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Presseschau № 10

Kleine Erfolge und größere Einschränkungen beschäftigen diese Woche die russischen Medien: LKW-Fahrer erringen einen Teilerfolg nach wochenlangen Protesten gegen die Maut. Die Luftfahrtbranche leidet dagegen unter den Beschränkungen im Flugverkehr und der immer weiter sinkende Ölpreis hemmt die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem: Ein erstes Urteil aufgrund des verschärften Versammlungsrechts – eine Vorausschau auf das Wahljahr 2016?

Источник dekoder

Ölpreis drückt Rubel. Krieg in Syrien, Trouble mit der Türkei, Dauerknatsch mit der Ukraine  – und jetzt auch noch das: Der für Russlands Wohl und Wehe maßgebliche Ölpreis ist massiv in den Keller gegangen: Am Dienstag sackte der Preis für ein Barrel Brent auf  38 Dollar ab – und ist damit wieder so niedrig wie Ende 2008/Anfang 2009 während der großen Ölpreiskrise.

Fast zwangsläufig rutschte dadurch auch der Kurs der russischen Währung ab: Der Euro kletterte über 76 Rubel, der Dollar-Kurs marschiert in Richtung seines historischen Höchststandes von knapp über 70 Rubel. Gegen den Rubel arbeiten gegenwärtig neben dem Ölpreis auch noch eine ganze Reihe von Faktoren, etwa die erwarteten Zinserhöhungen in den USA und die zum Jahresende fällig werdenden russischen Auslandsschulden, schreibt der Kommersant.

Insofern ist es ziemlich fraglich, ob der von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew für 2016 prognostizierte Dollarkurs von im Schnitt 60,8 Rubel und die Rückkehr zu einem leichten Wirtschaftswachstum von circa 1 Prozent noch im Rahmen des Möglichen liegt – denn dazu bräuchte es einen Ölpreis im Bereich von 50 bis 60 Dollar.  Doch der wird noch lange bei 50 Dollar oder niedriger liegen, glaubt Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – und findet das gar nicht schlecht: Für Russland sei das immerhin ein Stimulator für Reformen.

2015 wird Russland – vorrangig wegen der niedrigen Ölpreise – einen Rückgang der Wirtschaft um 3,9 Prozent verbuchen müssen.  Die Realeinkünfte der Russen lagen im Oktober um 5,6 Prozent niedriger als im Vorjahr, die Gehälter sogar um 10,9 Prozent – der Kreml hält das für nicht dramatisch.  Die Inflation erreicht unterdessen 12 Prozent.

Heftiger gebeutelt hat der Discount-Preis fürs Schwarze Gold 2015 nur Venezuela, so fontanka.ru – und da hatte der herrschende Autokrat Nicolas Maduro gerade bei Parlamentswahlen eine heftige Niederlage erlitten und seine Regierung entlassen. Apropos, auch in Russland sind im September Dumawahlen

Haft für Demos. Erstmals ist in Russland ein Oppositionsaktivist nach dem kürzlich verschärften Demonstrationsrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden: Ildar Dadin muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil er laut Gericht letztes Jahr in Moskau innerhalb von weniger als 180 Tagen vier Mal an gewaltfreien, aber nicht genehmigten Protestaktionen teilgenommen hat. Dadin gibt hingegen an, dass er in drei der vier Fälle allein demonstriert habe, was keiner Genehmigung bedürfe.
Die Zeitung Vedomosti zitiert Experten mit den Worten, dass dieses Urteil „Furcht vor Anbruch des Wahljahres verbreiten“ soll: „Politische Protestaktionen werden gefährlich“. Das Publikum im Gerichtssaal reagierte auf das Urteil mit einem Tumult, weil die Strafe sogar um ein Jahr länger ausfiel als von der Anklage gefordert. Drei weitere Prozesse gegen andere Protest-Aktivisten laufen noch, darunter auch gegen den 75 Jahre alten Wladimir Ionow. In seinem Fall fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre auf Bewährung und ein Verbot, seinen Wohnort Ljuberzy im Moskauer Umland zu verlassen.

