Im Laufe des Jahres 2023 haben die belarussischen Machthaber alle oppositionellen Parteien liquidiert. Es ist Teil der Radikalisierung des politischen Systems von Alexander Lukaschenko, das sich mit der Niederschlagung der Proteste von 2020 zusehends in Richtung Totalitarismus entwickelt, manche sagen, sich sowjetischen Zuständen annähert.
Auch die Partyja BNF wurde im August verboten; die national-konservative Partei hat in Belarus Geschichte geschrieben. Hervorgegangen aus der Belarussischen Volksfront, die in der zweiten Hälfte der 1980er entstand, wurde die BNF zu einem wichtigen Akteur im Übergang von Belarus in die Unabhängigkeit, wie auch BNF-Mitgründer Yury Drakakhrust in seiner Analyse für dekoder schreibt.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo erzählt die Geschichte ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs, die auch eine Geschichte darüber ist, wie der einst demokratisch gewählte Lukaschenko in den 1990er Jahren sein autoritäres Machtsystem etablieren konnte.
Die Gründungsversammlung der Belarussischen Volksfront „Wiedergeburt“ (Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, BNF), die damals formal noch keine Partei, sondern eine Bewegung war, fand am 24. und 25. Juni 1989 in Vilnius statt, da die Minsker Behörden eine Durchführung in der Hauptstadt der BSSR nicht genehmigt hatten. Die Entstehung der BNF hatte bereits früher begonnen, begünstigt durch eine Reihe von Ereignissen.
Vier Jahre zuvor war Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen und hatte die Perestroika begonnen. Dies bedeutete unter anderem eine gewisse Liberalisierung des Lebens in der Sowjetunion und eine Politik der Glasnost mit einer größeren Medienfreiheit. Davon machte der Kunstwissenschaftler und Archäologe Sjanon Pasnjak Gebrauch: Am 3. Juni 1988 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Ingenieur Jauhen Schmyhaljou (russ. Jewgeni Schmygaljow) in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) den Artikel Kurapaty – Weg des Todes.
Der Text berichtete von den Massenerschießungen, die während der Stalin-Zeit im Wald von Kurapaty am heutigen Stadtrand von Minsk stattgefunden hatten. Alexander Feduta schreibt in seinem Buch Lukaschenko. Eine politische Biografie aphoristisch, damals [Ende der 1980er] sei Belarus aufgewacht. Geweckt hätten es Ales Adamowitsch mit der Wahrheit über Tschernobyl und Sjanon Pasnjak mit der Wahrheit über Kurapaty.
Die Veröffentlichung des Artikels erregte bald Aufmerksamkeit über die Grenzen der Republik hinaus, er wurde in zentralen sowjetischen und ausländischen Medien abgedruckt. Die Behörden kamen daher nicht umhin, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. An den archäologischen Grabungen nahm Pasnjak selbst teil. Die Ermittlungen ergaben, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden, und zwar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Die BNF konnte sich auf Vorbilder stützen, die es damals bereits in den baltischen Ländern gab. Diese „Volksfronten“ waren keine Parteien, sondern möglichst breit aufgestellte Bewegungen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, aber ähnlichen Zielen versammelten. Auch die Belarussische Volksfront begann als solche Bewegung.
So lässt sich teilweise erklären, warum in unserem Land seitdem jegliche Regierungskritiker häufig unter dem Begriff „BNFler“ zusammengefasst werden. Andere oppositionelle Bewegungen gab es damals nicht, daher unterstützte der überwiegende Teil der demokratisch eingestellten Belarussen die BNF. Einen entscheidenden Einfluss hatte auch die Propaganda im belarussischen Fernsehen und in der staatlichen Presse seit Anbruch der Lukaschenko-Ära. Erstens verteufelte diese gerade die BNF stärker als alles andere. Zweitens sollten unter den neuen Bedingungen andere politische Parteien daran gehindert werden, sich zu entwickeln und zur Regierungsmacht aufzuschließen. Dadurch wurde im Bewusstsein der Massen die BNF zur wichtigsten Oppositionsbewegung.
