Akribisch und detailversessen forscht und gräbt er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terrors. Er sorgt dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekommen.
Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial in Karelien, hat mit seinen Nachforschungen ein Tabu gebrochen. Denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet.
Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Nach den Anschuldigungen wurde das Kind aus der Familie genommen und ein Kontaktverbot verhängt. Dmitrijew bestreitet die Vorwürfe vehement und gibt an, mit den fraglichen Fotografien bloß die korrekte körperliche Entwicklung der erkrankten Tochter dokumentiert zu haben.
Die Vorwürfe und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Beschuldigungen an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Ende Dezember 2017 wurde eine psychiatrische Untersuchung angeordnet, Dmitrijew wurde dazu nach Moskau geflogen. Dort saß er im berüchtigten Butyrka-Gefängnis ein. Am 27. Januar wurde Juri Dmitrijew aus der Untersuchungshaft freigelassen, nach mehr als einem Jahr hinter Gittern. Im Februar ist seine nächste Anhörung vor Gericht.
Anna Jarowaja von 7x7 traf ihn zuhause in Petrosawodsk.
„Ich habe meinen Kampfgeist nicht verloren.“ Juri Dmitrijew nach mehr als einem Jahr Haft / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
Wie war das letzte Jahr für Sie?
Sagen wir mal so: Ich habe meine Zeit nicht vergeudet. Auch meinen Kampfgeist habe ich nicht verloren. Wenn man in eine Lage gerät, die ungewiss und schwierig ist und an der man nichts ändern kann, dann muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan.
Womit haben Sie sich beschäftigt?
Zunächst mal weiß ich ziemlich viel über dieses Gefängnis. Ich kenne die Schicksale von vielen Menschen, die dort zwischen 1937 und 1938 waren. Ich kenne Menschen, die durch diese Flure gegangen sind, in diesen Zellen gesessen haben, auch in der, in der ich einsaß. Ich verstehe jetzt, wie es diesen Menschen damals ergangen ist, wie es war, dort eingesperrt zu sein, was in ihnen vorging, was sie gefühlt haben.
Wenn man in eine Lage gerät, an der man nichts ändern kann, muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan
Auch sie wurden ja aufgrund von Denunziationen und falschen Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen. Auch sie hat man angelogen, ihren Familien entrissen, als Volksverräter beschimpft, als Spione, Konterrevolutionäre und so weiter.
Ich verstehe jetzt, woran sie gedacht haben, als sie diese Decke oder den Fußboden angestarrt haben oder während sie über diese Flure gegangen sind. Wie sie sich danach gesehnt haben, ihre Liebsten zu sehen … Wie sehr es sie verletzte, dass man sie als Verräter hinstellt.
Ich will keine Prognosen aufstellen, aber ich kann mir gut vorstellen, wenn nicht ein ganzes Buch, so wenigstens ein Kapitel über die Menschen zu schreiben, die in diesem Gefängnis waren.
Haben Sie die Unterstützung von außen vor Gericht gespürt?
Das war eine gewaltige Unterstützung. Das berührt einen tatsächlich sehr. Und es gibt dir eine gewisse Hoffnung, dass sie dich nicht zerdrücken können, selbst wenn sie noch so wollen. Deshalb bin ich allen dankbar, die gekommen sind. Tatsächlich gab es ja nicht nur eine Sitzung, sondern es waren an die 30. Du sitzt da unten [im Gericht, 7x7], wartest, dass man dich nach oben bringt, die Wärter unterhalten sich darüber, dass sie gleich wieder vor die Kameras müssen, vor das applaudierende Publikum. Und ich: „Richtig, Jungs. Putzt euch die Federn, die Stiefel, dass alles schön glänzt!”
Das Wachpersonal war jedes Mal ein anderes. Haben sie sich auf irgendetwas vorbereitet?
Die haben da ihre ganz eigenen Anweisungen. Einen kleinen Dieb kommen vielleicht mal ein paar Kumpels besuchen. Und da ist plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Wer weiß, was die da wollen. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten? Wenn da so ein Waldschrat in Handschellen abgeführt wird. (lacht)
Plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten?