Streit um LKW-Maut. Es ist aber auch nicht so, dass in Russland jegliche Proteste unterdrückt würden und nichts bringen: Das bewiesen die seit Wochen gegen das Mautsystem Platon demonstrierenden Spediteure und Fernfahrer: Nachdem Wladimir Putin in seiner jährlichen Programm-Ansprache vor beiden Parlamentskammern nicht auf das Thema eingegangen war, legten die in einer Sternfahrt auf Moskau angerückten Trucker ein Teilstück der Moskauer Ringautobahn lahm. Faktisch zur gleichen Zeit kassierte die Duma mit einer Änderung des Bußgeldkatalogs immerhin einen der Hauptkritikpunkte an der Lkw-Maut: Die existenzgefährdenden Strafsätze bei Mautverstößen wurden um 99 Prozent zusammengekürzt. Die Maut als solche soll aber beibehalten werden – auch wenn inzwischen 20 Verbände von Lebensmittelherstellern und –händlern unisono vor Lieferengpässen und einem zusätzlichen Inflationsschub warnen – als gäbe es, wie schon geschildert,  nicht genug Krisenfaktoren im Land.

Luftfahrt-Krise. Starke ökonomische Turbulenzen erschüttern auch die russische Luftfahrtbranche – und 2016 kann eigentlich nur schlimmer werden, berichtet der Kommersant: Bislang war zwar das Passagiervolumen konstant, da mehr Inlandsflüge die weniger gefragten Auslandsverbindungen ersetzen. Doch Geld verdienen die Airlines nur im internationalen Verkehr. Aber seit kurzem sind fast alle Flüge in die beiden populärsten Destinationen Türkei (Sanktionen) und Ägypten (Sicherheitsbedenken) sowie in die Ukraine (gegenseitige Flugverbote) gecancelt. An den Moskauer Flughäfen machen diese Destinationen allein ein Fünftel aller Flüge aus. Und schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres buchten die zum Sparen gezwungenen Russen über 30 Prozent weniger Auslandsurlaube.

Umgekehrt wird natürlich auch ein Filzstiefel draus: Die Russen erholen sich mehr im eigenen Land – wobei sie sich teure Ziele wie St. Petersburg kaum leisten können. Der Chef der russischen Tourismusbehörde Oleg Safonow erklärte in einem Interview mit der Rossijskaja Gazeta gar, das Bedürfnis nach Strand und Meer, und erst recht nach All-inclusive-Ferien in der Türkei, sei ein „aufgedrängtes Stereotyp der letzten Jahre“. Früher seien ja auch selbst wohlhabende Russen nicht massenhaft ans Meer gefahren. Und selten für einen heutigen russischen Beamten: Er bezeichnete die US-Bürger als vorbildhaft, urlauben sie doch zu 80 Prozent innerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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Piket

Ein Piket ist ein kleinerer, stationärer Protest. Oft wird er von Einzelnen veranstaltet und bedarf dann keiner vorherigen Anmeldung. Dennoch werden Proteste dieser Art oft von der Polizei unterbunden. Seit 2012 sind die Bedingungen für diese Protestform mehrmals verschärft worden: Neben hohen Geldbußen drohen Protestierenden inzwischen auch lange Haftstrafen.

Das Wort Piket kommt aus dem Französischen (picquet) und ist dann über das Englische (picket) in die russische Sprache gelangt. Ursprünglich bezeichnete es einen spitzen Pfosten oder Pfahl, im übertragenen Sinn dann einen kleinen militärischen Vorposten und schließlich einen Streikposten. Heute steht es für kleine Proteste, die anders als das Miting (meeting) ohne Redner und Bühne auskommen und im Gegensatz zum Protestmarsch stationär sind.

