Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.
Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1
Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin
Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.
Das sowjetische System
Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“
Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.
Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2
Gesundheit unter Marktbedingungen
Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.
Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.
Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.
Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis
Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.
Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4
Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.
Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5
Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6
Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.
Quelle: FOM
Und die Onkologie?
Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.
Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.
Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.
Nicht der Staat allein
Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.
Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.
Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.
Prinzip Eigenverantwortung
Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.