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Kulinarische Verwerfungen

Wem gehört der Chaladnik? Woher stammt der Krupnik? Was sind Kalduny? In einem Beitrag auf Radio Svaboda entführt der Historiker Alex Bely in die belarussische Küche und ihre komplexen kulturhistorischen Ursprünge. Zum Schluss gibt es nicht nur schmackhafte Erkenntnisse, sondern auch noch ein Rezept.  

Die dekoder-Redaktion wünscht smatschna jeszi! Guten Appetit! 

Источник Radio Svaboda

Mit einem Artikel über Chłodnik Litewski (wörtlich: Litauische Kalte Suppe) handelte sich The New York Times in Litauen und Polen eine Flut von Kommentaren ein. Ursache war, dass dieses auch in Belarus sehr beliebte Gericht als polnisch bezeichnet wurde. Die länderübergreifende Diskussion in den sozialen Netzwerken dauerte über eine Woche an, auch Belarussen beteiligen sich daran. Der Historiker Ales Bely weist darauf hin, dass die traditionellen Speisen der Völker der Rzeczpospolita eine relativ gemeinsame Geschichte haben, es aber viele Speisen gibt, die Kontroversen hervorrufen. 

„Wenn wir jemandem ein Gericht zuschreiben, geht es gar nicht so sehr um die Rezepte. Es geht vielmehr um die Frage der ‘Verankerung’ in einer Kultur. Dass man es hier mehr kocht als da“, sagt der Historiker. Seiner Ansicht nach litt die traditionelle belarussische Küche am stärksten während der belarussischen Unabhängigkeit und in der Sowjetzeit. Damals wurde neben der Umgangssprache auch die Alltagskultur russifiziert. Die Belarussen nutzten die Unabhängigkeit nicht als Chance, um ihre eigene kulturelle Marke zu stärken. 

„Die Alltagskultur, die die nationalen Besonderheiten markiert, wurde verwischt. Sie war zwei Globalisierungstendenzen ausgesetzt: der allgemeinen und der des Russki Mir. Man hätte sich dem widersetzen können, doch es fehlte an Institutionen. Niemand lehrt oder studiert kulturwissenschaftliche Phänomene der nationalen Küche an der Universität. Wir haben auch keine Kochkurse, die auf die nationale Küche spezialisiert sind“, sagt Bely. 

Um ein traditionelles Gericht einer Nation zuzuordnen, meint der Experte, muss man nicht nur die historischen Grundlagen berücksichtigen, sondern auch den Status des Gerichts in der heutigen Gesellschaft: ob es als nationale Marke etabliert ist. 2024 gab Ales Bely das Buch Samy Zymus (dt. etwa: Der süße Kern) heraus, in dem er die Speisen der belarussisch-jüdischen Küche detailliert beschreibt, darunter auch jene, die wir im Folgenden vorstellen. 

Chaladnik (Kalte Rote-Beete-Suppe) 

Den Chaladnik könnten auch die Ukrainer für sich beanspruchen, erzählt Ales Bely. Wobei die ukrainische Küche wiederum die russische stark beeinflusst habe. Chaladnik servierte man auch in der historischen Region Lettgallen und bei Juden im Großfürstentum Litauen. Diese nannten ihn kalte buretschkes (kalte Rote Beete). Der Historiker räumt ein, dass er in der Chaladnik-Frage eher auf litauischer Seite stehe, meint aber, dass es kein ausschließlich litauisches Gericht sei. 

Mickiewicz schreibt vom ‘chłodnik litewski’. Dreimal wird diese Speise in Pan Tadeusz erwähnt. Ihm war egal, ob er Pole oder Litauer war, das waren für ihn zwei Seiten seiner Identität.“ Dem Historiker zufolge war das Epizentrum des Chaladnik das historische Litauen – ein großer Teil des heutigen Litauen und das belarussische Njomangebiet. Die Litauer machen den Chaladnik lieber mit Kefir, sagt Bely. Man könne sogar speziellen Kefir für Chaladnik kaufen, der schon Gurken und Dill enthält. In Belarus bereite man Chaladnik lieber mit saurer Sahne (Smjatana) zu. 

 Ein Klassiker der belarussischen Küche, Chaladnik / Foto © Alesja Belanovich-Petz

„Die Litauer waren immer stolz auf ihren Chaladnik. Es gibt sogar ein Sommerfestival in Vilnius, das dem Gericht gewidmet ist, und der Chaladnik wurde auf europäischer Ebene als nationales Kulturerbe Litauens anerkannt. Das erfordert intellektuellen, organisatorischen und emotionalen Einsatz. Die Menschen beteiligen sich an der Etablierung des Chaladnik als zutiefst litauisches Phänomen“, sagt der Historiker. Belarus könnte seiner Meinung nach den Chaladnik genauso beanspruchen wie die Litauer.  