Kehren wir zurück in die letzten Jahre der Sowjetunion. Im Februar 1989 versammelte die BNF im Minsker Dynamo-Stadion 40.000 Menschen. Das war die erste behördlich genehmigte oppositionelle Massenveranstaltung in Belarus. Dass die Menschen, wie das Portal Tut.by schrieb, neben weiß-rot-weißen Flaggen auch Flaggen der BSSR, der UdSSR sowie russische und litauische Fahnen trugen.
Wie bereits erwähnt, hatten die belarussischen Behörden die Gründungsversammlung der BNF in Minsk verboten, und die Delegierten mussten nach Vilnius ausweichen. Erwartungsgemäß wurde Pasnjak zum Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend erhielt die Organisation den Namenszusatz Für die Perestroika, der erst zwei Jahre später abgelegt wurde. Das Programm enthielt auch Verweise auf kommunistische Grundsätze. Konkret hieß es darin, die BNF „tritt ein für den Umbau der Gesellschaft gemäß den Prinzipien von Demokratie, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit, für die Errichtung eines Rechtsstaates, für die Wiedergeburt der leninistischen Grundsätze der Politik der Völker, für die tatsächliche Souveränität von Belarus, wie in der Verfassung der BSSR verankert“.
1990 sollten die ersten alternativen Wahlen zum Obersten Sowjet stattfinden, dem Parlament der BSSR. Am 25. Februar organisierte die BNF vor dem Haus der Regierung eine riesige Wahlkundgebung. Sjarhej Nawumtschyk nennt in seinem Buch die Teilnehmerzahl von 100.000: „Zum ersten Mal sah Minsk eine solche Massenversammlung, zum ersten Mal fand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen BNF und der (Führung der) Kommunistischen Partei von Belarus [KPB – dek] statt, genauer gesagt, zwischen dem Vorsitzenden der BNF, Sjanon Pasnjak, und dem Generalsekretär des ZK [Zentralkomitee – dek] der KPB, Jefrem Sokolow. Letzterer begann seinen Auftritt begleitet von Zurufen ,Nimm deine Mütze ab! Du sprichst vor dem Volk!‘, und beendete ihn vor einer Menge, die ,Tritt ab!‘ skandierte.“ Nach der Kundgebung zogen die Menschen zum Gebäude des Staatsfernsehens und forderten Sendezeit für die BNF-Führung. Infolgedessen konnte Pasnjak im Fernsehen auftreten und die Front wurde zu einer Kraft, mit der die Machthaber immer stärker rechnen mussten.
Die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet fanden wenige Wochen später statt, am 4. März. Für die noch ganz junge Bewegung wurden sie ein Erfolg – die BNF konnte 30 Abgeordnete in das gesetzgebende Organ entsenden. Insgesamt gab es 360 Abgeordnete, sodass die Front weniger als zehn Prozent des Gremiums ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der Sitze im Ovalen Saal nahm immer noch die kommunistische Nomenklatura ein, die Reformen blockierte. Vergleicht man das Ergebnis mit den Parlamentswahlen anderer Sowjetrepubliken im selben Jahr, so schnitten die demokratischen Bewegungen dort häufig viel besser ab: In Georgien waren es etwa 70 Prozent, in Litauen 67 Prozent, in Lettland 65 Prozent und in der Ukraine 22 Prozent. Doch auch mit ihren geringen Ressourcen gelang es der BNF, Bahnbrechendes für unser Land zu erreichen.
Die Erklärung der Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahlen
Schon bald nach den Wahlen 1990 erarbeitete die Belarussische Volksfront den Gesetzesentwurf Unabhängigkeitserklärung der BSSR, der Vorrang der belarussischen Gesetzgebung vor der sowjetischen gebot, doch das Dokument fand vorerst keine Unterstützung. Das änderte sich, als im Juni 1990 Russland seine Unabhängigkeit erklärte. Damals stand Boris Jelzin, Gorbatschows stärkster Konkurrent, dem Obersten Sowjet der RSFSR vor. Um ihm das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bedeutung des Dokuments zu schmälern, beschloss man in Moskau, gleichlautende Deklarationen in allen Sowjetrepubliken zu verabschieden.
