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Lehrerinnen fürs Ende der Welt

Russlands Dörfer verlieren ihre Bewohner. Wie anderswo auch, bieten die großen Städte oft mehr Jobs und Perspektiven – hier begünstigt dadurch, dass die Sowjetunion die Verstädterung einst massiv vorangetrieben hat. Russland ist mit offiziell rund 146 Millionen Einwohnern ohnehin dünn besiedelt. Es gibt Versuche, die Trends umzukehren: Gerade hat die russische Regierung etwa ein Programm gestartet, das mit geschenktem Grundbesitz in den Fernen Osten locken soll.

Was macht den Orten fernab der großen Städte zu schaffen? Unter welchen Bedingungen leben die Menschen dort? Und was tun, wenn qualifizierte Fachkräfte für die elementarsten Dinge fehlen? Zum Beispiel Pädagogen. Anna Bessarabowa hat für die Novaya Gazeta ganz besondere Lehrerinnen in der sibirischen Taiga begleitet: Das lokale Projekt Mobile Pädagogen soll die Dorfschulen retten.

Reportage aus verschneiten Winkeln, wo der Schulweg auch mal ein Trampelpfad übers Eis ist. 

Источник Novaya Gazeta

„Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Im sibirischen Parabel ist es schon 10 Uhr abends, in Moskau erst 18 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt, 36 Grad unter Null. Blinzelst du, verkleben dir die Wimpern vor Kälte. Atmest du, frieren weiße Muster auf den Brillengläsern. Redest du, kommt es dir vor, als würdest du Plombir-Sahneeis in ganzen Stücken hinunterschlingen.

Mascha eilt voran wie ein Eisbrecher, wir laufen wie die Pinguine hinterher, um mitzuhalten. Maria Alexejewna Jurjewa, wie sie mit vollem Namen heißt, eine hübsche 24-Jährige, ist nach ihrem Biologie-Studium in Tomsk aufs Dorf zurückgekehrt. Tagsüber erklärt sie Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie mit ihrer Freundin, einer Erzieherin, Gewichte. Mittwochs fahren Mascha und noch zwei Lehrerinnen, die „Engländerin“ und die „Chemikerin“, wie man sie hier nennt, in verschiedene Dorfschulen. Seit September arbeiten sie in dem lokal angelegten Projekt Mobile Pädagogen mit und unterrichten in den abgelegensten Ecken des Bezirks Tomsk.

Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte

In der Siedlung Parabel wohnt man Haus an Haus mit Erdgas- und Erdölarbeitern. Das bringt hohe Mieten und teure Lebensmittel mit sich, denn die Preise richten sich nach den Löhnen dieser Arbeiter. Und so träumen alle Einheimischen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, davon, dass ihre Kinder einmal eine Ausbildung im Erdgas- und Erdölbereich machen werden. In den Dorfschulen aber fehlen Fachlehrer. Die Schulverwaltung von Parabel hat einen Ausweg gefunden. Man kaufte ein neues Auto, einen Chevrolet Niva, rekrutierte eine Gruppe von „Wanderlehrern“ und bringt sie nun bei jedem Wetter in gottverlassene Dörfer.

Morgen fahren wir zusammen mit Mascha nach Stariza. Sie ist gar nicht begeistert: Die Meteorologen haben 40 Grad Frost vorhergesagt. Der Weg in die Taiga ist menschenleer, es gibt keinen Empfang. Wie kommen wir da raus, wenn das Auto steckenbleibt?

Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren

„Außerdem müssen wir über den Fluss fahren. Letzte Woche sind wir zu Fuß, ohne Auto rüber“, erinnert sich Mascha. „Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt. Da habe ich mich erschrocken. Aber der Fahrer hat den Trampelpfad übers Eis geprüft und gesagt: ‚Mädels, geht nur, bei euch hält das Eis.‘ Jetzt ist natürlich alles richtig gefroren, aber wenn wir doch mal steckenbleiben? Dort ist Wald, es gibt Bären. Die öffnen Autos wie Konservendosen.“ 
„Das ist doch spannend!“, antworten wir und werden mit einem Mal richtig munter.

Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei

„Ja, echt superspannend“, antwortet Mascha. „Wir haben hier Romantik pur: Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern  Zeit, um meine Wohnung zu renovieren. Die knapse ich mir zwischen den Schulstunden ab. Ich unterrichte in Parabel und Stariza. Da bleibt mir nur ein Tag am Wochenende – der Sonntag. Gut, dass ich nicht noch in der zweiten Schicht am Nachmittag unterrichte, der Nachmittagsunterricht ist überhaupt das reine Armageddon.“

Mascha nimmt uns mit zu sich nach Hause. Zu ihrer Mietwohnung im ersten Stock einer Holzbaracke führt eine alte Treppe hinauf. Die Küche ist klein. Und das alles kostet sie 7000 Rubel [umgerechnet 115 Euro – dek] im Monat. Anders als andere Fachlehrer, die nach dem Studium aufs Dorf ziehen und dort arbeiten, hat sie keine kostenlose Wohnung und keine Million Rubel [rund 16.000 Euro – dek] Umzugsgeld bekommen – im Gebiet Tomsk gibt es so etwas nicht. Mascha ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen.

Wir trinken Tee, sprechen über ihre Eltern, die Nachbarn, die „die Lehrerin mit Gartenkürbis durchfüttern“, über aufgegebene Dörfer und über die „durchgeknallten Schüler in den Städten und die motivierten auf den Dörfern, für die es wichtig ist, sich hochzuarbeiten“. Als wir weg sind, bereitet Mascha ihren Unterricht vor. Morgen hat sie laut Stundenplan sechs Unterrichtsstunden. Sie muss lange vor Sonnenaufgang aufstehen.

„Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“

Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Der Mond hängt tief über dem Weg, draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei. Die Seitenfenster sind vereist. Alle wollen eigentlich schlafen. Aus irgendeinem Grund denke ich an die neue Bildungsministerin Olga Wassiljewa und an ihre Worte: „Als Lehrer zu arbeiten, ist eine Aufgabe, eine Mission. Heute sind es unsere Kinder, morgen sind sie das Volk“ – und an die Bewohner von Queyras aus Victor Hugos Roman Die Elenden. In dem Roman werden Schulmeister für Dörfer eingestellt, die selbst nicht in der Lage sind, Lehrer zu bezahlen. Und die wandern dann von einem Dorf zum anderen und unterrichten. Bei Hugo erkennt man die mobilen Pädagogen an Hüten mit Gänsefedern. Eine Feder bedeutet, dass sie nur Lesen und Schreiben unterrichten, bei zwei Federn unterrichten sie auch Rechtschreibung und Rechnen, bei drei Federn kommt noch Latein hinzu.

Unsere Mitfahrerinnen haben keine Federhüte. Mascha trägt Kopfhörer, sie hört Rammstein. Die Chemielehrerin Ljubow Alexejewna Safonowa trägt eine warme Mütze. Unterwegs schaut sie, ob ihr Handy Empfang hat, sie will ihre Tochter anrufen, die in die Schule muss. „Wärm dein Frühstück auf, zieh dich warm genug an.“ Sie sagt, was alle Mütter sagen.

Ljubow Alexejewna hat drei Kinder, sie hat sie allein großgezogen. Ihr ältester Sohn ist schon erwachsen. Auch ihre Kleinste wird in ein paar Jahren zum Studieren nach Tomsk gehen.

„Und dann verlasse ich Parabel“, sagt Ljubow Alexejewna noch, „vielleicht. Bis dahin aber fahre ich als mobiler Pädagoge herum … Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo wir den Fluss überqueren.“

Als Erste gehen die Lehrerinnen über den Fluss. Dann schlittern der Fotoreporter und ich hinterher. Der Wagen folgt uns vorsichtig. Das Eis kracht und knackt wie ein gebrochener Zweig, das Auto beschleunigt. „Und wie kommen wir wieder zurück?“, fragen wir am anderen Ufer Fahrer Andrej Knaup.

„Wir fliegen einfach!“, sagt der und lächelt.