Ein Piket kann vor Eingängen zu Behörden oder Unternehmen stattfinden, die Gegenstand eines Streiks oder Protests sind, aber auch einfach an belebten Orten, wo möglichst viele Passanten die Botschaft mitbekommen. Auch eine Mahnwache oder ein stummer Protest kann als Piket bezeichnet werden. Ein zentrales Attribut sind Poster, Plakate, Transparente oder Fotos beziehungsweise Kerzen oder sonstige symbolische Gegenstände, die die Botschaft des Piket verdeutlichen.

Eine besondere Bedeutung hat in Russland der Einzelprotest (odinotschny Piket) erlangt. Erstens ist dafür keine besondere Organisation oder Absprache erforderlich, was angesichts der schwachen nichtstaatlichen Institutionen in Russland von Vorteil ist. Zweitens können Einzelne hier wie anderswo inzwischen ein Publikum erreichen, das früher großen Gruppen mit weithin sichtbaren Transparenten und Zugang zu Medien vorbehalten war – dank neuer Technologien, vom privaten PC mit Drucker bis hin zur Smartphone-Kamera mit Internet-Verbindung.1 Vor allem aber müssen nach dem Versammlungsgesetz vom Juni 2004 Einzelproteste nicht vorher mit den Behörden abgesprochen werden – im Gegensatz zu anderen Formen öffentlicher Zusammenkünfte, bei denen die Anmeldepflicht in der Praxis als staatliches Vetorecht gehandhabt wird. Damit ist das Piket oftmals die einzige realistische Möglichkeit, Protest kundzugeben.

Allerdings wird auch diese Protestform in den letzten Jahren mit immer stärkeren Restriktionen belegt. Immer wieder wird von Provokateuren berichtet, die sich unaufgefordert zu einzelnen Protestierenden gesellen und deren Piket somit formal in eine anmeldepflichtige Versammlung verwandeln, die mit sofortiger Verhaftung geahndet wird. Regelmäßig werden Einzelproteste auch ganz ohne gesetzliche Grundlage von der Polizei unterbunden.2

Auch die Gesetzgebung ist in den letzten Jahren deutlich verschärft worden. Im Juni 2012, einen Monat nach dem Marsch der Millionen zum Bolotnaja-Platz in Moskau, der mit Massenverhaftungen endete und zu weiteren Protesten führte, wurde das Versammlungsgesetz geändert. Unter anderem können regionale Gesetzgeber jetzt eine minimale Distanz von bis zu 50 Metern zwischen einzelnen Protestierenden vorschreiben. Vor allem aber dürfen Gerichte eine Reihe individueller Proteste nachträglich als Versammlung qualifizieren, wenn eine „gemeinsame Absicht und Organisation“ vorliegt.3 Dadurch wiederum können Protestierende mit ebenfalls verschärften Strafen (jeweils bis zu 20.000 Rubeln) belegt werden. Es folgten Gesetze in mehreren Regionen, die zusätzlich – auch für Einzelproteste – Sperrzonen etwa um Sporthallen, Kliniken und Schulen festlegten.4

Im Juli 2014 folgte eine weitere Verschärfung, die die Autoren der Gesetzesnovelle mit den Ereignissen in der Ukraine begründeten. Jetzt drohen bei dreimaligem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz innerhalb von sechs Monaten eine Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel beziehungsweise in Höhe des gesamten Einkommens über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren – aber auch bis zu fünf Jahren Haft oder Zwangsarbeit.5 Drei Verfahren nach dem neuen Gesetz laufen bereits. Angeklagt sind drei politische Aktivisten aus Moskau und dem Umland, die mehrmals, darunter in Form eines individuellen Piket, gegen Wladimir Putin und seine Politik protestiert haben. Ildar Dadin (geb. 1982) verurteilte das Bassmanny-Gericht in Moskau am 7. Dezember 2015 zu einer dreijährigen Haftstrafe, statt der von der Staatsanwaltschaft geforderten zwei Jahre. Am 22. Februar 2016 ordnete das Oberste Gericht seine Freilassung an.
Die Prozesse gegen Wladimir Ionov (geb. 1939), der seit den 1980er Jahren Einzelproteste veranstaltet und sich nach Verfahrensbeginn gegen ihn in die Ukraine absetzte, und Mark Galperin (geb. 1968) sind noch nicht abgeschlossen. Alle drei werden vom Menschenrechtszentrum der Organisation Memorial als politische Häftlinge eingestuft und haben Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht.6