Nun machte sich die Vorarbeit der BNF bezahlt. Der damalige BNF-Abgeordnete Valentin Golubew erinnert sich: „Auf Bitte von Sjanon Pasnjak schrieb ich in einer Nacht den ersten Entwurf der Präambel (der Deklaration), wir diskutierten ihn im berühmten Raum 306 der Opposition und verteilten ihn an die Abgeordneten. Dann wurde der damalige Parlamentspräsident, Mikalaj Dsemjanzej (russ. Nikolaj Dementej) nach Moskau zu Gorbatschow bestellt. Als er zurückkam, erzählte er lebhaft: Wie gut, dass ich dieses Projekt mithatte, er [Gorbatschow – dek] sagte, in Belarus geht es wohl auch voran!“
Am 18. Juni, sechs Tage nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung der RSFSR, wurde eine parlamentarische Kommission gegründet, um einen analogen Entwurf für Belarus vorzubereiten, der schließlich bei der Sitzung am 27. Juli 1990 angenommen wurde. Ohne die Vorbereitung der BNF hätte es dieses Dokument nicht gegeben, und bei der Formulierung der finalen Fassung wurden die Einwände der Front berücksichtigt.
Im März 1991 gab die BNF auf dem Zweiten Parteitag ein neues Programm bekannt. Darin wurde nun ganz offen das wichtigste Ziel der Bewegung formuliert: durch die Umsetzung der Souveränitätserklärung die vollständige Unabhängigkeit von Belarus zu erreichen. Zudem plante die Organisation den Aufbau einer belarussischen Armee, die Einführung der belarussischen Staatsbürgerschaft und die Durchführung eines Allbelarussischen Gründungskongresses, der das zukünftige Staatssystem festlegen sollte. Ein weiteres Ziel der BNF war die Einführung des Privateigentums. Damals erschienen diese Ziele fantastisch. Doch schon im April 1991 wurde in Belarus massenhaft gestreikt. Die Arbeiter (unter den Mitgliedern der Streikkomitees waren auch Vertreter der BNF) forderten Lohnerhöhungen. Später kamen auch politische Forderungen hinzu: Rückzug der Vertreter der KPdSU aus den Betrieben, Auflösung des kommunistischen Obersten Sowjets, neue Parlamentswahlen, Nationalisierung des kommunistischen Eigentums, keine Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags, und andere.
Zu diesem Zeitpunkt verlief der Streik ergebnislos. Doch die Erinnerung daran beeinflusste vielleicht die Vorgangsweise der prokommunistischen Mehrheit im Parlament im August 1991, als zwischen den Mitgliedsstaaten der Sowjetunion ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte. Michail Gorbatschows Idee war ein neuer Staatenbund anstelle der alten UdSSR, wenngleich mit derselben Abkürzung: die Union der Souveränen Sowjetrepubliken. Der sowjetische Geheimdienst und eine Reihe hoher Parteifunktionäre verstanden den neuen Vertrag als einen Schritt Richtung Zerfall des Landes und versuchten am 19. August, einen Staatsstreich zu verüben. In Minsk gingen nur Wenige gegen das von den Putschisten proklamierte Staatskomitee für den Ausnahmezustand auf die Straße, darunter die BNF. Die Volksfront, aber auch Vertreter anderer politischer Parteien, nannten den Putsch umgehend „einen Versuch der Machtergreifung“, das Staatskomitee eine „Junta“. Die kommunistische Mehrheit im belarussischen Parlament nahm eine Wartehaltung ein. Erst am 22. August, als die Niederschlagung des Putsches in Moskau offensichtlich war, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets, eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.
In kürzester Zeit erarbeitete eine Gruppe von Abgeordneten der BNF ein Gesetzespaket und stellte es bei der Sitzung am 24. August vor. Die folgenden Tage wurden zum Triumph für die Front und für Sjanon Pasnjak persönlich. Ihr Nachdruck und eine wohlgewählte Taktik (zum Beispiel jagten sie den letzten Vorsitzenden der KP der BSSR, den allmächtigen Anatoli Malofejew, von der Tribüne, ein Schock für die Nomenklatura) trugen Früchte. Am 25. August erlangte die ein Jahr zuvor beschlossene Souveränität der BSSR den Status eines Verfassungsgesetzes, und Belarus wurde de jure unabhängig.
