich alles offenbaren. Die Leute werden erfahren, was 1937/38 vor sich ging.“

Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova

Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat

Als ich 1997 von Sandarmoch erfuhr, war ich erschüttert. Ich fahre seitdem jedes Jahr am 5. August dorthin. Lege Blumen an einem der Gräber nieder und denke an meine Großväter. Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat. Ich habe an den FSB geschrieben, sie haben mir beide Akten geschickt, von dem einen und dem anderen Großvater. Das ist ein einziger Witz! Stalin hat damals verkündet, der Klassenkampf werde verschärft, also haben sie angefangen, kräftige Männer mit einem gut laufenden Hof zu verhaften.

Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova

Jelena Jerschowa, Brjuchowo:

Irgendwie hat es meine beiden Eltern nach Brjuchowo verschlagen.

Meine Urgroßmutter väterlicherseits erzählte, dass sie nachts gekommen sind und meinen Urgroßvater mit einem Schwarzen Raben weggebracht haben. Sie und ihre beiden Söhne wurden nach Karelien deportiert.

Meine beiden Urgroßeltern waren Finnen. Pjotr Fjodorowitsch und Anna Dawydowna Rantanen, sie hatten im Leningrader Rajon Toksowo gelebt.

Auch mein Opa mütterlicherseits war Repressionen ausgesetzt: Im Krieg war er gefangengenommen worden, aus dem Lager befreiten ihn die Amerikaner. Zurück in der UdSSR wurde er sofort verhaftet und ebenfalls nach Karelien deportiert.

Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova

An meine Uroma erinnere ich mich noch deutlich. Sie sprach sehr gut Finnisch und hat sich immer von der Masse abgehoben: Sie beherrschte mehrere Sprachen, nähte außergewöhnliche Kleider, sah einfach ganz anders aus …

Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war

1956 bekam sie mit der Post eine falsche Todesurkunde. Darin hieß es, mein Urgroßvater sei 1942 in der Oblast Kirowo an einem Lungenabszess gestorben. In Wirklichkeit ist er fast direkt nach seiner Verhaftung erschossen worden. Das haben wir erst erfahren, als die Archive geöffnet wurden.

Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova

Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war. Die Menschen sind durch die Hölle gegangen. Über Sandarmoch wissen wir zumindest Bescheid, aber wie viele solcher Massengräber gibt es wohl noch entlang des Kanals, die niemals jemand finden wird?

Die Menschen sind durch die Hölle gegangen

Bei uns in Brjuchowo stand immer eine eingefallene Holzkirche. Schon in den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, bis 1942 fanden Gottesdienste darin statt, es gab einen Altar. Dann stand sie lange Zeit leer, war dem Verfall ausgesetzt, und uns blutete das Herz. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Diese Kirche und Sandarmoch – das ist ein und dieselbe Epoche. Wir bauen auf, was zerstört wurde, wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte – damit unsere Kinder eine Zukunft haben.


Text: Anastasija Platonowa
Fotos: Anna Ivantsova
Übersetzung: Jennie Seitz
erschienen am: 03.08.2018

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Sandarmoch

Zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 wurden in einem verborgenen Waldgebiet in Karelien 1111 Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen. Die Erschießung unterlag strengster Geheimhaltung. Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit. Auch wenn die Wahrheit über die Todesursachen seit Ende der 1980er Jahre kleckerweise an die Öffentlichkeit gelangte, blieb der Erschießungsort bis in die späten 1990er Jahre unbekannt.

Erst 1997 wurde auf einer Expedition, bei der der Lokalhistoriker Juri Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem karelischen Nadelwald eine Vielzahl von Massengräbern gefunden. In diesen waren außer den Solowezki-Gefangenen auch mehrere tausend weitere Hingerichtete verscharrt.1 Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch.

Die Hinterbliebenen der Opfer personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten / Foto © Anna Ivantsova

Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Bis heute sind noch nicht alle Spezobjekty (dt. „Spezialobjekte“) – wie es in der NKWD-Sprache heißt – entdeckt. Erst die Öffnung der KGB-Archive ermöglichte es zivilgesellschaftlichen Akteuren, und vor allem der Menschenrechtsorganisation Memorial, einige zu finden: Butowo und Kommunarka bei Moskau sowie Lewaschowo bei Sankt Petersburg. Die Suche nach Sandarmoch aber dauerte länger und war viel aufwändiger.