Nicht auszudenken …
Ja, nicht auszudenken. Später, als die FSIN-Leute wissen wollten, warum alle applaudieren, habe ich zu ihnen gesagt: „Jungs, diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands. Sie haben ihre Angst überwunden und sind hergekommen, um mich zu unterstützen.“ Naja, der eine oder andere fängt vielleicht an nachzudenken, aber die meisten verstehen das nicht.
Seit Beginn der Gerichtsverhandlung am 1. Juni [2017], welche Momente waren besonders hart? Welche Zeit war die schwerste?
Das Schwerste waren wahrscheinlich die Gespräche mit meinem Ermittler. Das war noch vor den Verhandlungen. Das Gericht ist dann die Institution, die sich mit dem auseinandersetzt, was er aufschreibt und was gesagt wurde.
Diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands
Der Löwenanteil des Erfolgs vor Gericht gehört der Arbeit meines Anwalts. Er hat alles sehr intelligent aufgebaut, wir waren ständig in Kontakt, er hat mich von so manchem Auftritt und harten Worten [vor Gericht, 7x7] abgehalten.
Als man Sie in die Psychiatrie brachte, dachte niemand, dass das alle so schnell ein Ende nimmt.
Ich denke, dass die öffentlichen Appelle doch eine Rolle gespielt haben. Schließlich gab es mehrere direkt an den Präsidenten. Es ging dabei nicht darum, mich freizusprechen, aber doch zumindest nach dem Gesetz zu handeln und nicht so, wie man gerade Lust hat.
Es ist jedenfalls offensichtlich, dass es ein Signal von oben gab. Denn das ging so rapide: mit dem Flugzeug dorthin und wieder zurück.
Was werden Sie als Nächstes tun? Während Ihrer Zeit in Haft sind zwei Bücher von Ihnen erschienen. Was nun? Ein neues Buch? Ein neues Thema?
Leider wurde ich verhaftet, als ich kurz davor war – zwei Wochen, vielleicht etwas mehr –, die Arbeit der letzten zehn Jahre abzuschließen – ein Buch über die Sonderumsiedler von Karelien. Mir fehlten nur noch ein paar Kapitel. Jetzt werde ich versuchen, die bisherige Arbeit zu rekonstruieren und alles abzuschließen. Ich werde meine Kinder und Enkelkinder erziehen, Bücher schreiben, also das tun, was ich vorher auch getan habe.
Bücher, also …
Ich weiß nur eins: Ich muss zusehen, dass ich dieses Buch beende, weil den Menschen noch 126.000 Namen [von Sonderumsiedlern, 7x7] zurückgegeben werden müssen, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind. Und mit „alle“ meine ich die staatlichen Strukturen.
Diese Menschen wurden irgendwo enteignet, von irgendwo hierher gebracht. Mehr als die Hälfte wurde hier ermordet, in Waldgräbern verscharrt. Geblieben sind ihre Nachkommen, das ist etwa ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Karelien – diesen Nachkommen will ich Informationen über ihre Großmütter, Urgroßmütter, Urgroßväter geben. Woher sie stammen, wo ihre Wurzeln sind, wo ihre Familien herkommen.
Ich will erzählen, wie diese Menschen hier hergebracht wurden, wer sie damals enteignet hat. Was man hier mit ihnen gemacht hat, wo sie umgebracht wurden, wo sie begraben sind.
Den Menschen müssen noch 126.000 Namen zurückgegeben werden, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind
Solche Grabstätten wie Krasny Bor, Sandarmoch – wir haben hier in Karelien leider mindestens 30 davon. Und so sehr wir auch wollen, wir, das heißt meine Freunde und ich, haben einfach weder genug Ressourcen noch Zeit, diese Grabstätten zu pflegen. Also will ich die Nachfahren zusammenbringen, wenigstens anhand der Sondersiedlungen. Sie sollen sich informieren können, hinfahren, irgendetwas aufstellen auf diesen Friedhöfen.
Ihr Fall jedenfalls ist noch nicht abgeschlossen. Und keiner weiß, wie es ausgeht.
Ja, das weiß niemand. Erstmal bin ich hier.