In den 20 Tagen bis zur nächsten Sitzung erarbeitete die BNF-Fraktion noch 31 weitere Gesetzesentwürfe, unter anderem zur Staatsbürgerschaft, zum Aufbau einer Armee, zu Grenzschutz, Zoll, Militärgerichtsbarkeit, zur Anerkennung von privatem Grundbesitz und zur Aufhebung des Unionsvertrags von 1922. Alle diese Punkte (mit Ausnahme des privaten Grundbesitzes) konnten später umgesetzt werden. In dieser Septembersitzung wurden auch das Wappen Pahonja und die weiß-rot-weiße Flagge zu den offiziellen Staatssymbolen. Der Demokrat Stanislau Schuschkewitsch wurde zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Dezember 1991 unterzeichnete er die Belowesher Verträge, die das Ende der UdSSR besiegelten und nach deren Ratifizierung Belarus auch de facto unabhängig war.
Das verweigerte Referendum und die ersten Präsidentschaftswahlen
Die BNF hatte ihr wichtigstes Ziel, das sie kaum ein Jahr zuvor formuliert hatte, erreicht: Belarus war ein unabhängiger Staat geworden. Doch in diese neue Epoche trat das Land mit der alten Nomenklatura im Obersten Sowjet, die keine politischen und wirtschaftlichen Reformen wollte. In Fragen der Bildung und Kultur mischte sie sich weniger ein, weshalb in diesen Bereichen die größten Erfolge verzeichnet werden konnten. In der BNF hatte man die berechtigte Vermutung, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht dem tatsächlichen politischen Meinungsbild und den Wählersympathien entsprach. Letztlich war es noch zu Sowjetzeiten gewählt worden, unter maßgeblichem Druck des kommunistischen Systems. Daher initiierte die Front unter der Führung von Pasnjak ein Referendum über vorgezogene Wahlen zum Obersten Sowjet. Um diese Initiative durchzubringen, mussten mindestens 350.000 Unterschriften gesammelt werden. Die BNF übertraf diese Vorgabe und reichte im April 1992 sogar 442.000 Unterschriften im Zentralen Wahlkomitee ein, von denen die Mehrzahl als gültig anerkannt wurde.
Dem Gesetz nach war das Parlament nun verpflichtet, ein Datum für das Referendum festzusetzen. Die Belarussen sollten gefragt werden, ob sie einer vorzeitigen Auflösung des aktuellen Parlaments und Parlamentswahlen nach neuem Gesetz zustimmen. Vorgezogene Wahlen hätten 1992 die Chance eröffnet, die Geschichte zu verändern, Reformen und einen demokratischen Wandel einzuleiten. Doch vermutlich fürchtete die Mehrheit der Abgeordneten, im Fall einer Neuwahl ihr Mandat und damit viele Privilegien zu verlieren, die den Volksvertretern zustanden. Daher widersetzten sich die Parlamentarier dem Gesetz und führten kein Referendum durch. Rückwirkend betrachtet ist dieses verweigerte Referendum einer der Points of no Return: Ab diesem Moment fuhr die Lokomotive der belarussischen Geschichte in Richtung Präsidialsystem, und dann weiter bis zu Lukaschenkos Diktatur.
Die Verweigerung des Referendums war ein Rückschlag für die BNF. Doch sie trug keine Schuld daran – es waren ihre politischen Gegner, die gesetzeswidrig gehandelt hatten. Im Folgejahr 1993 registrierte die BNF endlich eine Partei unter gleichem Namen. Ihr Vorsitzender – und auch der Vorsitzende der Bewegung Belarussische Volksfront „Wiedergeburt“ – blieb Sjanon Pasnjak.
