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BYSTRO #36: Putinismus und die frühere Sowjetunion – ein Vergleich

Russlands Präsident Wladimir Putin versucht, an die Großmachtrolle der Sowjetunion anzuknüpfen. Ihren Zusammenbruch bezeichnete er als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Außenpolitisch betrachtet er Belarus und die Ukraine als „russische Einflusssphäre“ – das eine Land wurde zum Aufmarschgebiet für russische Truppen, gegen das andere führt er Krieg, um sich Einfluss zu sichern. 
Doch wie nah sind sich die politischen Systeme Russlands und der früheren Sowjetunion? Wo liegen Kontinuitäten und Parallelen in der Ideologie, wo sind zentrale Unterschiede? Was sind die spezifischen Charakteristika des politischen, des putinschen Regimes in Russland?
Dem geht der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder in einem Bystro mit sieben Fragen und Antworten nach.

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1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale?

2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht?

4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 


1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale? 

Der Kreis der Entscheidungsträger ist heute viel kleiner als zu Sowjetzeiten nach Stalins Tod – selbst wenn es um den Generalsekretär der KPdSU immer einen Führerkult gegeben hat. Personalistische Politik, wie wir sie heute in Russland erleben, meint informelles Regieren, die Kompensation von politischer Programmatik durch eine Führungsperson (die Person als Programm), die Legitimation des Regimes und die Inszenierung von Macht über die Führungsperson Putin. Über den medialen Führerkult werden zudem autoritätshörige Mentalitäten mobilisiert. Die extreme Personalisierung hat zur Folge, dass es keine „Checks and Balances“ mehr gibt und das System anfällig für fehlerhafte oder erratische Entscheidungen ist. Informationen werden nicht mehr professionell verarbeitet, sondern gefiltert. Nach oben dringt nur durch, was dem Weltbild des Führers entspricht. Schon der verdeckte Krieg im Donbass im Frühjahr 2014 und der Versuch, das Krim-Szenario zu wiederholen, war ein Beispiel für ineffektive Vorbereitung und Durchführung. Erneut zeigt sich dies im Krieg gegen die Ukraine seit dem 24.2.2022:

Wunschdenken und ein immer höherer Einsatz, um die widerspenstige Wirklichkeit den Wünschen anzupassen, bestimmen das Verhalten. Zu Sowjetzeiten gab es im Politbüro mehr Kontroversen als heute im Kreml. 
Russland ist nicht zum sowjetischen Einparteiensystem mit dem garantierten Herrschaftsmonopol der KPdSU zurückgekehrt. Zu Sowjetzeiten dirigierte die Partei den Staat, heute dagegen hält sich die Exekutive dafür eine Partei, die nur als Wahlmaschine und Loyalitätsnachweis dient, aber keine politisch-programmatische Führungsrolle wahrnimmt.  
Der Zugang zu Putin ist unter Corona-Bedingungen nochmals extrem eingeschränkt worden. Vermittelte Putin in seinen ersten beiden Amtszeiten noch zwischen verschiedenen Interessengruppen innerhalb des Kreml, so lässt sich jüngst eine immer stärkere Beratungsresistenz erkennen. Das hat allerdings auch zur Folge, dass hinter dem Rücken des Präsidenten die Spannungen insbesondere unter den Sicherheitsapparaten zunehmen. 

