Der Große Terror unter Stalin ist in der russischen Gesellschaft bis heute kaum aufgearbeitet und bleibt immer noch viel zu oft ein Tabu. Ganz anders in Tugatsch, wo vor 65 Jahren ein Lager des stalinistischen Gulag-Systems stand. In dem Ort leben die Kinder und Enkel von ehemaligen Lagerhäftlingen heute Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Statt einander zu hassen, erzählen sich die Menschen in Tugatsch gegenseitig ihre Geschichten – und sie haben ein Museum gegründet.
Swetlana Chustik und die Fotografin Jewgenia Shulanowa haben Tugatsch für Takie Dela besucht, viele Geschichten gehört und aufgeschrieben.
dekoder bringt die Reportage zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, dem 30. Oktober.
In Tugatsch, einem Dorf in der Region Krasnojarsk, befand sich vor 65 Jahren, zwischen 1938 und 1953, eines der Lager des stalinistischen Gulag-Systems – das Tugatschinsker Kraslag. 1800 Gefangene waren dort inhaftiert. Die meisten von ihnen aufgrund des „politischen“ Paragraphen 58. Also Menschen, die wegen einer ungeschickten Äußerung, eines Scherzes oder auch einfach nur wegen eines Logos auf einem Heft zwischen die Mühlsteine der Repressionen geraten waren.
Nach der Schließung des Lagers blieben die meisten ehemaligen Häftlinge in Tugatsch. Um wegzugehen, fehlte ihnen das Geld – Freunde und Verwandte hatten sich abgewandt, vielen war zudem die Ausreise auch nach der Befreiung verboten. Heute leben hier die Kinder und Enkelkinder von Gefangenen Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Und in dieser Situation, die eigentlich alle Bedingungen für gegenseitigen Hass und Feindschaft erfüllt, werden in den Menschen plötzlich Wunder der Nächstenliebe wach.
Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren. Ihr Vater, Gerassim Alexandrowitsch Bersenew, war aus West-Kasachstan hierher deportiert worden, er war erst 22 Jahre jung. Damals hatte er als Fahrer für den Kolchose-Leiter gearbeitet. Der Leiter wurde denunziert und verhaftet. Nach einer Weile kamen sie und holten auch Gerassim – fuhren ihn in einem Anhänger weg. Die Troika des NKWD verurteilte ihn zu „zehn Jahren ohne Recht auf Briefverkehr“.
10 Jahre ohne Recht auf Briefverkehr
„Als wir noch klein waren und Vater noch lebte, redeten wir zu Hause nur selten über diese zehn Jahre. Immer, wenn er anfing zu erzählen, musste er weinen. Die schlimmste Erinnerung war der Hunger, von dem alles anschwoll. Brot bekamen sie 400 Gramm pro Tag, dazu gab es dünne Balanda und wässrigen Brei. Sie mussten Essen aus den Trögen der Ferkel stehlen, die für die Lagerleitung gehalten wurden. Im Winter war es eiskalt, zum Anziehen hatten sie nur Wattejacken, in den Baracken fraßen einen die Bettwanzen und im Sommer bei lebendigem Leib die Stechfliegen, Kriebelmücken und Moskitos.
Für jedes kleine Vergehen konnte man in der Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR) landen, wo es pro Tag nur einen Becher Wasser und 200 Gramm Brot gab.
Einmal hat mein Vater zufällig beobachtet, wie Häftlinge, die wegen Bandenkriminalität einsaßen, den Lebensmittelschuppen plünderten. Sie drohten ihm: ‚Ein Wort, und du bist tot.‘ Er schwieg. Aber die Lagerleitung fand es trotzdem heraus und steckte ihn wegen Beihilfe für einen Monat in diese Baracke.