Allmählich trat in Politik und Gesellschaft eine neue Frage in den Fokus: Welches System soll die Republik in Zukunft haben – ein parlamentarisches oder ein präsidiales? Die Ausarbeitung der belarussischen Verfassung dauerte bereits seit Sommer 1990 an. Die Opposition um die BNF sprach sich für die erste Variante aus. „Die Front begründete ihre Position damit, dass sich ein Präsidialsystem unter den Bedingungen fehlender demokratischer Traditionen, eines kaum entwickelten Parteiensystems und eines der Exekutive unterstellten Parlaments durch die Machtkonzentration unausweichlich zu einer Diktatur entwickeln würde“, schreibt Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Vierundneunzig [Dsewjanosta tschazwerty].
Die parlamentarische Mehrheit, die auf der Seite der Regierung stand, unterstützte das präsidiale System und sah an der Staatsspitze den damaligen Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, einen ehemaligen Kommunisten und sogenannten „roten Direktor“. Die Verfassung wurde eigentlich ihm auf den Leib geschrieben, und er konnte letztendlich – wiederum gesetzeswidrig – die ihm passende Version durchdrücken. Nachdem er die Einführung des Präsidentenamts nicht hatte verhindern können, sah sich Pasnjak gezwungen, selbst um diesen Posten zu kämpfen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen standen sechs Namen auf den Wahlzetteln, doch reale Chancen auf einen Sieg hatten nur vier Personen: Kebitsch, Schuschkewitsch, Lukaschenko und Pasnjak.
Die beiden Ersteren wurden im Volk als Vertreter der Regierung wahrgenommen. Mit ihnen verband man die Folgen der Wirtschaftskrise und den rapiden Niedergang des Lebensstandards in den letzten Jahren. Lukaschenko und Pasnjak hatten keine Funktionen inne und konnten deshalb die Staatsmacht kritisieren. Doch die Ideen der nationalen Wiedergeburt und der Marktwirtschaft, für die der Vorsitzende der BNF eintrat, fanden bei den Wählern keine Zustimmung. Lukaschenko dagegen appellierte an das sowjetische Erbe, was in der Bevölkerung Unterstützung fand. Dem offiziellen Endergebnis des ersten Wahlgangs zufolge hatte Lukaschenko etwa 45 Prozent erreicht und ging damit gemeinsam mit Kebitsch (17,3 Prozent) in die zweite Runde, die er dann auch gewann. Den dritten Platz holte Pasnjak ein, für den 12,8 Prozent der Wähler gestimmt hatten, mehr als 757.000 Menschen.
Der Hungerstreik, der „Minsker Frühling“ und Pasnjaks Emigration
Die Präsidentschaftswahlen – die einzigen in der Geschichte des Landes, an deren Ergebnis kein ernsthafter Zweifel besteht – hatten die Popularität der BNF in einem maßgeblichen Teil der belarussischen Bevölkerung gezeigt. Von einer Mehrheit konnte man zwar noch nicht reden, in jedem anderen demokratischen Land hätte eine solche Partei jedoch eine wichtige Fraktion im Parlament gebildet und damit Chancen gehabt, den Kurs der Regierung zu beeinflussen und die eigene Wählerschaft auszubauen.
Alexander Lukaschenko begann jedoch gleich nach der Wahl, sein persönliches Machtsystem zu implementieren, wie zum Beispiel eine Geschichte um den BNF-Abgeordneten Sergej Antontschik zeigte. Im Dezember 1994 präsentierte dieser vor dem Parlament einen Bericht über Korruption in Lukaschenkos Umfeld. Ein Jahr zuvor hatte der zukünftige Präsident dieses Thema von derselben Tribüne aus auf die Agenda gebracht. Lukaschenkos Vortrag war in der Presse abgedruckt und im Radio ausgestrahlt worden, er wurde sein Sprungbrett zur Macht. Antontschiks Rede aber wurde nicht im Radio gesendet und auch die Veröffentlichung in der Zeitung wurde verboten. Die führenden Tageszeitungen des Landes, darunter Sowjetskaja Belorussija (SB) und Narodnaja Gaseta (NG), erschienen zum Ausdruck des Protests mit weißen Flächen auf der Titelseite. Daraufhin setzte Lukaschenko den Chefredakteur der SB, Igor Ossinski, ab (später den Chef der NG, Iossif Sereditsch) und begann damit, die Presse unter Druck zu setzen. Am Ende hatte Antontschiks Rede keinerlei Folgen für Lukaschenko. Die wichtigsten Informationskanäle der Bevölkerung waren blockiert worden.