2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

Die Ideologie des politischen Regimes in Russland ist nicht mehr kommunistisch, sondern eine eklektische Mischung aus Staatsanbetung, Großmachtfantasien, Antiamerikanismus und Antiliberalismus, großrussischem Nationalismus, Orthodoxie und Militarismus. Weite Teile der russischen Eliten leben in einer Retro-Zukunft. Der Blick ist auf die Wiedererrichtung einer untergegangenen Welt gerichtet. Die Retro-Zukunft verhindert, dass Russland sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellt – dem Klimawandel, der Energiewende, der künstlichen Intelligenz, der Zukunft der Städte, der Massenmigration und dem Ende des Geldes, wie wir es kennen. 
Im Kern handelt es sich um ein autoritäres Kontrollregime mit einem aggressiven Großmachtanspruch: Dieser Großmachtanspruch gründet sich auf die Atomwaffen, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, die Vormachtstellung im eurasischen Raum und eine führende Rolle beim weltweiten Öl- und Gasexport. Einige Beobachter glauben, dass Russland schlicht verdecken will, dass China als vormaliges Entwicklungsland in drei Jahrzehnten Russland wirtschaftlich und technologisch gnadenlos abgehängt hat. Das Militär bleibt dabei der einzig verbliebene Ausdruck systemischer Wettbewerbsfähigkeit. 

3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht? 

Kontinuitäten zum sowjetischen Modus operandi sind nach der Jelzin-Ära reaktiviert worden. Dazu gehören der Ausbau der Macht der Sicherheitsapparate, die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive, die Degradierung der Duma zum Akklamationsorgan und die Rehabilitierung der Sowjetgeschichte und ihrer Symbolik. Der Nationale Sicherheitsrat fungiert als Quasi-Politbüro. 
Parallelen gibt es heute auch zum „bolschewistischen“ Verhaltenskodex: das heißt beim Rückgriff auf die Politik der Angst, der Repression, der Mobilisierung von Feindbildern und der Verwandlung der Innenpolitik in einen Abwehrkampf gegen überall vermutete Gefahren und Bedrohungen. Insbesondere seit der Rückkehr von Kremlkritiker Alexej Nawalny im Januar 2021 ging der Repressionsapparat flächendeckend gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, gegen politische Stiftungen und selbst Historiker vor, die sich der Verwandlung von Geschichte zur Staatsreligion verweigern. Noch massiver ist dies seit dem Krieg gegen die Ukraine, sei es bei den wenigen Antikriegsprotesten oder gegen die letzten unabhängigen Medien im Land, einige wurden geschlossen, zahlreiche Journalisten und auch andere unabhängige Akteure haben das Land verlassen.
Anders als zu Sowjetzeiten müssen die Gouverneure heute auf Stimmungen in ihrer Region Rücksicht nehmen, was während der Corona-Pandemie etwa dazu führte, dass Regeln in den Regionen unterschiedlich umgesetzt werden. Und: Im stark monopolistisch und von Oligarchen geprägten Kapitalismus Russlands geben die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht mehr wie zu Sowjetzeiten vor, Herrschaft zugunsten der „Arbeiter und Bauern“ auszuüben; die Verquickung von öffentlichen Ämtern und privater Bereicherung wird sogar weitgehend offen ausgelebt, selbst wenn die Enthüllungen von Nawalny dann doch schmerzten.

4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

Die Repression und Radikalisierung des putinschen Regimes resultiert aus der Macht der Sicherheitsapparate, die mittlerweile eine „Carte blanche“ erhalten haben. Zu den Gründen der Radikalisierung gehören die Krise des Petro-Staat-Modells, die Polarisierung des öffentlichen Diskurses, die sprachlich-kulturelle Verwandlung von Politik in Krieg und die Militarisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Während zunächst auf eine apolitische Demobilisierung der Gesellschaft und den Appell an nationalpatriotische Mentalitäten gesetzt wurde, kulminiert im Krieg gegen die Ukraine eine nationalistische Mobilisierung. Politik wird nur noch als Krieg gedacht. Der Modus operandi des Kadyrow-Regimes in Tschetschenien – Auftragsmorde, Herrschaft durch Paramilitärs – breitet sich nun auch in ganz Russland aus. Zwar ist die Repression keinesfalls mit dem Terrorjahr 1937 vergleichbar, doch ist der Abschreckungseffekt hoch. Der Krieg gegen die Ukraine zwingt nun noch mehr als ohnehin schon entweder in die äußere oder in die innere Emigration, dies trifft mittlerweile sogar bisherige Systemgünstlinge, die bei Kritik ebenfalls nicht mehr sicher vor Repression sind. 