Als er da rauskam, wog er 38 Kilo. Auf die Beine brachten ihn dieselben Häftlinge, die ihm das eingebrockt hatten. Sie besorgten ihm Arbeit in der Lagerküche. Am ersten Tag aß er so viel Suppe, dass sie ihm zu allen Löchern wieder rauskam, er wäre fast gestorben. Danach verboten sie ihm zu viel zu essen, päppelten ihn Stück für Stück wieder auf.“
Gearbeitet wurde in Tugatsch bis zur völligen Erschöpfung. Hauptsächlich in der Holzbeschaffung: Sie mussten die Stämme ins Wasser rollen und per Hand den Fluss hinabflößen. Von den ersten Frühlingstagen an bis spät in den Herbst, so lange wie die Eisschicht am Rand sich noch brechen ließ. Den ganzen Tag bis zum Knie im Eiswasser. Die Flüsse der Taiga werden nicht einmal im heißesten Sommer warm. Über den Tag kam Sand in die Stiefel und scheuerte die Haut an den Füßen blutig. Die Wachen wüteten. Einmal, als sie eine Arbeitsbrigade durch den Wald führten, setzte sich ein Gefangener auf einen Baumstumpf, um einen Moment in die Sonne zu schauen, da feuerten sie eine Salve auf ihn ab – „Fluchtversuch“.
Die Misshandlungen hatten Methode, sie schossen auf die Beine, kamen angelaufen und fragten: „Tut‘s weh?“ Schossen wieder: „Und jetzt?“ So ging das mehrere Male. Grausamkeit wurde honoriert. Nach der Schließung des Lagers fand man Dokumente über derartige Belohnungen. Der Name Medwedew tauchte oft auf. Offenbar war der besonders „tüchtig“.
„Gegen Ende seiner Haftstrafe wurden die Haftbedingungen meines Vaters gelockert, er fing wieder an, als Fahrer zu arbeiten. Er lernte meine Mutter kennen, sie verliebten sich. Damals war sie schon seit sechs Jahren Witwe mit drei Kindern. Ihr Mann, ein Lagerwachmann, war 1941 an die Front gerufen worden, bald darauf kam die Todesnachricht. Die jüngste Tochter war gerade erst drei Monate alt. Meine kleine dünne Mutter schrubbte die Böden der Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) und kam kaum über die Runden mit ihrer Kinderschar.“
Gerassim unterstützte seine Geliebte von Anfang an, von jeder Dienstfahrt brachte er etwas Leckeres mit. Als er endlich freigelassen wurde, war sie schon schwanger. „Nadjuscha“, „Nadenka“, „mein Sonnenschein“, „mein Entchen“, so nannte er die Kleine. Lidija war die Zweite, später wurde noch ein Schwesterchen geboren. Insgesamt waren sie zu sechst. Dass er die Kinder seines eigenen Wächters großzieht, darüber verlor Gerassim kein Wort, er hatte sie alle gleich lieb.
Anfang der 1970er Jahre kam auf eine Anfrage von den westkasachischen Organen des NKWD die Antwort, Bersenew Gerassim Alexandrowitsch sei „mangels Tatbestand rehabilitiert“. Aber eine Entschädigung erlebte er nicht mehr. Zehn Jahre Lagerhaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Gesundheit war dahin. Der erste Schlaganfall traf ihn 1968, er kam nur schwer wieder auf die Beine – ein Monat zwischen Leben und Tod. 1981, mit 66, folgte der zweite. Zwei Wochen ist er noch selbst gelaufen, obwohl das Atmen ihm schon schwer fiel, dann löste sich ein Blutgerinnsel, er schaffte es gerade noch zum Haus, ließ sich auf die Stufen sinken, und so, im Sitzen, starb er auch. Nadenka überlebte ihn um vierzehn Jahre.
Truhe, Karte, Erinnerung
65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton. Man wollte die Vergangenheit nicht aufwühlen, versuchte zu vergessen und weiterzuleben. Aber die Nachklänge ließen den Leuten keine Ruhe. Einmal erzählte ein alter Mann, ein ehemaliger Wächter, in einem Laden genussvoll davon, wie sie die „Knackis fertiggemacht haben, damit sie endlich alle verrecken“. Da meldete sich am Ende der Schlange eine leise Frauenstimme: „Nicht alle, ich lebe noch.“ Grabesstille.
Lidija Gerassimowna erinnert sich: „Mein Vater hatte im Lager gesessen, und der Mann meiner Tante war ehemaliger Wächter, aber sie redeten normal miteinander, saßen an einem Tisch, gingen zusammen spazieren – solche Geschichten gibt es in fast jeder Familie. Das war kein Grund, dass jemand ein schlechterer Mensch war. Es hieß, die Lagerleute hätten einfach Pech gehabt, es sei nun mal ihre Arbeit gewesen, sie hatten keine andere Wahl.