Dass es diese Rede überhaupt gab, zeigt deutlich, dass die BNF zu diesem Zeitpunkt Lukaschenkos wichtigste Gegnerin war. Das war dem Politiker auch bewusst, und er wollte sich offenbar rächen. In der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge der BNF der Status der belarussischen Sprache als einzige Amtssprache (der noch 1990 vom kommunistischen Obersten Sowjet beschlossen worden war) und die Einführung der historischen Staatssymbole, des historischen Wappens Pahonja und der weiß-rot-weißen Flagge (diese Änderung wurde 1991 erreicht). Daher setzte Lukaschenko ein Referendum an, in dem die Bevölkerung über eine Änderung der Staatssymbolik und die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen sollte. Das Gesetz über Volksbefragungen von 1991 verbot es, Fragen zu stellen, „die das unverbrüchliche Recht des belarussischen Volkes auf eine souveräne nationale Staatlichkeit und die staatliche Garantie der belarussischen nationalen Kultur und Sprache beeinträchtigen“, daher war dieses Referendum gesetzeswidrig. Doch das kümmerte Lukaschenko nicht.
Die parlamentarische Abstimmung über die Aufnahme der einzelnen Fragen ins Referendum war für den 11. April 1995 angesetzt. Die Opposition trat zum Zeichen des Protests gegen den Verfassungsbruch in den Hungerstreik, an dem insgesamt 19 Abgeordnete der BNF, angeführt von Sjanon Pasnjak, und der Belarussischen sozialdemokratischen Partei Hramada unter Führung von Aleh Trussau teilnahmen. Trussau hatte 1988 auch dem Gründungskomitee der Front angehört.
„Jahre später sprachen wir über diese Situation mit den anderen Abgeordneten der BNF-Fraktion und kamen überein, dass wir alle bereit waren zu sterben“, erinnert sich Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Fünfundneunzig [Dsewjanosta pjaty]. „Wenn ein Mensch bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn er sein Lebensende vor Augen hat, dann merkt man ihm das wohl an. Jedenfalls fällt es mir schwer, das, was danach geschah, irgendwie rational zu erklären. Wir saßen den anderen Abgeordneten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir schauten ihnen in die Augen und sie uns.“ Die schockierten Abgeordneten, die bis vor Kurzem Lukaschenko noch uneingeschränkt unterstützt hatten, stimmten nun ganz anders ab, als der Präsident es erwartet hatte. Sie akzeptierten lediglich die Frage über eine Integration mit Russland im Referendum .
Die 19 Abgeordneten blieben auch nach Sitzungsende im Parlamentsgebäude. Nachts kamen der OMON und der Sicherheitsdienst des Präsidenten in den Sitzungssaal, einige hundert Mann. Sie trieben die Hungerstreikenden gewaltsam aus dem Gebäude. Die Abgeordneten wurden brutal geschlagen und dann auf dem heutigen Prospekt der Unabhängigkeit aus den Polizeiwagen geworfen. Noch in der Nacht dokumentierten die Abgeordneten die Misshandlungen und zeigten sie bei der Staatsanwaltschaft an. Das Eindringen von Geheimdiensttruppen ins Parlament hätte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten gereicht, doch die vom brutalen Vorgehen der Silowiki eingeschüchterten Abgeordneten verurteilten den Angriff auf ihre Kollegen nicht einmal, sondern beschlossen nun, alle von Lukaschenko eingebrachten Fragen zum Referendum zuzulassen.