1.Gabowitsch, Mischa (2012): Social Media, Mobilization and Protest Slogans in Moscow and Beyond, in: Digital Icons 7
2.etwa in Sevastopol auf der annektierten Krim, ovdinfo.org: Ljudi v štatskom sorvali odinočnyj piket v Sevastopole
3.Federalʼnyj zakon o sobranijach, mitingach, demonstracijach, šestvijach i piketirovanijach: Artikel 7, Absatz 1.1 in der Fassung vom 8.6.2012
4.Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin, S. 260
5.Artikel 212.1 des Russischen Strafgesetzbuches: Wiederholter Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen; Fassung vom 22.07.2014
6.zum neuen Gesetz und seiner Anwendung siehe: Mediazona: 212.1. Skolʼko raz povtorjatʼ
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Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

Im Zuge der wirtschaftlichen Rezession, der militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine und der westlichen Sanktionen rief ein breites Oppositionsbündnis für den 1. März 2015 zu landesweiten Demonstrationen auf. Der Anti-Krisen-Marsch Frühling sollte in 16 Städten zugleich stattfinden und dem Widerstand gegen die Politik Wladimir Putins Ausdruck verleihen, die nach Meinung der Initiatoren zu dieser Krise geführt hatte.

Zu den offiziellen Forderungen der Demonstranten zählten u. a. ein Ende des Konflikts mit der Ukraine, freie und faire Wahlen, Bekämpfung der Korruption und die Aufhebung der staatlichen Zensur.

Wenige Tage vor der Protestaktion wurde mit Boris Nemzow einer der Hauptinitiatoren ermordet. Anstatt des geplanten Anti-Krisen-Marschs fand in Moskau ein Trauermarsch statt, an dem etwa 50.000 Menschen teilnahmen.

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Bolotnaja-Platz

Der Bolotnaja-Platz befindet sich zwischen dem Kreml und dem alten Kaufmannsviertel Samoskworetschje im Zentrum Moskaus. Er hat im Mittelalter zunächst als Handelsplatz gedient, später kam ihm immer wieder eine wichtige politische Bedeutung zu, zuletzt während der Proteste gegen die Regierung in den Jahren 2011/12.

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Bolotnaja-Bewegung

Am 6. Mai 2012 wurden beim Marsch der Millionen nach Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei etwa 650 Menschen verhaftet. Mischa Gabowitsch über den Bolotnaja-Prozess und die vorangegangenen Proteste 2011/12.

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Meeting am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz

Nachdem erste Meldungen über Manipulationen bei den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 publik wurden, gab es zunächst kleinere Protestaktionen in Moskau. Eine Woche später fand am 10. Dezember 2011 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau eine der größten Demonstrationen der jüngeren Geschichte Russlands statt, als Zehntausende saubere Neuwahlen forderten. Es entstand eine neue Protestbewegung, die vom Staat über die folgenden Monate jedoch wieder unterdrückt wurde.

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Meeting am 5. Dezember auf dem Tschistoprudny bulwar

Nach den Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011 fanden am nächsten Tag mehrere Protestaktionen in Moskau statt, von denen das Meeting auf dem Tschistoprudny bulwar die größte war. Mehrere tausend Menschen forderten saubere Neuwahlen. Hieraus entwickelte sich eine Protestbewegung, die bis zu den Präsidentschaftswahlen im März 2012 anhielt und erst danach langsam abebbte.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)