„Aber Belarus tut nichts dafür. Man kann solche Fragen nicht durch respektlose Diskussionen in den sozialen Netzwerken lösen. Ich verstehe, warum sich die Litauer über die Polen ärgern. Die Polen haben die Tendenz, die Beteiligung anderer Völker an der Rzeczpospolita zu vergessen. Als sei die Rzeczpospolita per se mit Polen gleichzusetzen und alles, was dazugehörte, polnisch.“ 

Bazwinnje (Rübenkrautsuppe) 

Bazwinnje oder Bazwinnik ist eine Suppe aus dem Kraut und den Knollen junger roter Rüben [die übrigens auch mit Mangold verwandt sind, Anm. d. Ü.], die heiß oder kalt serviert werden kann. Es hat vor allem auf dem Gebiet des historischen Litauens Tradition. „Eine lange Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, empfanden es die Polen als Barbarei, dass die Litauer Rübenkraut kochten. Es stellte sie für die Polen auf eine Stufe mit den Schweinen. Sie nannten die Litauer und Belarussen deshalb abwertend boćwiniarze (dt. etwa Rübenkrautler)“, erzählt der Historiker. 

„Im 19. Jahrhundert eigneten sich die Polen die Bazwinnje dann ebenfalls an. Heute sind sie überzeugt, dass es ihr Gericht ist, obwohl sie es früher nicht mochten und Späße darüber machten“, fügt Bely hinzu. „Auf Radziwiłłs Scholle erwuchs die rote Knolle, nicht ein Kanten Brot“, zitiert er eine polnische Redensart.  

Krupnik (Graupensuppe) 

Die Graupensuppe Krupnik ist wohl die unter den Völkern der Rzeczpospolita am weitesten verbreitete Suppe. Die wichtigste Zutat sind Graupen, die aus Gerste, Hirse oder Roggen sein können. Hinzu kommen Möhren oder Pilze. Fleisch ist in der Regel nicht enthalten, es ist ein Armeleuteessen. Man bemühte sich, „Weißes“ hinzuzufügen, wenn nicht saure Sahne, dann wenigstens Milch. Keinesfalls sollte man den Krupnik mit dem gleichnamigen alkoholischen Getränk verwechseln. 

In Belarus wird die Bezeichnung Krupnik heute kaum noch verwendet, merkt unser Gesprächspartner an. Er erinnert sich, dass ein Betrieb in Lida eine Fertigmischung für diese Suppe herstellte, sie aber „Perlgraupen-Pilz-Suppe“ nannte. „Die Belarussen wissen in diesen Streitigkeiten oft nicht, worum es überhaupt geht, weil gar nicht alle die Bezeichnung, wie hier Krupnik, kennen“, meint Bely.  

Bulbjanaja Kischka (Kartoffelwurst) 

Ales Bely ist der Ansicht, dass dieses Gericht aus Belarus stammt. In Polen wird es vorwiegend in Podlasie gekocht, „das noch vor Kurzem belarussisch war“, sagt der Historiker. 

„Das Wort kischka (dt. eigentlich Darm, Schlauch) ist nicht polnisch. Auch das ist ein Armeleuteessen: Aus Mangel an Fleisch macht man eine Wurst aus Kartoffeln und Griebenspeck“, erläutert Bely. Aber auch in diesem Fall, macht man in Polen das bessere Nationalgerichte-Marketing. „Die Polen veranstalten eine Weltmeisterschaft im Kartoffelwurst- und Kartoffelkuchenmachen in Supraśl (einer Kleinstadt bei Białystok, Anm. d. Red.), einer einstigen Bastion der belarusssischen Kultur“, erklärt Ales Bely.  

Schmorkraut mit Pilzen 

Das ist eines der ältesten bekannten Rezepte der belarussischen und litauischen Küche. In Vilnius wird es Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnt, auch in Schriftstücken des Magistrats von Mahiljou taucht das Gericht im 17. Jahrhundert auf.  

Früher haben sich die Polen über die Speise lustig gemacht, unterstreicht der Historiker, da, wie sie fanden, Kulturgemüse und Waldfrüchte nicht zusammenpassten. Später eigneten sie sich das Gericht doch an. Schmorkraut beeinflusste das heutige (polnische Nationalgericht) Bigos. Früher wurde als Bigos einfach Hackfleisch oder -fisch bezeichnet und erst mit der Zeit kam das Kraut hinzu. Später wurde Schmorkraut mit Pilzen als Füllung verwendet, zum Beispiel für Kalduny oder Knyschy (ein belarussisches Gericht: kleine Teigtaschen für ein, zwei Bissen).  