Am 14. Mai 1995 fand nicht nur das Referendum statt, sondern auch der erste Wahlgang für das neue Parlament. Es gibt Gründe, die Ergebnisse dieser Wahl als gefälscht zu bezeichnen. Aus Auftritten der Oppositionskandidaten im Fernsehen sowie aus Flugblättern waren Kritik am Referendum und der Regierung gestrichen worden. Doch vor allem passierte etwas höchst Erstaunliches. Alexander Feduta schreibt im bereits erwähnten Buch: „Die Beteiligung am Referendum entsprach wundersamerweise der Nichtbeteiligung an der Parlamentswahl, obwohl dieselben Menschen wahlberechtigt waren. In 141 von 260 Wahlbezirken konnte aufgrund zu niedriger Wahlbeteiligung (weniger als 50 Prozent) kein Abgeordneter gewinnen, gleichzeitig war die Beteiligung am Referendum aber ausreichend für dessen Gültigkeit.“
Damals sah das Wahlrecht vor, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis ihre Stimme abgeben mussten, damit das Ergebnis gültig war. In vielen Fällen fehlten den Oppositionskandidaten nur wenige Dutzend Stimmen. Ein Abgeordneter der BNF, Valentin Golubew, erreichte zum Beispiel 58 Prozent der Stimmen, doch die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis betrug angeblich nur 49,9 Prozent (und das war kein Einzelfall).
Im Ergebnis wurde kein einziger Abgeordneter der Volksfront in das neue Parlament gewählt. Die neuen Parlamentarier waren zur Kooperation mit Lukaschenko bereit. Dieser setzte nun, ohne Widerstand aus den Eliten zu begegnen, auf die Integration mit Russland. Der russische Präsident Boris Jelzin war krank, und die Chance, die Herrschaft im Kreml zu übernehmen, sah für Lukaschenko greifbar nahe aus.
Die Gerüchte über die Unterzeichnung eines Unionsvertrags und den drohenden Verlust der Unabhängigkeit brachten tausende junge Menschen auf die Straßen, die früher nicht an politischen Aktionen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kundgebungen im Jahr 1996 ging als „Minsker Frühling“ in die Geschichte ein. Organisiert wurden sie von der BNF.
Bei der Demonstration gegen die Unterzeichnung des Unionsvertrags zwischen Belarus und Russland gingen am 24. März zwischen 15.000 und 30.000 Menschen auf die Straße. Die Nachricht über die Proteste ging weltweit durch die Medien. Am 26. März teilte Boris Jelzins Sprecher Sergej Medwedew mit, es gehe nicht darum, „einen neuen Staat zu schaffen“, was dann der am 2. April in Moskau unterzeichnete „Vertrag über die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Belarus und Russland“ abbildete. Am selben Tag fand in Minsk eine neuerliche Aktion mit etwa 30.000 Teilnehmenden statt, diesmal ohne Auflösung und Festnahmen. Am 26. April nahmen bereits etwa 50.000 Menschen am Tschernobyl-Gedenkmarsch teil, der brutal aufgelöst wurde.
2011 schrieb der Journalist Andrej Dynko rückblickend in Nasha Niva: „Den Demonstranten in Minsk war es gelungen, die Unionsverträge mit Russland zu stoppen und die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr eines Anschlusses aufmerksam zu machen. Es war Zeit gewonnen und die Initiative gekapert worden. [...] Hätten sie einen Monat mehr zur Verfügung gehabt, hätte die Bevölkerung geschwiegen, Belarus hätte zu einem Tatarstan (einer Republik innerhalb der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) werden können.“
Die Erfolge des „Minsker Frühlings“ hatten einen hohen Preis: Sjanon Pasnjak und sein Mitstreiter Sjarhej Nawumtschyk mussten das Land verlassen, da ihr Leben bedroht war. Sie erhielten Asyl in den USA. Die Situation in Belarus geriet augenblicklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit führender amerikanischer Medien. Das führte dazu, dass die USA und die Europäische Union die Ergebnisse des Referendums von 1996 nicht anerkannten. Doch die Zukunft der Front sollte sich dadurch massiv verändern.
Alternative Wahlen und die Spaltung der BNF
Zum direkten Grund für die Spaltung der BNF wurden die alternativen Wahlen. Alexander Lukaschenkos erste fünfjährige Legislatur endete laut Verfassung im Jahr 1999. Doch mit der Verfassungsnovelle von 1996 wurde festgelegt, die Legislaturperiode ab diesem Zeitpunkt neu zu beginnen.