Den seltenen Familiennamen hat Andrej von seinem Großvater. Der war Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Die Gegend war über Jahrzehnte ein Gebiet der Verbannung. Von hier war Josef Stalin im Jahr 1912 geflohen, nachdem er notgedrungen 38 Tage in Sibirien war, und hierhin wurden dann auf seinen Befehl zwischen 1930 und 1936 Tausende von Volksfeinden deportiert. Darunter waren viele Deutsche, Polen, Letten und Esten.

In Stariza empfängt die Direktorin der Mittelschule Maria Alexejewna Fritz die Wanderlehrerinnen. Während sie sich auf ihren Unterricht vorbereiten, schlendern wir durch die Gänge der Schule und beobachten die Kinder.

Es hat sich herumgesprochen, dass mit den Lehrerinnen „Moskauer angebraust kommen“, und die Einheimischen haben sich vorbereitet: Die Mädchen sind in den Stiefeln und Pelzmänteln ihrer Mütter zur Schule gekommen, die Lehrerinnen haben sich Festtagskleider angezogen, und im Speisesaal der Schule riecht es nach den selbstgebackenen Piroggen der Schulleiterin. Nur die Jungs kümmern sich nicht um dieses Getümmel, sitzen rum und hören russischen Rap.
Im Sommer hatte ein junger Chemielehrer an der Schule in Stariza gekündigt. Er war frisch von der Uni gekommen, hatte ein Jahr gearbeitet und konnte dann nicht mehr. Aber wie soll es ohne ihn gehen? Die Kinder brauchen Biologie und Chemie für einen Studienplatz an der Polytechnischen Uni in Tomsk, für ihre Zukunft.

Was soll man tun, wenn man beispielsweise Erdölspezialist werden möchte, der mehr als 100.000 Rubel [1500 Euro – dek] im Monat verdient? Die Oberstufenschüler wollen das, und ihre Mütter wollen das auch, und so haben sie ein Ultimatum gestellt: „Findet ihr keinen Lehrer, schicken wir unsere Kinder aufs Internat in Tarsk und gehen eben selbst weg von hier.“

Da unter den Eltern auch hiesige Pädagogen waren, beschloss die Bildungsbehörde von Parabel, dass man lieber auf die Suche nach zwei Fachlehrern geht, als noch mehr Kollegen zu verlieren. Außerdem wurde im Herbst in der Oblast Tomsk ein Projekt gestartet, das den Lehrermangel beheben soll: die Mobilen Pädagogen. In diesem Rahmen bekamen die Bezirke auch Geld für neue Autos. Jetzt kommen die Mobilen Pädagogen den Dorfschulen zu Hilfe, aber spätestens 2025 werden sie die Schulen nicht mehr retten können. Experten prognostizieren, dass dann etwa 1700 Lehrer in der Region fehlen werden.

Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen

„Bei uns im Dorf gibt es 56 Schüler und 9 Vorschulhühnchen“, erklärt Schulleiterin Maria Alexejewna. „Bei den kleinen Kindern ist es einfacher, aber die älteren müssen das GIA und das EGE ablegen. Ich kann doch keinem Russisch- oder Mathelehrer sagen, er soll Chemieunterricht machen, wobei das Schulleitungen in anderen Gebieten Russlands tun. Aber wir haben uns Fachlehrer gesucht.“

Den Unterricht der Vorschulkinder hat in Stariza sowieso eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung übernommen, und die Werklehrerin Aljona Tichonowa unterrichtet auch Bildende Kunst und Erdkunde.

Aljona und ihr Mann Jewgeni Stoljarow, der das Fach Grundlagen der sicheren Lebensführung und Katastrophenschutz unterrichtet, haben zwei kleine Kinder. Um deren Erziehung kümmern sie sich in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn sie nicht gerade Anwesenheitslisten ausfüllen oder Berichte verfassen: über die Lernentwicklung der Schüler oder die Qualität der eigenen Lehre oder andere Dinge.

„Wie leben wir? Ein Holzhaus, Kohleofen, das Wasser müssen wir von der Pumpe holen“, so beschreibt Aljona ihren Alltag. „Fürs Wäschewaschen musst du fünf Eimer Wasser ins Haus schleppen, geputzt wird sonntags, dafür braucht es zehn bis fünfzehn. Die Schulleiterin Maria Alexejewna holt ihr Wasser seit fast 30 Jahren von den Nachbarn.