Weil das politische System unter Putin als erstarrt gilt, werden häufig Parallelen zur Ära der Stagnation unter Breshnew gezogen. Im heutigen Russland gibt es allerdings noch beträchtliche finanzielle Rücklagen im Nationalen Wohlstandsfonds. Zudem sind die Selbstbereicherungsanreize für höhere Beamte heute weitaus größer. Infolge der neuen, harten Sanktionen und der fast umfassenden Isolation Russlands in den internationalen Beziehungen kann jedoch die bisherige Geschlossenheit der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten aufbrechen. 

5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

Putin betreibt seit mehr als zehn Jahren eine Art präventiver Konterrevolution, um ernstzunehmende politische Konkurrenz klein zu halten. Deshalb wurde der begrenzte Pluralismus immer weiter eingeschränkt, der „elektorale Autoritarismus“, den es vor allem in den 2000er Jahren gab, hat sich zu einem offen-autoritären Regime entwickelt. 
Das Jahr 2021 markiert auch deshalb eine neue Qualität, weil die Zulassung von Alternativkandidaten und Beobachtern zu bedeutenden Wahlen nicht mehr nur durch systematische Schikanen eingeschränkt, sondern faktisch abgeschafft wurde. Zur Reanimierung sowjetischer Muster gehört außerdem die umfassende Kontrolle des öffentlichen, ja sogar zunehmend des privaten Raumes. Das Regime unter Putin belebt die stalinistische Angst- und Repressionskultur wieder, überall werden Verräter, Spione, fünfte Kolonnen und Defätisten vermutet. 

Zu den größten Gefahren für die Regimestabilität gehört es aus der Sicht des Kreml, wie zu Zeiten von Gorbatschow, einer nicht kontrollierbaren Regimeliberalisierung den Weg zu bereiten. So ist die Perestroika für das heutige offizielle Russland ein Schreckgespenst, ebenso ein „Maidan“ oder eine „farbige Revolution“, das heißt Massenproteste wie beim Arabischen Frühling, in der Ukraine, in Belarus oder jüngst in Kasachstan. Eine Mobilisierung auf der Straße, aber auch durch soziale Netzwerke, wie sie zum Beispiel von Nawalnys Team über Jahre hinweg noch gegen Widerstände und Hürden organisiert werden konnte, ist gegenwärtig nicht mehr möglich. Und doch dürften die Kriegsverluste in der Ukraine, die Verwüstungen und die Massenflucht sowie die Unfähigkeit, ein militärisches Besatzungsregime zu errichten, auf Russland zurückwirken. Selbst wenn das russische Militär sein Zerstörungswerk in der Ukraine fortsetzen kann, wird es ein Pyrrhussieg sein. 

6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

Der Repression nach innen entspricht die außenpolitische Aggressivität, die Androhung und Anwendung von Gewalt. Auch das zeigt der Angriff auf die Ukraine. Die Betriebsweisen im Innern und in den Außenbeziehungen nähern sich an. Die russische Elite sieht das Land dabei als eurasische Vormacht, als Gewinner des vermeintlichen Einflussverlustes der USA und der EU, aber auch als Bollwerk gegen islamischen Fundamentalismus. Russlands politische Führung sieht das globale Erstarken illiberaler beziehungsweise anti-demokratischer Regime als „Niedergang des Abendlandes“, als Vorzeichen eines historischen Sieges über den Westen, oder als verspätete Revanche für die Auflösung der UdSSR. Die Wahrnehmung des Westens als schwach, uneinig, scheinheilig, dekadent, letztlich nur materiell interessiert und auf Konfliktvermeidung bedacht hat Putins Aggression mit ermöglicht. Insofern ist Putins aggressive Außenpolitik nicht nur Reflex auf die Missachtung des Völkerrechts durch westliche Staaten (insbesondere im Irakkrieg), sondern auch einer Politik, die von Werten redete, aber oft genug den Interessen der Gas- und Ölindustrie sowie der Exporteure den Vorrang einräumte.