Tatort Sandarmoch

Sie begann mit der Recherche nach einem zunächst unbekannten Ort, an dem die Häftlinge aus dem Solowezki-Gefängnis begraben worden waren. Laut KGB-Dokumenten sind sie 1937 auf Anweisung der Leningrader Troika irgendwo in den karelischen Wäldern hingerichtet worden.
Hinweise zum Tatort hat in den NKWD-Akten ein Täter hinterlassen, der später selbst zum Opfer wurde: Michail Matwejew, Leningrader Hauptmann der regionalen NKWD-Abteilung, führte die Erschießungen mit seinen Assistenten durch. Eineinhalb Jahre später wurde er festgenommen und wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm wurden sadistische Prügel vorgeworfen, die den Hinrichtungen vorausgegangen waren.2
In einem Verhörprotokoll hatte er den Transport der Häftlinge in das Lagergefängnis am Weißmeer-Ostsee-Kanal in Medweshjegorsk vermerkt. Näher als „16 Kilometer von Medweshjegorsk“ dürfe der Exekutionsort nicht liegen, sonst könne jemand die Schüsse hören oder das Licht des Feuers sehen, so Matwejew. 

60 Jahre später, in den 1990er Jahren, führte der Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew, dem die Entdeckung einiger Friedhöfe und Hinrichtungsorte zu verdanken ist, eine Expedition in einen der Kiefernwälder zwischen Medweshjegorsk und Powenez. Am 1. Juli 1997 stieß er mit seinen Mitstreitern von Memorial Sankt Petersburg auf 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten.3 Alle Opfer in den vier mal vier Meter großen Mulden hatten identische Einschusslöcher im Nackenbereich des Schädels. Außer den Häftlingen aus Solowki sind in Sandarmoch insgesamt mehr als 7000 Menschen erschossen und verscharrt worden.

Opfer von Sandarmoch

Unter den 1111 Solowezki-Gefangenen befand sich die geistliche, kulturelle, wissenschaftliche und diplomatische Elite der Sowjetunion. Ihre Namen sind bekannt: Viele von ihnen waren adeliger Herkunft – unter ihnen der renommierte Anwalt Alexander Bobrischew-Puschkin, der herausragende Linguist Nikolaj Durnowo, der Historiker Matwej Jaworski, der Theaterregisseur Les Kurbas, die Erzbischöfe von Samara, Tambow, Kursk und Woronesh. Seit 1933/34 wurde ihnen wegen sogenannter „terroristischer Tätigkeit“, „Spionage“ oder im Zusammenhang mit der „Kirow-Affäre“ der Prozess gemacht. Nach dem Transport in die sogenannte Untersuchungshaft des BelBaltLags nahe Medweshjegorsk wurden sie mit LKW an die Vernichtungsstätte Sandarmoch gebracht.

Noch nicht alle Opfer des Großen Terrors in Karelien können benannt werden.4 Die Mehrheit von ihnen steht in direkter Verbindung mit dem BelBaltLag – dem ersten Zwangsarbeiterlager der Sowjetunion mit Zentrum in Medweshjegorsk: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals versuchte sich die sowjetische Geheimpolizei als Wirtschaftsunternehmen, indem sie zur Durchführung dieses gewaltigen Infrastrukturprojektes Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzog. Der 227 Kilometer lange Kanal ließ sich dadurch innerhalb kürzester Zeit und ohne Belastung für den Staatshaushalt errichten. Hier, in einem exemplarischen Bauprojekt der Industrialisierung, das zwischen 1931 und 1933 entstand, sollten „Klassenfeinde“ zu „neuen Menschen“ „umgeschmiedet“ werden. 

Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war ein gewaltiges Infrastruktuprojekt – errichtet von Zwangsarbeitern / Foto © Anna Ivantsova

Nach der Fertigstellung des Weißmeer-Ostsee-Kanals blieben viele aus der Haft entlassenen Kanalbauarbeiter als freiwillige Arbeitskräfte weiter hier wohnen und wurden von der OGPU-NKWD im BelBaltKombinat beschäftigt. Dieses 1934 entstandene Industrieunternehmen hatte das Ziel, sowohl „großtechnologische Kraftstationen zu entwickeln, als auch sozialistische Städte aufzubauen“5. Die fehlenden Arbeitsressourcen wollte man mit der Zwangsumsiedlung von Bauern aus der ganzen Sowjetunion ausgleichen. So waren es – außer ehemaligen Kanalbauarbeitern – enteignete und umgesiedelte Bauern und „rote Finnen“, die das Gebiet des BelBaltLags am Vorabend des Großen Terrors besiedelten. Letztere, der Spionage angeklagt, und die als Kulaken verfemten Bauern sollten „auf unbarmherzige Art und Weise zerschlagen werden“.6
Obwohl die meisten Erschießungen in Sandarmoch zwischen August 1937 und November 1938 stattfanden, war es bereits seit 1934 eine Hinrichtungsstätte der OGPU-NKWD: Hier fanden Exekutionen von Häftlingen des BelBaltLags statt.7