Kalduny (Gefüllte Teigtaschen) 

Als Kalduny bezeichnet man traditionell kleine Teigtaschen, sagt der Historiker. „Ich habe eine Postkarte von 1975 aus einem Moskauer Verlag, der in einer Auflage von einer Million ein Kartenset zur belarussischen Küche herausgab. Sie zeigt eine Bouillon mit Kalduny – Teigtaschen wie Pelmeni. Heute findet man in Litauen in jedem beliebigen Supermarkt koldunai – dieselben Tiefkühlbeutel wie Pelmeni“, erzählt Bely. 

Seiner Ansicht nach haben die Belarussen vergessen, dass dieses Essen eigentlich Kalduny heißt. Heute nennt man es eher Draniki (dt. Kartoffelpuffer) mit Fleischfüllung. 

Wahrscheinlich waren es die Tataren, die die Kalduny ins Großfürstentum Litauen und die Rzeczpospolita brachten, sagt der Historiker. Es war ein Klumpen in Teig gewickeltes Fleisch, ursprünglich Hammel oder eine Mischung aus Lamm- und Rindfleisch. Später konnte die Füllung auch aus Fisch oder Kartoffeln mit Griebenspeck bestehen.  

Bei den Tataren gab es Bräuche rund um die Kalduny. Man versuchte etwa, einen Pfeifton zu erzeugen, indem man die Teigtasche mit der Zunge geschickt an den Gaumen drückte, sodass die Luft entwich. Und fünf Kalduny mit Brühe mussten reichen, um sich satt zu essen. Das heißt, sie waren größer als Pelmeni. Ales Bely fügt hinzu, dass heute auch ein drittes Gericht Kalduny genannt wird: mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße. In Polen nennt man sie kartacze, in Litauen cepelinai und in Belarus, wo sie vor allem im Gebiet der Dswina Tradition haben, auch kljozki s duschami - „Klöße mit Seele“.  

Subrouka (Wisentwodka) 

Subrouka ist ein alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis mit einem Alkoholgehalt von 40 Volumenprozent. Es wurde ursprünglich in der Belaweshskaja Puschtscha hergestellt, im polnisch-belarussischen Grenzland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei Jägern und Förstern während der Wisentjagd beliebt, erzählt der Historiker. Die Polen machten Subrouka – Żubrówka – zur international bekannten Marke, die bei hochprozentigen Spirituosen weltweit den dritten Verkaufsrang hält. 

„Seit mehr als 30 Jahren ist Białystok im unabhängigen Polen das Marketingzentrum für Żubrówka. Die Polen pushen ihn mit Videos und Barkeeper-Wettbewerben. Sie haben enorm investiert“, erklärt der Experte. 

Auch in Belarus wird ein Getränk hergestellt, das Żubrówka ähnelt, aber der Name wird nicht mehr verwendet, da sich beim Zerfall der UdSSR eine russische Firma die Rechte zur Subrowka-Herstellung gesichert hat. In Belarus heißt er jetzt: Subrowatschka, Bazkawa subrowatschka, Belarusskaja dubrawa

Ales Belys Chaladnik-Rezept 

  • Gekochte Rote Beete und frische Gurken grob reiben. 

  • Schnittlauch oder Zwiebellauch klein schneiden. Man kann auch Dill und geriebene Radieschen zugeben. 

  • Alle Zutaten mit Salz vermengen. Mit Kefir und Mineralwasser übergießen. Mit gekochtem Ei und Eiswürfeln servieren. 

  • Dazu schmecken Pellkartoffeln. 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Polen seit 1991

Die belarussisch-polnischen Beziehungen sind gegenwärtig praktisch inexistent. In den offiziellen Verlautbarungen beider Regierungen überwiegen wechselseitige Anschuldigungen wegen feindseliger Aktionen. Dabei ist das Narrativ der belarussischen Seite weitaus konfrontativer, was auch daran liegt, dass die belarussische Außenpolitik mehr als je zuvor den Interessen des Kreml untergeordnet ist. Dies zeigt sich gerade in dem jüngsten Konflikt um die Wagner-Söldner, die nach Prigoschins Aufstand teilweise in Belarus gelandet sind, was die polnische Regierung als Bedrohung auffasst. 