Die russische Außenpolitik ist anti-liberal, aber nicht ideologisch-fundamentalistisch wie zu Sowjetzeiten. Kontinuitäten sind gleichwohl vielfältig: Dazu gehört etwa die Instrumentalisierung der Außenpolitik für innenpolitische Zwecke, die Fixierung auf das Feindbild USA und auf (vermeintliche) Einmischung der NATO-Länder in innere Angelegenheiten, der Nahe Osten als Einflusssphäre, die Gegnerschaft zu demokratischen Gesellschaften, die Begrenzung der Souveränität von „Verbündeten“ wie Belarus und das Schmieden von Allianzen mit den Gegnern der USA. 
Dem Kreml geht es um exklusive Einflusszonen und um die Einhegung der NATO. Russland will einen „Cordon sanitaire“, eine Pufferzone. Dass frühere Vasallen aus dem Warschauer Vertrag zur NATO übergelaufen sind, dürften russische Sicherheitspolitiker als anhaltende Schmach empfinden. Die Vorstellung einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO dürfte einigen Silowiki noch gruseliger erscheinen als eine Destabilisierung nach dem Muster der Perestroika. 

7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 

In vielen postsozialistischen Staaten hat es eine Säuberung, das heißt Entlassung von führenden Vertretern der Sicherheitsapparate oder zumindest eine normative Abkehr von den sozialistischen Repressionsorganen gegeben. In Russland jedoch ist dies sowohl personell, institutionell als auch vergangenheitspolitisch ausgeblieben. Vom KGB gibt es eine ungebrochene Kontinuitätslinie zum heutigen FSB. Die Silowiki und die Heerscharen an mittleren und höheren Staatsbediensteten sind die entscheidenden Träger des Systems Putin und der im Land verschärften Repression. Namhafte Kritiker des Präsidenten wurden am Anfang der Putin-Ära ins Exil getrieben (Beresowski 2000, Gussinski 2000), dann ins Gefängnis gesteckt (Chodorkowski 2003), der Föderalismus wurde umgehend abgeschafft, es folgten Morde oder versuchte Morde (Politkowskaja 2006, Litwinenko 2006, Estemirowa 2009, Nemzow 2015, Skripal 2018, Khangoshvili 2019, Nawalny 2020). Die politischen Morde sind teilweise von Schergen des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow ausgeführt worden, die formal jedoch dem russischen Innenministerium unterstehen. 
Bei keinem dieser Morde wurde der ultimative Auftraggeber dingfest gemacht. Ob die Spur zu Putin führt, ob es eine Generalermächtigung gibt, unliebsame Opponenten umzubringen, oder ob die Sicherheitsorgane eigenmächtig handeln, wird erst durch Historiker entziffert werden können. Aber es ist das System, das politische Morde ermöglicht, Gelegenheiten schafft und stets eine rechtliche Ahndung hintertreibt. Das Erbe der Sowjetunion besteht dabei einerseits in der überproportionalen Rolle der Sicherheitsapparate im politischen System. Andererseits ist die zivile Kontrolle, die früher von der KPdSU wahrgenommen wurde, heute schwächer. Anders gesagt: Früher waren die Sicherheitsapparate ein Staat im Staat, heute sind sie der Staat. Eine Stalinisierung des politischen Systems unter der Einwirkung des Krieges ist wahrscheinlich: Die Sicherheitsapparate werden unter Druck gesetzt zu liefern, was der Diktator Putin von ihnen verlangt. Da dies unmöglich ist, werden voraussichtlich immer mehr Führungsoffiziere als Schuldige geopfert – oder abtrünnig werden. 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Autor: Andreas Heinemann-Grüder
Veröffentlicht am 05.04.2022

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Auflösung der Sowjetunion

Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.