Mit dem Handyempfang ist es vorbei, seit die Firma Wellcom pleite gemacht hat. Festnetz haben wir auch keins. Das Mobilsignal des Anbieters MTS kommt kaum durch. Von Internet ganz zu schweigen … Die Löhne sind bei uns völlig okay, dank der Zulagen, die man vom Staat für den Dienst in Dörfern und im Norden bekommt, aber in Saus und Braus leben wir nicht.

Mein Mann jagt und angelt. Ich kümmere mich um Haushalt und Garten. So leben die Lehrer hier. Die Betriebe haben alle zugemacht, der Bus nach Parabel fährt einmal am Tag, aber nur, wenn die Fähre in Betrieb ist. Eine Kranken- und Hebammenstation haben wir noch in Stariza, aber der Sanitäter ist nicht berechtigt, Krankschreibungen vorzunehmen, dafür muss man anderthalb Stunden nach Parabel fahren. Ich will Jewgeni überreden, in die Stadt zu ziehen, wenn unsere Töchter größer sind. Wir haben noch eine Hypothek auf unserem Haus, aber die zahlen wir Schritt für Schritt ab.“

Pause in Stariza

„Die Dörfer sterben aus“, sagt Aljonas Mann Jewgeni und setzt sich neben sie auf die Bank. „In unsere Schule gehen Kinder aus mehreren Dörfern der Umgebung. Dort steht zum Teil die Hälfte der Häuser leer. Im Dorf Ust-Tschusik sind nur drei Familien übriggeblieben. Im Dorf Ossipowo lebt nur noch ein alter Altgläubiger. Das Dorf Nowikowo hängt am Tropf der Hubschrauberplattform für die Erdölarbeiter. Die Leute machen sich auf und davon. Wir leben hier am Ende der Welt.“

Zum altgläubigen Alten nach Ossipowo fahren wir nicht mehr. Der Ortsvorsteher von Stariza Dawyd Dawydowitsch Fritz erzählt uns, der alte Mann habe im Herbst einen Schock erlitten, als ein Bär in sein Haus gestiegen sei. Der Alte habe sich im Schuppen eingeschlossen und verschanzt. Als das Monster weg war, habe der alte Mann seine Sachen gepackt und sei zu seinem Sohn in die Stadt gezogen. Dawyd Dawydowitsch gesteht ein, dass sich auch er und seine Frau, die Direktorin der Schule, nach Tomsk absetzen wollen: „2017 ist meine Dienstzeit zu Ende, ich gebe das Amt ab, und das war’s. Die Kinder sind erwachsen. Für unsere Rente haben wir genug gearbeitet – Zeit, dass wir uns erholen.“

Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen. Das ist unser Unterhalt

Jeden Morgen fährt ein Schulbus vom Dorf Ust-Tschusik nach Stariza. Er bringt vier Kinder zur Schule: die Enkelin von Tatjana Sergejewa und die Kinder von Natalja Nikitina. Das Dorf zieht sich über einige Kilometer hin, aber nur in drei Häusern brennt Licht.

„Hier wohnt keiner mehr“, sagt Anna Iwanowna Sykowa und lässt uns ins Haus. „Nur ich, mein Sohn Shenka, meine Nachbarin Tanka mit ihrem Mann und ihrer Enkelin Alessja, ja und die kinderreichen Nikitins wohnen noch hier. Schreiben Sie doch in ihrer Zeitung bitte, dass wir in Tschusik Straßenlaternen brauchen, denn wenn der Schulbus abfährt, ist es noch ganz dunkel. Auch wir fahren mit diesem Bus nach Stariza, weil es keine anderen Verkehrsmittel gibt. Zum Einkaufen, zur Krankenstation, zur Post. Bei uns in Ust-Tschusik gibt es das alles nicht mehr. Hier bekommt man weder Brot noch bekommen sie einen Arzt zu greifen. Wenn wir in Stariza ankommen, kaufen wir dort Lebensmittel und Medikamente ein, bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt. Wir warten sechs oder sieben Stunden, anders geht es nicht. Bis Ust-Tschusik sind es zehn Kilometer durch den Wald. Aufregendes Leben, das wir führen: Einen Rettungswagen rufen, können wir nicht, und irgendwo hinrennen, wenn was passiert, können wir auch nicht. Als Shenka von einem Bären angegriffen wurde, haben wir im ganzen Verwaltungsbezirk Alarm geschlagen, damit der Arzt kam.“