Diesen Umstand wollte ein Teil der Opposition für sich nutzen. Viktor Gontschar, vormals ein Mitstreiter Lukaschenkos, später sein Gegner, schlug vor, 1999 alternative Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Da er 1996 unrechtmäßig als Leiter des Zentralen Wahlkomitees abgesetzt worden war, hatte er formal das Recht, einen solchen Wahlprozess zu organisieren. Mit dutzenden Politikern wurden Gespräche geführt, doch nur zwei Personen wollten bei einer solchen Wahl kandidieren: Der ehemalige Premierminister Michail Tschigir, der seit seinem Rücktritt 1996 in Moskau arbeitete, und Sjanon Pasnjak.
Einen Tag, nachdem seine Kandidatur „registriert“ wurde, wurde Tschigir festgenommen und des Amtsmissbrauchs, der Amtsanmaßung und der Fahrlässigkeit beschuldigt. Kurz nach Beginn des Wahlkampfs zog auch Pasnjak seine Kandidatur zurück und warf den Organisatoren Provokation vor. Damit verloren die Wahlen ihren Sinn: Es gab nur noch einen einzigen Kandidaten, der zudem im Gefängnis saß. Das ganze Vorhaben war zu einer politischen Mobilisierungsaktion der Opposition geworden, die einen widersprüchlichen Eindruck hinterließ. Unter anderem auch bei den Aktivisten der BNF.
Tatsächlich schwelten innerhalb der BNF schon lange vorher Konflikte. Es gab keine Einigkeit bezüglich der Parteistrategie. Pasnjak und seine Gleichgesinnten hielten an der ursprünglichen Linie fest, die in den 1990er Jahren verfolgt worden war: Sie nahmen die Front als führende und eigenständige politische Kraft wahr, an die die anderen Parteien sich „anpassen“ sollten. Ihre Opponenten wiederum waren bereit, sich mit anderen oppositionellen Kräften abzusprechen und für einen Sieg der Demokratie Kompromisse einzugehen.
Bereits früher hatten Pasnjaks Mitstreiter ihm Autoritarismus vorgeworfen. „Im Mai [1999] teilte ich dem Rat mit, dass beim Parteitag alle meine Stellvertreter neu gewählt werden würden, dass es diesen Diskussionsklub, wie ich ihn nannte, so nicht mehr geben sollte. Danach begann die Meuterei auf dem Schiff“, räumte Pasnjak ein. Wir ergänzen hier, dass er zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Partei schon seit drei Jahren aus der Emigration geführt hatte, per Fax und Telefon.
Pasnjaks Opponenten stellten als Gegenkandidaten den 38-jährigen Philologen Winzuk Wjatschorka auf, Gründungsmitglied der Bewegung und ebenso Teil des Gründungskomitees der Partei (sein Sohn Franak Wjatschorka ist heute Berater von Swetlana Tichanowskaja). Weder er noch Pasnjak konnten eine Mehrheit erlangen. In der Folge organisierten Pasnjaks Anhänger einen eigenen Parteitag, wählten den Politiker zum Vorsitzenden und benannten die Partei um in Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF). Die Gegner erkannten diese Entscheidungen nicht an, trafen sich ebenfalls und wählten Wjatschorka zum Vorsitzenden, der damit die Partei BNF anführte.
Nach der Spaltung schlugen die Parteien verschiedene Richtungen ein, die sich nie mehr überschneiden sollten. Wjatschorkas BNF setzte auf einen Kurs der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die KChP-BNF trat für den Boykott jeglicher Wahlen ein. In den zwei Jahrzehnten nach der Spaltung gab es nicht den Funken einer Chance auf eine Wiedervereinigung. In jedem Fall aber ist die BNF in die Geschichte eingegangen, als Organisation, die das Schicksal des Landes für immer verändert hat, indem sie die Unabhängigkeitserklärung von Belarus herbeiführte und als Erste den Kampf gegen Alexander Lukaschenko aufnahm, für die Freiheit.