Bereits in den ausgehenden 1980er Jahren kündigten sich zentrifugale Tendenzen in der UdSSR an. Es gründeten sich zahlreiche protopolitische Vereinigungen, die das Machtmonopol der KPdSU herausforderten. Offenes Reden über Probleme wie das Warendefizit, die Bürokratie oder die ideologische Bevormundung entzogen der KPdSU zunehmend die Legitimation. Die Krise des Staates wurde noch verstärkt durch das unablässige Wettrüsten mit den USA, das die Ressourcen der UdSSR verschlang. Die Wirtschaft des Landes konnte mit den Ansprüchen der Bevölkerung nicht mehr mithalten. In dieser Zeit wurden auch die Forderungen nach mehr Selbständigkeit der Republiken zunehmend radikaler. Einigen Historikern zufolge war es diese Krise, die das Land zu Fall brachte. Andere Historiker widersprechen dieser These: Es war die Perestroika Gorbatschows – ein letzter, jedoch erfolgloser Versuch der Erneuerung – , die ihrer Ansicht nach dem Staat entscheidend zusetzte: Mit der Schwächung der Partei, die in der Politik der Perestroika angelegt war, griff Gorbatschow die Grundlage der eigenen Macht an.

Einen Präzedenzfall schuf Estland am 16. November 1988. Noch vor den ersten halbfreien Wahlen zum Volksdeputierten-Kongress der UdSSR, proklamierte der Oberste Rat der Estnischen SSR die Souveränität der Republik. Im nächsten Jahr folgten Litauen und Lettland. Diese Souveränitätserklärungen bedeuteten jedoch noch nicht den Austritt aus der Sowjetunion, sondern lediglich den Vorrang der eigenen Gesetze gegenüber der unionsweiten Gesetzgebung.

Im Laufe des Jahres 1990 erklärten alle Republiken außer Armenien ihre Souveränität. Den nächsten Schritt machten im selben Jahr die drei baltischen Republiken – Litauen, Lettland  und Estland – als ihre Obersten Räte den Austritt aus der Union beschlossen. Doch der schwerste Schlag traf die Sowjetunion am 12. Juni 1990, als Russland (RSFSR) seine Souveränität erklärte. Alle Gremien der Unionsebene befanden sich in Moskau, ohne Russland konnte die Union nicht existieren. Der Oberste Rat der UdSSR und die Unionsministerien verloren in der Folge rapide an Macht gegenüber den Organen der RSFSR.

Sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Eliten bestand Uneinigkeit im Bezug auf die Zukunft der Sowjetunion. Nicht nur die „Demokraten“ um den ehemaligen Moskauer Parteichef Boris Jelzin, sondern auch die „konservativen“ Kritiker der Perestroika sahen in der Unabhängigkeit Russlands eine Möglichkeit, die unpopuläre Führung Gorbatschows abzuschütteln. Gorbatschow geriet so zwischen die politischen Fronten  der immer offener prowestlich-liberal auftretenden Opposition um Jelzin, die seine Reformen als zu halbherzig kritisierten, und den „Konservativen“, denen seine Reformen zu weit gingen. Begünstigend für den Zerfallsprozess wirkte auch die Tatsache, dass die Bevölkerung sowohl in Russland, als auch in den „nationalen“ Republiken jeweils ihre eigene Republik bei der Verteilung der Ressourcen im Nachteil sah.1 Für den Erhalt der Union plädierten vor allem Vertreter der russischen Minderheit in den nationalen Republiken, orthodoxe Kommunisten sowie einige Fraktionen innerhalb des demokratischen Lagers, wie zum Beispiel die Demokratische Partei Russlands.2 Innerhalb der nationalen Republiken begannen auch die KPdSU-Funktionäre, offen über die Unabhängigkeit zu diskutieren.