„Was machen Sie, wenn die Kinder im Dorf krank werden?“
„Fragen Sie das lieber meine Nachbarin Tanka“.

Tanka, mit vollem Namen Tatjana Sergejewa, kümmert sich um ihre siebenjährige Enkelin Alessja. Sie sagt, mit der Gesundheit habe das Mädchen Glück gehabt, mit ihrer Mama weniger (die hat das Kind bei der Großmutter gelassen und ist selbst nach Parabel, um sich ein besseres Leben zu zimmern). Aber mit ihrer Gesundheit sei alles Ordnung. 

Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel

„Wir bitten schon lange darum, dass man uns ins Verwaltungszentrum nach Parabel umsiedelt. In Tschusik ist es schwer, hier kann ich auch nichts dazuverdienen. Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen“, rechnet uns die Sergejewa vor. „Das ist unser Unterhalt. Mein Alter jagt auch Zobel. Für ein Stück Fell kriegt er 5000 Rubel [umgerechnet rund 80 Euro – dek]. Draußen ist das 21. Jahrhundert, Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

Als wir das dritte Haus betreten wollen, eilt uns die kleine Wassilissa entgegen, schmuddelig und in einem Pullover, in den sie noch lange hineinwachsen kann. Weil es zu kalt ist, darf sie heute nicht in die Schule. Auf dem Boden liegen Spielsachen und Kleidungsstücke verteilt. Die kleine Nikitina quengelt, die große Nikitina erzählt, dass sich ihre Familie mit einer Kuh, einem Bullen und dem Garten über Wasser halte. Reis, Nudeln, Buchweizen und Brot kaufe aber ihr Sohn, wenn er nach Stariza in die Schule fahre.

„Würde ich selbst einkaufen gehen, würde ich einen ganzen Tag verlieren“, sagt die Mutter. „Und er weiß, was und wieviel wir brauchen.“
„Was wird mit dem Dorf in den nächsten ein zwei Jahren geschehen?“
Die Einheimischen zucken mit den Schultern: „Wer kann das schon wissen?“

Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute

In der Schule in Stariza ist der Schultag fast zu Ende. Die Mobilen Pädagogen wissen sicher, dass die Schüler ihre Hausaufgaben selbst machen werden, denn einen Zugang zum Internet, wo sie Lösungen abschreiben könnten, gibt es hier nicht.

In einigen Minuten werden die Fachlehrerinnen ihre Taschen packen, von den Kollegen Abschied nehmen und nach Parabel zurückfahren. Die Dorflehrer aber bleiben hier. Einige für ein Jahr, die anderen für zwei, die jüngste, die 26-jährige „Engländerin“ Nelli Jurjewna Jewsejewa, bis zum Sommer.

„Seit drei Jahren arbeite ich hier. Ich kann nicht mehr“, gesteht uns Nelli Jurjewna aufrichtig. „Eine Freundin von mir hat mich gefragt, ob ich nicht nach Stariza kommen möchte. Sie selbst ist nach Parabel gezogen und hatte mich bei der Schulverwaltung empfohlen. Ich komme aus Mari El. Das ist nicht Moskau und nicht Tomsk, aber du kommst dir nicht vor wie am Ende der Welt. Sibirien ist was anderes. Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, ist nicht schlimm, das kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute. Und ich will eine Familie haben, will in die zivilisierte Welt.