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre bot sich Polen und Belarus erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, ihre Außenpolitik selbstständig als souveräne Länder zu gestalten. Rein theoretisch schienen die beiden Staaten auf eine Kooperation zum beiderseitigen Vorteil geradezu angewiesen zu sein. Minsk hatte keinen eigenen Zugang zum Meer und brauchte deshalb Partner unter den benachbarten Ostsee-Anrainerstaaten. Hier bot sich – neben Litauen – vor allem Polen an. Warschaus Außenpolitik wiederum orientierte sich an dem Konzept von Jerzy Giedroyc, das großen Wert auf die Unterstützung der Unabhängigkeit von Litauen, Belarus und der Ukraine legte. Darin lag eine Art Sicherheitsgarantie für Polen in der neuen politischen Geografie Europas nach dem Kalten Krieg. In der Praxis jedoch sah das alles ganz anders aus. 

Die frühen 1990er: Eine kurze Phase der Offenheit

Da die polnische Elite für die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der östlichen Nachbarländer in hohem Maße sensibilisiert war, erkannte Polen die Unabhängigkeit von Belarus – als eines der weltweit ersten Länder – schon im Dezember 1991 an. Beide Seiten konnten sich rasch verständigen und unterzeichneten schließlich am 23. Juni 1992 den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in dem wichtige Fragen der bilateralen Beziehungen umfassend geregelt wurden. Gleichzeitig schloss der damalige belarussische Premierminister Wjatschaslau Kebitsch mit der polnischen Seite vorläufige Abkommen über die Nutzung der Hafeninfrastruktur in Gdańsk zum Umschlag belarussischer Güter. Zudem wurde der Bau einer eigenen Breitspur-Eisenbahnstrecke zwischen Belarus und Gdańsk vereinbart. Weiterhin war die Einrichtung eines belarussischen Konsulats in Gdańsk vorgesehen, das die Import- und Exportaktivitäten des Landes über Polen unterstützen sollte.1 Dieses Konsulat (bis 2018 tätig) wurde letztlich als einziges Ergebnis der Verträge tatsächlich realisiert. Als Seehafen und „Fenster zur Welt“ nutzte Belarus den näher gelegenen Hafen im litauischen Klaipeda. Trotzdem war diese Zeit auf beiden Seiten von größtmöglicher Offenheit gekennzeichnet, die in späteren Jahren so nicht mehr möglich sein sollte. Die beiden mitteleuropäischen Nachbarstaaten waren damals noch nicht durch gravierende ideologische Differenzen belastet und nach Kräften bemüht, freundschaftliche Beziehungen zu etablieren.

Divergierende geopolitische Orientierung

Mit Aljaxandr Lukaschenkas Amtsantritt als Präsident 1994 nahm die belarussische Außenpolitik eine ideologische Prägung an. Im Vordergrund stand jetzt die Integration des Landes mit Russland, die im Kontext des slawischen Einheitsgedankens präsentiert und mit dem Versprechen auf eine konjunkturelle Verbesserung dank der Protektion durch den „Großen Bruder“ verbunden war. Infolge der Wiederannäherung an Moskau verschärften sich die antiwestlichen Töne in Minsk. Dazu trug auch Lukaschenka persönlich mit seiner ausgeprägt sowjetischen Mentalität bei. In den Beziehungen zu Polen, das entschlossen die Mitgliedschaft in der NATO und der EU anstrebte, musste das fast zwangsläufig zu Spannungen führen. Die zunehmende geopolitische Distanz zwischen beiden Ländern kam beim Staatsbesuch des polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski zum Tragen, der am 30. März 1996 in der Puszcza Białowieska  (belaruss. Belaweshskaja puschtscha) mit Lukaschenka zusammentraf. Die Differenzen in der Auffassung der regionalen Sicherheit und der Bündnisorientierung waren damals bereits so groß, dass die Gespräche über einen bloßen Meinungsaustausch nicht hinauskamen.2 Allein schon der Umstand, dass dies das einzige Treffen zwischen Lukaschenka und einem amtierenden Präsidenten Polens blieb, macht deutlich, wie sehr sich die fundamentale Begrenztheit der Verständigung zwischen den Regierungen beider Länder verfestigte. 

