„Ein Name, ein Leben, ein Zeichen“ – unter diesem Motto startete 2013 in Russland die Bürgerinitiative Posledni Adres. Sie hat sich die „Erinnerung an die Opfer von politischer Repression und Staatswillkür in der Sowjetzeit“ zur Aufgabe gemacht. Analog zu den Stolpersteinen in Deutschland werden an Häusern, in denen die Opfer politischer Verfolgung bis zu ihrer Verhaftung wohnten, kleine Metalltafeln mit Namen und kurzen biografischen Daten angebracht. Mittlerweile wurden auf diese Art mehr als 1000 Opfer des Großen Terrors unter Stalin in mehr als 40 Städten gewürdigt, darunter auch drei in Deutschland.
Diese Initiative stößt in Russland jedoch regelmäßig auf Widerstand der Bewohner, Hausbesitzer oder -verwalter, die sich weigern, die Tafeln anzubringen oder bereits angebrachte Erinnerungszeichen wieder entfernen. Manche Tafeln werden auch mutwillig beschädigt oder zerstört.
Zuletzt wurden 16 Tafeln vom sogenannten Dowlatow-Haus in Sankt Petersburg entfernt. Diese 16 Tafeln erinnerten an 16 Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität, die zu verschiedenen Berufsgruppen gehörten. Das einzige, was sie außer dem Wohnhaus teilten, war ihr Schicksal: Sie alle wurden während des Großen Terrors festgenommen und erschossen und erst Jahrzehnte später rehabilitiert.
Auf Initiative dreier Hausbewohner hin wurden die Tafeln wieder abmontiert. Dies hat für eine heftige Diskussion und gegenseitige Beschimpfungen in Sozialen Netzwerken gesorgt. Auch in den Medien wird der Fall breit diskutiert.
Warum löst das Thema Repressionen in der heutigen russischen Gesellschaft eine so waidwunde Reaktion aus? Wie wird das kollektive Trauma in Russland und wie in anderen Ländern behandelt? Und kann man Menschen zum Gedenken zwingen?
Auf diese Fragen antwortet Boris Kolonizki, renommierter Historiker und Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, im Interview mit der Novaya Gazeta.
Maria Baschmakowa: Die Gesellschaft ist in zwei Lager gespalten. Die einen rufen zur kollektiven Reue auf, die anderen bestehen darauf, dass „wir keine Schuld haben“ und „keine schlechten Menschen sind“. Wie kam es zu dieser Spaltung?
Boris Kolonizki: Die Überwindung des Stalinismus hängt nicht von oktroyierten Losungen und Programmen ab, sondern von der Taktik, mit der man das Ziel zu erreichen versucht. In jeder Politik sind die Mittel wichtiger als der Zweck. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht, sondern die Mittel verändern den Zweck. Und Taktik ist wichtiger als Strategie.
Stalinismus kann nicht mit stalinistischen Methoden bekämpft werden. Ein Teil der Gesellschaft fordert von dem anderen Reue und ruft nicht nur die Nachkommen von Henkern und Denunzianten zur Reue auf, sondern alle, die versucht haben, in dieser schrecklichen Zeit zu überleben. Als ob durch Reue alles gut würde.
Doch so funktioniert das nicht. Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann; dazu aufrufen kann man, indem man selbst mit gutem Beispiel vorangeht.
Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann
In Russland wird Deutschland gern als Vorbild hingestellt, das es nachzuahmen gilt. Und gerade in Deutschland bekannten sich viele, die mit den Naziverbrechen persönlich nichts zu tun hatten und sogar im antifaschistischen Kampf aktiv waren, öffentlich zu ihrer Verantwortung für das, was Deutschland im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Sogar jene, die während des Krieges und danach geboren wurden, die allein aufgrund ihres Alters an gar nichts beteiligt gewesen sein konnten, sprachen von ihrer moralischen Verantwortung. Beispiele, dass Kriegsverbrecher Reue gezeigt hätten, findet man jedoch selten.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat
Wir beobachten heute einen globalen Viktimisierungswettstreit: Fast alle fühlen sich als Opfer und fordern von anderen Reue. Das ist nicht nur ein russischer Charakterzug, das findet man in vielen Ländern. Für uns wird unsere Geschichte aber noch lange ein Stolperstein sein: Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, des Kommunismus, des russischen Imperialismus, fordern Reue von anderen, ohne über die eigene Verantwortung für die Vergangenheit des Landes zu sprechen.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat. Einem solchen Patriotismus stehen Aufrufe zum Vergessen der „schweren Vergangenheit“ und das Gefühl, sich als Opfer der Geschichte zu sehen, im Wege.
Warum werfen unsere Zeitgenossen heute so leichtfertig mit Worten wie „Faschist“ und „Stalinist“ um sich? Polemik über Repressionen bedeutet im Netz fast immer Streit und Beschimpfungen.
Das ist der, mitunter durchaus unbewusste, Einfluss der sowjetischen Tradition. Die Antikommunisten sowjetischer Provenienz tragen sehr viel Sowjetisches in sich. Die Revolutionäre haben sehr gern das in ihrem Sinne abgeänderte Evangelium zitiert: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Dieser Logik folgen auch viele Antikommunisten.
Hinzu kommt die allgemeine Zuspitzung der Situation: Wir erleben mehrere ineinander verwobene Krisen als schwere emotionale Belastung. Auf all das wirkt auch die schwindende, vor allem humanistische, Bildung.
Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, ohne gleichzeitig auch über die eigene Verantwortung an der Vergangenheit zu sprechen
Das zeigt sich auch in einer heimlichen Sehnsucht nach klarer Zugehörigkeit: Das Schema „das Eigene“ versus „das Fremde“ wirkt schon, bevor das erste Argument auf dem Tisch ist.
Das Thema der Verantwortung der Nachfahren für die Handlungen ihrer Väter und Großväter ist komplex. Wer wie leben will, ob er etwas über die Taten seiner Vorfahren wissen will oder nicht, entscheidet jeder selbst.
Keiner meiner Verwandten war Offizier des NKWD. Aber ich kann nicht hundert Prozent sicher sein, dass meine Vorfahren keine Denunziationen geschrieben, bei Versammlungen keine „Feinde“ entlarvt haben. Und es sind auch nur wenige, die mit Sicherheit sagen können, dass ihre Vorfahren ganz bestimmt nicht „beteiligt“ waren.
Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen, aber haben Angst im eigenen nachzuschauen. Wir haben ein schlechtes politisches Erbe. Wir sind Menschen unterschiedlicher politischer Ansichten, Träger jener radikalen, konfrontativen politischen Kultur, die den Stalinismus ermöglicht hat.
Zur Sowjetzeit haben sich Millionen Pioniere die Frage gestellt: Wie kann ich im Verhör durchhalten, wenn ich der Gestapo in die Hände falle? Mehrere Generationen wurden so erzogen. Wir sollten uns heute die Frage stellen: Wie hättest du dich in einem Verhör beim NKWD verhalten? Und wenn Leute sofort, vollkommen überzeugt und ohne nachzudenken sagen: „Ich hätte niemals jemanden denunziert“, dann glaube ich ihnen das nicht einfach so. Denn zwischen Ablehnung des Stalinismus und seiner Manifestation besteht ein Zusammenhang.