Hier kann man nirgends hingehen, mit niemandem reden. Samstags und sonntags hockst du zu Hause und weißt nicht, was du tun sollst. Ich habe so viel geweint! In den Ferien besuche ich meine Eltern, aber im September muss ich zurück, das kostet mich wahnsinnige Überwindung. Die Kinder und die Kollegen sind wundervoll, aber die Lebensbedingungen …

„Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

Ich heize hier den Ofen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Holz auf dem Arm hatte. Wasser muss ich von draußen holen, das Klo ist hinterm Haus. Ich habe hier einen Computer und andere Geräte, aber warum gibt es hier keine Internetverbindung? Ich lebe wie in der Verbannung. Ich will weg. Ich verschwende hier Lebenszeit. Und wozu, was für eine Mission habe ich hier?“

„Das Mädel hat recht. Sie muss leben. Und wir, was tun wir? Im Sommer machen wir uns daran, eine Wanderlehrerin für Englisch zu suchen“, sagen die Starizer Pädagogen zu ihren Plänen. „So decken wir wenigstens die Fächer ab, solange die Kinder noch hier sind.“

… Am anderen Flussufer, 100 Kilometer von Stariza, im Zentrum des Verwaltungsbezirks Parabel erwartet unseren Aufklärungstrupp eine Nachricht der russischen Regierung: Ab 2017 soll laut Lehrplan für Musik auch Chorgesang unterrichtet werden. Na ja, vielleicht wird die hiesige Bildungsbehörde den Chevrolet-Niva durch einen Kleinbus ersetzen müssen.

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Samogon

Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

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Walenki

Walenki sind nahtlose, in einem Stück gefertigte Filzstiefel aus Schafswolle. Sie halten auch bei großer Kälte warm und gelten deshalb als ideales Winterschuhwerk für die trockenen russischen Winter. Walenki werden als ein Symbol traditioneller russischer Kultur betrachtet, heute aber in erster Linie mit dem Landleben assoziiert.

Der Begriff Walenki ist abgeleitet vom russischen Verb waljat (dt. walzen, walken) und bezieht sich auf die Herstellungsmethode der Stiefel. Neben ihrem Vorteil, vor extremer Kälte zu schützen, haben sie allerdings den Nachteil, empfindlich auf Nässe zu reagieren. Bei feuchtem Wetter und Schneematsch benutzt man deshalb zusätzlich Oberschuhe, früher aus Leder, heute aus Gummi (Galoschen). In verschiedenen Regionen Russlands wurden Walenki unterschiedlich bezeichnet, in Sibirien etwa als pima.

Vorläufer der Walenki lassen sich bei den nomadischen Völkern Eurasiens finden. Sie gelangten mit dem Einmarsch der Goldenen Horde im 13. und 14. Jahrhundert in die Rus. Walenki waren zunächst kurz, der Schaft wurde separat aus Tuch gefertigt. Die Herstellung von Stiefeln aus einem ganzen, nahtlosen Stück gefilzter Wolle wird erst seit Ende des 18. Jahrhunderts praktiziert. Als Geburtsort dieser Methode gilt die Stadt Myschkin im Gebiet Jaroslawl. Weite Verbreitung fanden die Filzstiefel in Russland aber erst im 19. Jahrhundert mit dem Beginn ihrer industriellen Herstellung – vorher waren die handgefertigten Stiefel teuer, und nur wohlhabende Personen konnten sie sich leisten. Eine Familie mit einem Paar galt bereits als vermögend. Als besonderer Wertgegenstand wurden sie deshalb auch entsprechend gehütet und weiter vererbt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=EKuEbEnbpGU

 

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Walenki, gerade in den Städten, immer weniger genutzt und vor allem mit einer rückständigen dörflichen Lebensweise in Verbindung gebracht. In den letzten Jahren wurden sie jedoch von russischen Designern als Modeobjekt wiederentdeckt und sind inzwischen sogar außerhalb Russlands erhältlich.1


1.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Rückkehr der Filzstiefel
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Tag des Sieges

Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Schwarzer Delfin

Der Schwarze Delfin ist eine Haftanstalt für lebenslängliche Strafen in der Stadt Sol-Ilezk in der Oblast Orenburg. Die inoffizielle Bezeichnung stammt von der Skulptur eines Springbrunnens, der am Haupteingang der Anstalt aufgestellt ist. Die Strafkolonie gilt als eine der härtesten Russlands.

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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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