Aber natürlich lastete das auch schwer auf den Herzen. Die Wachleute, die am grausamsten gewesen waren, versuchten gleich nach der Schließung hier wegzukommen, aber einige sind eben auch geblieben.“
„Klawdija Grigorjewna Gurjanowa war aus Dshambul (Kasachstan) nach Tugatsch deportiert worden. Sie war erst 15 Jahre alt. Eine Freundin hatte sie angeschwärzt. Sie hatten Hefte mit einem Logo, das man als „weg mit der WKP(B)“ lesen konnte. Das war so ein Witz. Klawdija hatte damals einen Verehrer, einen Studenten. Diese Freundin hatte ein Auge auf ihn geworfen und beschlossen, ihre Konkurrentin auf diese Art loszuwerden. Klawdija Grigorjewna erzählte, dass es nachts war und alle schliefen, als jemand an die Tür klopfte. Drei NKWDler kamen herein: ‚Wer von euch ist Ljamkina?‘ Und so nahmen sie sie mit.
Ihre ältere Schwester studierte damals. Zu ihr sagten sie: ‚Entweder du lässt sie fallen oder du verlierst deinen Studienplatz.‘ Und die Mutter unter Tränen: ‚Klawa, wir müssen dich vergessen.‘
So war sie schon als junges Mädchen auf sich allein gestellt. Sie war eine Frohnatur, tanzte gern, ein zierliches, lebensfrohes Wesen – trotz allem.
Nach der Befreiung blieb sie, weil sie nirgendwohin gehen konnte, in Tugatsch, heiratete einen Frontsoldaten, bekam einen Sohn und eine Tochter. Einmal spielten wir mit ihrer [Tochter] Weronika im Hof. Da geht plötzlich das Gartentor auf, und eine Frau kasachischen Aussehens fällt zu Boden und kriecht auf uns zu, streckt flehend die Hände aus. Hinter ihr läuft eine zweite, jüngere Frau, mit Tränen in den Augen: ‚Klawa, vergib uns.‘ Das waren ihre Mutter und ihre Schwester. Klawdija hat ihnen natürlich vergeben, aber nach Hause ist sie nicht zurück. Ihre Schwester hatte dann auch kein Glück im Leben, fing an zu trinken.“
Die erste, die anfing, über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen, war die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstatinowna Miller, das war noch 2009. Sie ist die Tochter eines Aufsehers und die angesehenste Pädagogin im Dorf:
„Mein ganzes Leben war mit dem Lager verbunden. Mein Vater hat erst als einfacher Wachmann gearbeitet, später dann als Vorsteher über die Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR). Wir waren fünf Geschwister, lebten in einem kleinen Häuschen ganz in der Nähe. Jeden Tag brachten mein Bruder und ich unserem Vater das Essen in seinen Turm. Ich war mit den Aufsehern genauso befreundet wie mit den Gefangenen. Obwohl wir Kinder waren, verstanden wir damals schon viel. Aber die wichtigste Frage – warum diese Menschen das alles erleiden mussten – bleibt für mich bis heute unbeantwortet.“
Wer man auch vor 65 Jahren gewesen sein mochte – es ist Geschichte. Ljudmila Konstantinowna hat beschlossen, dass man offen darüber sprechen muss. Gemeinsam mit ihren Schülern fing sie an, die älteren Dorfbewohner zu befragen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Zuerst hat dem niemand große Beachtung geschenkt – ein Schulprojekt eben. Aber irgendwann fügten sich die Geschichten zu einem einzigen gemeinsamen Drama zusammen.
Dann, im vergangenen Jahr, fand die stellvertretende Schulleiterin, Swetlana Nikolajewna Shukowitsch, bei sich zu Hause eine Karte. So fing alles an.
