Ereignisse dieser Woche: Abschuss des russischen Jagdbombers durch die Türkei. Es gibt emotionale Reaktionen, wütende Proteste – und ein neues Feindbild. Außerdem: In den Regionen protestieren LKW-Fahrer gegen die neue Straßenmaut. Jekaterinburg: Naina Jelzina, Witwe des ersten Präsidenten der Russischen Föderation, wirft anlässlich der Eröffnung des Jelzin-Zentrums einen Blick zurück auf die Regierungszeit ihres Mannes.
Abschuss der SU-24. „Zehn türkische Flugzeuge gehören abgeschossen, Erdogan sponsert den Islamischen Staat!“ So die Reaktion eines Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Moskau. Nach dem Abschuss eines russischen SU-24 Jagdbombers durch einen türkischen F-16 Kampfjet kam es am Dienstag und Mittwoch zu Protesten. Steine wurden geworfen, Fensterscheiben gingen zu Bruch. Ebenso wütend und emotional reagierten auch die Medien und die Politik. Einige Stunden nach dem Abschuss meldete sich Wladimir Putin zu Wort: Es handele sich um ein „Verbrechen“, einen „Stoß in den Rücken“, ausgeführt durch Komplizen der Terroristen, sagte der russische Präsident. Moskau und Ankara geben sich gegenseitig die Schuld an dem Abschuss.
Der Abschuss der SU-24 beherrschte die Berichterstattung der Medien, mit der Türkei als neuem Feindbild: Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden des Abschusses schrieb der Kommersant von einer Provokation Ankaras, um die von Moskau angestrebte breite Koalition gegen den Islamischen Staat zu verhindern, dank derer Assad womöglich länger an der Macht bleiben könnte. Das Staatsfernsehen zeigte einen Film über die Schlachten der russischen Armee gegen das osmanische Reich und in der populären Talkshow Der Abend mit Wladimir Solowjow diskutierten Politologen und Politiker die angeblichen gemeinsamen Wurzeln der türkischen Regierungspartei AKP und der ägyptischen Muslimbrüder, welche ja, ähnlich dem Islamischen Staat, ein Kalifat errichten wollten.
Reagiert hat auch die Wirtschaft. Als erstes wurde der Tourismus zurückgefahren, weitere Großprojekte stehen auf der Kippe. Das Außenministerium in Moskau empfiehlt, von Reisen in die Türkei abzusehen, die größten Reisebüros verkaufen keine Touren mehr. Nach dem Verbot der Reisen nach Ägypten ist dies bereits der zweite Schlag innerhalb kürzester Zeit für die russische Tourismusindustrie: 40 Prozent aller Auslandsreisen aus Russland gingen im ersten Halbjahr 2015 an diese beiden Destinationen.
Lastwagenfahrer protestieren. Zu erwarten ist, dass der Abschuss der SU-24 und der Streit mit der Türkei innerhalb Russlands noch zu einer noch stärkeren Unterstützung für die Politik des Kremls führen wird. Andernorts regt sich aber auch sozialer Protest, in mehreren Regionen streiken Lastwagenfahrer. Protestiert wird gegen die Mitte November neu eingeführte LKW-Maut – Projektbezeichnung: Platon. Durch die viel zu hohen Kilometertarife würden ihre Kosten unnötig steigen, ihre Arbeit lohne sich nicht mehr, klagen die Streikenden. Der Umfang des Protests lässt sich nur schwer beziffern, offiziellen Angaben zufolge nehmen landesweit nicht mehr als 2500 LKW-Fahrer teil. Laut den Lastwagenfahrern sollen es aber alleine in Dagestan mehr als 17.000 Protestierende sein. Der Konflikt wird bislang von den Staatsmedien ignoriert, trotz Forderungen der Zuschauer an den Ersten Kanal. Zu berichten gäbe es genug: In St.Petersburg protestierten die LKW-Chauffeure vor der Stadtverwaltung, in Samara und Petrosawodsk behinderten sie mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr und in Dagestan wurde kurzerhand die Autobahn blockiert. Die Streikenden drohen nun auch dem Kreml: Am 30. November soll die Moskauer Ringautobahn, der MKAD, blockiert werden. Mit ihrer Kampagne erreichen die LKW-Fahrer politisch bislang kaum etwas, könnten aber zum Vorbild für die Organisation anderer Gruppen aus der Mittelklasse werden, welche ihren Unmut artikulieren wollen, schreibt Vedomosti. Medienberichten zufolge signalisieren die Behörden aber nun zumindest Gesprächsbereitschaft. Nicht alle Reaktionen sind jedoch gleich konstruktiv: Der Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow hatte zuvor per Videobotschaft erklärt, der Protest gegen Platon sei von Agenten der Fünften Kolonne auf Geheiß der USA mit dem Ziel organisiert worden, den russischen Staat zu zerstören.
Unmut über das neue System regte sich vor allem aber auch, weil von der LKW-Maut, mit deren Einnahmen eigentlich Straßen repariert werden sollten, nicht zuletzt Igor Rotenberg, der Sohn des Oligarchen Arkadi Rotenberg, der als Putin-Vertrauter gilt, profitiert. Die Fahrer nahmen kein Blatt vor den Mund: Wie die Novaya Gazeta berichtet, waren bei den Demonstrationen Transparente mit Schriftzügen wie „Russland ohne Rotenberg“, „Rotenberg ist schlimmer als der IS“ zu lesen. Rotenberg-Junior soll zur Hälfte der Betreiber des Mautsystems, die Firma RT-Invest Transport Systeme, gehören. Open Russia schätzt den jährlichen Gewinn der Firma auf umgerechnet 43 bis 57 Millionen Euro pro Jahr – ohne vorangegangene Investition, da dafür staatliche Kredite herhalten. Igor Rotenberg ist nicht der einzige Sohn oder die einzige Tochter eines Oligarchen oder Politikers, der zur Zeit im Rampenlicht steht. Kritiker sprechen gar von einer neuen Aristokratie, die sich in Putins Russland entwickelt.
Jelzin-Zentrum. Zum Abschluss noch ein Blick zurück in die 1990er Jahre, welche in Russland wieder im Fokus stehen. Anlass war die am Mittwoch in Ekaterinburg im Beisein von Putin und Medwedew erfolgte Eröffnung des Jelzin-Zentrums. Zu diesem Ereignis gab Naina Jelzina ein Interview: Die Witwe des ersten russischen Präsidenten spricht von einer schwierigen Zeit, die damals errungene Freiheit habe die Zukunft des Landes über viele Jahre hinweg bestimmt. Dekoder erinnerte bereits vor einigen Wochen mit mehreren Artikeln und Gnosen an den kontroversen Umgang mit dem unübersichtlichen ersten Jahrzehnt der Russischen Föderation.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org