Am 17. März wurde auf Vorschlag von Gorbatschow ein Referendum über den Erhalt der UdSSR abgehalten, das jedoch von den drei baltischen Republiken sowie Georgien, Armenien und Moldawien boykottiert wurde. In den restlichen Republiken sprachen sich 77,8 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion aus. Doch das Kräftemessen zwischen der sowjetischen und der russischen Regierung ging weiter. Jelzins nächster großer Sieg nach der Souveränität der RSFSR war die Einführung des Präsidentenamtes in Russland am 17. April 1991. Durch die Direktwahl mit 57,3 Prozent der Stimmen genoss Jelzin mehr Legitimität als Gorbatschow, der Präsident der UdSSR, der in sein Amt ein Jahr zuvor durch den Obersten Rat gewählt worden war.

Ab April 1991 verhandelten Gorbatschow und die Oberhäupter Russlands, der Ukraine, Belarus', Aserbaidschans sowie der zentralasiatischen Republiken über einen neuen Unionsvertrag. Im Sommer wurde der Text erarbeitet, für den 20. August war die Gründung der Union Souveräner Staaten geplant, eines föderativen Staatengebildes. In Russland appellierten einige Politiker des demokratischen Lagers an Jelzin, den neuen Vertrag nicht zu unterzeichnen, da Russland sich dann im ständigen Konflikt mit der Unionsregierung befinden würde.3 Der neue Unionsvertrag kam faktisch ohne Zustimmung der republikanischen Legislative zustande.

Einen Tag vor dem geplanten Vertragsabschluss begann am 19. August 1991 ein dreitägiger Putschversuch der Hardliner aus der Unionsregierung, der zwar den Erhalt der Union zum Ziel erklärte, nach Meinung der meisten Experten den endgültigen Zerfall jedoch noch beschleunigte. Nach der Niederlage der Putschisten stand Jelzin als unbestrittener Sieger gegenüber Gorbatschow da.

Nachdem der Staatsrat der UdSSR am 5. September die Unabhängigkeit der baltischen Staaten – ohne das vorgeschriebene Referendum – anerkannt hatte, drängte man auch in der Ukraine auf Autonomie. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit am 24. August wurde am 1. Dezember 1991 ein neues Referendum durchgeführt, bei dem sich eine Mehrheit von 90,32 Prozent  für die Unabhängigkeit aussprach. Ohne die als zweitwichtigste geltende Republik konnte Gorbatschows Idee der als Konföderation umorganisierten UdSSR nicht aufrechterhalten werden. Gorbatschow drängte zwar weiterhin auf eine Einigung mit den Republiken. Doch ein Treffen Jelzins mit den Präsidenten der Ukraine und Belarus', Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch, am 8. Dezember 1991 in Belawesschkaja Puschtscha durchkreuzte diese Versuche endgültig. Dort wurde die Auflösung der UdSSR für bereits geschehen erklärt und die Schaffung eines losen Zusammenschlusses, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vereinbart.

Am 12. Dezember ratifizierte der Oberste Rat der RSFSR das Abkommen von Belawesschkaja Puschtscha mit 188 Stimmen, bei nur sechs Gegenstimmen. Die russische Delegation wurde infolgedessen aus beiden Kammern des Obersten Rates der UdSSR abberufen. Der Rat der Union verlor dadurch sein Quorum und war so formal entscheidungsunfähig. Am 25. Dezember legte Gorbatschow sein Präsidentenamt nieder. Einen Tag darauf erklärte der Rat der Republiken, das Oberhaus des Obersten Rates der UdSSR, die Existenz der Union für beendet.

Zum damaligen Zeitpunkt befanden sich schon etliche Republiken im faktischen Kriegszustand. Die lokalen Konflikte an der Peripherie wurden jedoch in Russland zunächst aus der Wahrnehmung verdrängt. In globaler Perspektive galt nun die größte Sorge dem atomaren Erbe der sich auflösenden Weltmacht.


1.Nezavisimaja gazeta: Obraščenie k presidentu Rossii B. N. El'cinu , 08.08.1991 
2.Buldakov, Vladimir (1997): Krasnaja smuta: Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Moskau, S. 367 
3.Hosking, Geoffrey (2006): Rulers and Victims – The Russians in the Soviet Union, Cambridge-London, S. 382-385 
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