Geschichte der Erschießung

Die Säuberung von „antisowjetischen Elementen“ begann mit dem geheimen operativen Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, der das „Fließband des Todes“ in Gang setzte und als Auftakt des Großen Terrors gilt. In diesem Befehl wurde die Zahl der Menschen für jede Region festgelegt, die den Repressionen „unterlagen“: insgesamt eine viertelmillion Menschen, darunter 1000 Menschen in Karelien. Die Zahl der tatsächlich Repressierten ist deutlich höher: Allein in Karelien verurteilte die Troika des NKWD 4000 Angehörige „verdächtiger“ Nationalität und 7000 „Konterrevolutionäre“ zum Tode.
Für die Angehörigen verschwanden die festgenommenen Menschen spurlos. Der Satz „zehn Jahre Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“ war eine Vorahnung des Schrecklichen und eine Hoffnung zugleich. Über das Leben und den Tod sollte Schweigen herrschen. Erst in den späten 1950er Jahren, im Tauwetter und mit der Rehabilitierungskampagne unter Nikita Chruschtschow, wurde auf Anfrage der Angehörigen der Tod bestätigt. Die Wahrheit über die Todesursache, Datum und Ort der Beisetzung durfte erst dreißig Jahre später veröffentlicht werden.

Friedhof Sandarmoch

Die Gewissheit um den Tod der Angehörigen entwickelte sich zur Forderung nach einem Ort der privaten Trauerarbeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen machten den Wunsch tausender Familien öffentlich: Die Topografie des Terrors sollte zur Topografie der Friedhöfe werden. Die Entdeckung von Sandarmoch sorgte für Aufruhr in der Region. Viele hofften, damit endlich einen Ort zu finden, um eine Grabstätte einzurichten. Insgesamt wurden auf einer Fläche von etwa siebeneinhalb Hektar 236 Massengräber entdeckt.8 Juri Dmitrijew wünschte sich damals, dass dem Friedhof Sandarmoch im heutigen Russland die gleiche symbolische Bedeutung zukommen sollte wie der Gedenkstätte Buchenwald in Deutschland.9
Weniger als ein halbes Jahr haben die Aktivisten für die Ausgestaltung der Gedenkstätte gebraucht. Ihre Arbeit wurde aus dem Haushalt der Republik Karelien finanziert. Die heutige Gedenkstätte Sandarmoch besteht immer noch aus den Elementen, die im Oktober 1997 entstanden: 236 Holzpfähle, die die Gräber markieren, eine Kapelle und der Solowezki-Gedenkstein – in Erinnerung an die Hingerichteten aus Solowki10. Ein Jahr später entstand das Mahnmal Erschießung mit Engel. Dieses ist für den Kontext der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Russland aufschlussreich: Ein Engel, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt, ist ein Symbol des passiven, unschuldigen Opfers par exellence. Die Inschrift auf dem Stein lautet: „Menschen, tötet einander nicht“. Nach den Tätern wird nicht gefragt: Das Böse wird verallgemeinert. Mit wenigen Ausnahmen bleiben die Strukturen und Mechanismen des stalinschen Terrors in der Erinnerungskultur generell abstrakt, anonym und verschleiert.

Ort der lebendigen Erinnerung

Für einen westlichen Betrachter ist Sandarmoch kein Ort der negativen Identitätsstiftung durch „Pflicht zum Gedenken“. Sandarmoch ist vor allem ein Friedhof, auf den Angehörige der Hingerichteten kommen, um zu trauern. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, ob ihre Verwandten tatsächlich hier verscharrt wurden.11 Das „imaginierte Grab“ ist mindestens genauso wichtig wie das genaue Wissen. Die „Kinder von 1937“, wie die Kinder von verschwundenen oder verurteilten Menschen genannt werden, personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten. An den hölzernen Kreuzen oder an den Bäumen werden Fotografien, Plastikblumen, Schilder mit Namen und Lebensdaten befestigt. Zuweilen hat man den Eindruck, man sei auf einem Friedhof, auf dem noch Beisetzungen stattfinden. Sandarmoch ist ein Ort der lebendigen Erinnerung und Trauer.
Unter den vielen anderen Gedenkstätten zeichnet sich Sandarmoch durch die hohe Internationalität der Opfer heraus. Am symbolischen Feld des Gedenkens befinden sich Denkmale für Finnen, Polen, Litauer, Esten, Ukrainer, Tataren und andere. Hier findet auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, der Internationale Tag des Gedenkens: Am 5. August wird Sandarmoch zum Ort einer transnationalen Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.