„Wir waren in das Haus einer unserer Alteingesessenen umgezogen, dort stand eine alte Truhe. Ganz unten war sie mit Papier ausgelegt. Ich habe diese Truhe fünf Jahre lang benutzt, bis ich schließlich auf die Idee kam, mir die Rückseite anzuschauen. Als ich das Papier umdrehte, sah ich eine Karte: Erschließung der Rohholzbasis im Tugatschinsker Kraslag des MWD.“
Das war der Auslöser. Es stellte sich heraus, dass alle davon gehört hatten und es wussten, viele erinnerten sich noch deutlich an die Ereignisse hier. Nur haben alle geschwiegen. Und plötzlich war es, als hätten sich die Schleusen geöffnet. Es gab Gespräche, die Leute hielten endlich nicht mehr die Luft an, entspannten sich. Sie brachten verschiedene Dinge, Alltagsgegenstände, die Geschichten strömten nur so. Die Engagiertesten bildeten eine Initiativgruppe, die den Informationsfluss koordinierte. Eine der ersten, die sich ihr anschloss, war Lidija Gerassimowna.
„Als meine Geschwister noch am Leben waren, haben wir nie darüber gesprochen, dass wir die Erinnerung wiederbeleben müssen. Erst jetzt habe ich verstanden, dass meine Seele sich schon lange danach sehnte. Unsere Verwandten waren ja vollkommen unschuldig.“
Und so entstand in Tugatsch Stück für Stück ein interaktives Freilichtmuseum: Streng geheim – das Tugatschinsker Kraslag. Der außergewöhnliche Name kommt nicht von ungefähr – der Großteil der Informationen zum Lager wird bis heute unter dem Vermerk „Geheim“ aufbewahrt. Das Projekt gewann einen Wettbewerb der Timtschenko-Stiftung: Ein Kulturmosaik unserer Kleinstädte und Dörfer. Das ermöglichte nicht nur, dass weitere Erinnerungen gesammelt wurden, sondern auch, dass das Museum selbst Form annahm.
Man rekonstruierte verschiedene Außenobjekte: einen Damm, einst gebaut von den Gefangenen, um das Holz auf den Fluss zu lassen, der jetzt als Aussichtsplattform mit Blick auf das gesamte Gelände der ehemaligen Kolonie dient; eine Baracke, in der die Habseligkeiten der Häftlinge ausgestellt sind (die Gegenstände haben die Dorfbewohner selbst hergebracht). Ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wurde errichtet. Der verlassene Friedhof des Lagers, wo man die Gräber nur anhand der länglichen Vertiefungen entlang der Kiefern erkennt, hat jetzt ein Kreuz – eines für alle.
Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf dem Dachboden eines der Häuser Fellmützen, Tassen und Löffel, die früher den Lagerinsassen gehörten, Schüsseln, auf denen die Namen ihrer Besitzer eingraviert sind, dazu Briefpapier und Umschläge, alte Fotos und Karten von Außeneinsatzstellen – Waldstücke, in denen die Gefangenen gearbeitet haben.
Bald soll eine Übersichtskarte an der Ortseinfahrt entstehen, damit die Besucher sich schneller zurechtfinden. Außerdem ist ein Nachbau der Schmalspurbahn in Planung, mit deren Hilfe die Gefangenen Holz transportiert haben, und die Rekonstruktion einer Dampfmaschine, die auf dem Museumsgelände ausgestellt werden soll.
Die Träume des Lju Pen-Sej
Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner mit Geschichten. Zuweilen ganz zufällig.
Am Rande von Tugatsch steht ein Spezial-Pflegeheim für alte und behinderte Menschen. Hierher kommen Menschen aus der ganzen Region, die wegen Verhaltensauffälligkeiten nicht in den üblichen Heimen leben können, aber auch ehemalige Häftlinge, die auf der Straße gelandet sind. Im Grunde ist das ein Gefängnis mit erleichterten Haftbedingungen. Seit letztem Jahr ist auch Lju Pen-Sej hier. Er stammt aus China, aber er spricht akzentfreies Russisch und möchte Kolja Iwanow genannt werden.