Seit mehr als 20 Jahren ist das Bestehen der Gedenkstätte vom good will der örtlichen Verwaltung abhängig. Außer dem Mahnmal Erschießung mit Engel unterliegen weder andere Gestaltungselemente noch die Gedenkstätte selbst dem staatlichen Denkmalschutz. Für die Regierung Kareliens ist Sandarmoch – bislang – von großer Bedeutung: Die breite internationale Präsenz beim jährlichen Tag des Gedenkens am 5. August und die anhaltende mediale Aufmerksamkeit für diesen Ort erfordern von Seiten der lokalen Verwaltung administrative und finanzielle Investitionen. Doch weder der russische Präsident noch andere hochrangige Politiker Russlands oder anderer Länder haben Sandarmoch jemals offiziell besucht.

Die „zweite Wahrheit“ von Sandarmoch

Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch: Die Finnen haben Tausende unserer Soldaten zu Tode gequält. Mit diesem Titel wurde im August 2016 eine Sendung des TV Swesda ausgestrahlt. Seitdem ist die These im Raum, es handele sich nicht oder nicht nur um stalinsche Repressionen, sondern um Taten der finnischen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde dies vom Petrosawodsker Historiker Juri Kilin als Annahme formuliert, sie wird seitdem immer wieder aufgegriffen. 

Die Annahme beruht auf folgender Logik: Während der Okkupation des sowjetischen Karelien durch Finnland waren insgesamt circa 64.000 Rotarmisten in finnischer Gefangenschaft. Mehr als 20.000 Menschen sind dabei am Elend der Haft gestorben oder wurden exekutiert. Die Finnen haben nachweislich die Lagerinfrastruktur des Gulag genutzt. Über die Massengräber ist wenig bekannt. Vielleicht haben sie auch Sandarmoch – den Erschießungsort vom NKWD – benutzt? 
Die Hypothese von Juri Kilin lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Medialen Platz hat sie aber bereits gefunden: „Nach ungefähren Angaben ruhen in Sandarmoch circa 22.000 Soldaten der Roten Armee“, so die Sendung auf TV Swesda.

Die Relativierung dieses „schwarzen Herzens des Gulag“ ging der Verhaftung des Entdeckers von Sandarmoch voraus: Juri Dmitrijew wurde die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Dem Freispruch vom April 2018 folgte bald eine neue aber nicht weniger fragwürdige Ermittlung, diesmal wegen angeblichen Missbrauchs seiner Ziehtochter. Ob das zeitliche Zusammenfallen der Berichterstattung über „die zweite Wahrheit von Sandarmoch“ und die Verhaftung seines Entdeckers zusammenhängen, ist unklar. Beide tragen aber dazu bei, die Täterschaft zu verschleiern und den Stalinschen Terror zu relativieren. 


1.Die Zahlen der Opfer ist in der Forschung umstritten: Während Dmitriev von circa 9000 Exekutierten spricht, nennt  Ivan Čuchin die Zahl 6067, vgl.: Čuchin, Ivan/Dmitriev, Jurij (2002): Pominal’nye spiski Karelii: 1937-1938: Uničtožennaja Karelija: Čast’2: Bol’šoj Terror, Petrozavodsk. Die Inschrift auf dem Gedenkstein in Sandarmoch weist auf 7000 Exekutierte hin.
2.vgl.: Novaya Gazeta: Palači Sandarmocha 
3.zum Verlauf der Suchaktion siehe: polit.ru: Bol’šoj terror v Sandormoche, später wurden weitere Gräber gefunden, sodass sich die Gesamtzahl auf 236 beläuft.
4.6067 Namen hat Jurij Dmitriev identifiziert: Dmitriev, Jurij (1999): Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk
5.Baron, Nick (2002): Production and Terror: The operation of the Karelian Gulag, 1933 – 1939, in: Cahiers du monde russe, 43/1, S. 139-181 und S. 141
6.sh. Čuchin, Ivan (1999): Karelija-37: Ideologija i praktika terrore, Petrozavodsk, S. 17
7.sh. Eintrag „Sandormoch” im Verzeichnis des virtuellen Gulag-Museums
8.Ob’ekty istoriko-kul’turnogo nasledija Karelii: Zahoronenie zhertv massovych repressij (1937-1938)
9.Interview mit der Verfasserin, April 2008
10.Der Solovecki Stein – ein rauer, unbehauener Stein vom Solovecki-Archipel – ist die klassische Denkmalform für Opfer des Stalinismus in Russland
11.In Karelien wurden ca. 15 Orte von Massenexekutionen entdeckt, davon sind lediglich Sandarmoch und Krasny Bor als Gedenkstätten ausgestaltet
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