„Ich bin 77 Jahre alt. Geboren wurde ich in China. 1941 herrschte dort eine schwere Hungersnot, und meine Eltern überquerten mit mir als Säugling die Grenze zur UdSSR. Sie wurden als Überläufer verhaftet und ins Lager geschickt, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte. Woran ich mich selbst erinnere und was ich aus den Erzählung meiner Eltern weiß, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Ein paar Bilder sehe ich noch vor mir. Meine liebe Amme, eine Tatarin, Tamara Iwanowna, und wie ich mich an ihrem Rocksaum festhalte, ihre Stimme ist liebevoll, sie dehnt meinen Namen: ‚Ko-o-o-lja‘. Und dann wie ich renne.
Von meinen Eltern weiß ich, dass sie fast die ganze Zeit über eingesperrt waren, die Frauen in der Frauenbaracke, die Männer bei den Männern. Besuche waren nur am Tag erlaubt. Sie sprachen kein Wort Russisch. Mein Vater wurde zum Holzfällen mitgenommen, meine Mutter putzte und kochte im Lager. Freigelassen wurden wir erst 1946. Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater, meine Mutter und ich uns an den Händen halten und aus dem Lager laufen. Wir fuhren nach Krasnojarsk, und dort ging ich verloren. Ich kam in eine Sammelstelle, dann ins Kinderheim. Aus dem Kinderheim holten mich meine Eltern erst, als meine Schwester schon da war.
Meine Mutter starb 1977, mein Vater 1980. Als Jugendlicher war ich ein paar Mal in China, aber weg wollte ich aus Russland nie. Mein Leben war ziemlich turbulent, zuletzt habe ich in Sozialeinrichtungen gewohnt, hab es dort etwas zu bunt getrieben, und jetzt bin ich hier gelandet.“
In Tugatsch hatte Kolja gleich das Gefühl, dass ihm dieser Ort bekannt vorkam. Er fing an zu träumen: Kindheit, Jugend, alles durcheinander. Dann fragte er nach: „Jungs, gab es hier früher Lager?“ „Ja, die gab's“, hieß es.
Wie sich herausstellte, standen früher buchstäblich fünf Meter vom Wohnheim entfernt die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren. So fügte sich das Bild zusammen. Er verstand, dass er praktisch in seiner Heimat gelandet war. Kolja ist der letzte noch lebende Gefangene des Tugatschinsker Kraslag. Und er sagt, dass er nicht mehr weg will. In Krasnojarsk wartet niemand auf ihn, und hier träumt er Träume aus seiner Kindheit.
Sie sind keine Feinde
Nicht alle in Tugatsch sind der Ansicht, dass man an der Vergangenheit rühren sollte. Manche meinen, dass hier nur Mörder und Vergewaltiger saßen, man hätte die Menschen ja nicht ohne Grund weggesperrt – und warum sollte man deren Andenken bewahren? Aber von denen, die so denken, gibt es immer weniger.
Lidija Slepez sagt, man könne täglich beobachten, wie sich die Einstellung der Menschen zum Museum verändere. Jemand, dem das Ganze gestern noch völlig egal war, stellt heute plötzlich seinen Traktor zur Verfügung, damit ein Weg aufgeschüttet werden kann. Jemand erinnert sich, dass auch in seiner Familie Gefangene waren, also geht es plötzlich auch um deren Andenken.
Der Werklehrer der Schule arbeitet schon seit fast einem Jahr an einem Modell des Lagers: „Für mich ist das leicht, mein Onkel war ja Lagerwächter, ich habe eine ungefähre Vorstellung, wo was war.“
Das Einzige, was Lidija Gerassimowna bedauert, ist, dass sie den letzten Willen ihres Vaters nicht erfüllt hat. Vor seinem Tod hatte er sie gebeten: „Kind, wenn ich sterbe, stell bitte keinen Zaun auf, ich habe zehn Jahre hinter Gittern verbracht.“
Damals hat sie das nicht ernstgenommen und sein Grab eingezäunt (wie es die Tradition verlangt). Erst jetzt versteht sie, wie sehr es das Leben ihres Vaters wirklich zerstört hat. Sie wurden zwar rehabilitiert, aber der endgültige Freispruch, der laute Ausruf: „Sie sind keine Feinde!“ – der kam erst jetzt.
„Überhaupt kommt es mir so vor, als hätte man mich zusammen mit meinem Vater freigesprochen, als wäre auch ich von etwas reingewaschen worden.“