Die polnische Seite verurteilte Lukaschenkas Bestrebungen, ein autoritäres Regierungsmodell zu etablieren, erhielt jedoch die bilateralen Beziehungen aufrecht. Diese Politik wurde als „kritischer Dialog“ bezeichnet.3 
 

Eine Briefmarke, herausgegeben von der Post in Belarus, zum 25-jährigen Jubiläum der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und Belarus im Jahr 2017 / Bild © Post of Belarus/Public domain via Wikimedia Commons

Streit um die polnische Minderheit in Belarus

Die wachsenden Gegensätze zwischen dem autoritären Belarus und dem demokratischen Polen, das die Integration in den Westen vorantrieb, liefen unweigerlich auf eine Konfrontation zwischen beiden Ländern zu. Diese brach schließlich 2005 aus. Die belarussische Führung störte sich an der „übermäßigen“ Unabhängigkeit des Bundes der Polen in Belarus, eine der zahlenmäßig stärksten NGOs im Land, und nutzte die Vorstandswahlen dieser Organisation, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Schlag gegen die polnische Minderheit markiert den Beginn einer tiefen Krise in den bilateralen Beziehungen. In der Folge entschied Polen, unter anderem in Minsk diplomatisch nur noch durch einen Geschäftsträger vertreten zu sein. Aus belarussischer Sicht dienten die Repressionen gegen den Bund der Polen in Belarus einfach der Vorbereitung für Lukaschenkas Wiederwahl 2006. Nach der Logik des autoritären Regimes war es hierfür notwendig, sich die Kontrolle über die größten NGOs zu sichern.4

Zugleich betrachtete die Minsker Regierung dieses Vorgehen als Verteidigungsmaßnahme gegen eine Fünfte Kolonne Polens, die ihrer Ansicht nach darauf hinarbeitete, Belarus unter polnische Kontrolle bringen und in extremen Fällen sogar die Ablösung der westlichen Teile des Landes im Zuge einer „Wiederherstellung der östlichen Grenzlande“ Polens anstrebte – also der Territorien, die von 1918 bis 1939 zur Zweiten Polnischen Republik gehört hatten. In dieser Wahrnehmung kam – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – ein gravierendes Problem zum Ausdruck, das zusätzlich zu den oben beschriebenen geopolitischen und systemischen Unterschieden auf den polnisch-belarussischen Beziehungen lastet: Die Führung in Minsk betrachtet die Warschauer Politik immer wieder durch das Prisma tief verwurzelter historischer Stereotype, wonach die Polen seit dem späten Mittelalter versucht hätten, die Vorherrschaft über die kulturell und politisch schwächeren Belarussen auszuüben.

Vom Dialog zur Konfrontation

2008 kam es vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf Georgien und der Anerkennung der abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien durch Russland zu einem Neuanfang in den polnisch-belarussischen Beziehungen. Angesichts der aggressiven Politik des Kreml suchte Lukaschenka gezielt den Dialog mit dem Westen, um seine politischen Spielräume zu erweitern. Daher wurden im Sommer 2008 alle politischen Gefangenen freigelassen, darunter auch Lukaschenkas Gegner bei den Präsidentschaftswahlen von 2006. Als EU-Mitglied war Polen an der Neueröffnung der Verbindung Minsk-Brüssel nicht nur beteiligt, sondern trieb diese aktiv voran, weil es sie als Chance begriff, die Krise mit dem Nachbarn im Osten zumindest teilweise beizulegen. So wurde Belarus im Mai 2009 in die schwedisch-polnische Initiative „Östliche Partnerschaft“ einbezogen.5 

Gleichwohl war der Dialog mit Belarus – sowohl EU-weit als auch auf der bilateralen Ebene – weiterhin von der politischen Systemgrenze geprägt. Lukaschenkas vorrangiges Ziel ist der Erhalt der eigenen Macht um jeden Preis. Die Stabilität des Regimes und die Unterdrückung abweichender Meinungen in der Bevölkerung sind für ihn deshalb seit jeher wichtiger als ein pragmatischer Blick auf die Vorteile, die sich aus dem Dialog mit dem Westen ergeben könnten. Nachdem im Jahr 2010 Demonstranten, die gegen die gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen protestiert hatten, brutal niedergeschlagen wurden, kam es im Dezember zum Abbruch der Zusammenarbeit zwischen Belarus und dem Westen – einschließlich Polens, das von belarussischer Seite beschuldigt wurde, die Unruhen organisiert zu haben. Als Russland 2014 die Krim annektierte und die Separatistenrepubliken im Donbass unterstützte, folgte eine erneute Annäherung. Wie schon 2008 erkannte Lukaschenka auch diesmal die aggressive Politik des Kreml im postsowjetischen Raum als ernsthafte Bedrohung und ließ die politischen Gefangenen frei. So begann 2015 eine neue Phase des Dialogs, an dem Polen wieder führend beteiligt war. Diese recht intensive Zusammenarbeit, die von einer Reihe bilateraler Besuche auf Minister- und Parlamentspräsidentenebene begleitet wurde, endete jedoch 2020 mit den nächsten belarussischen Präsidentschaftswahlen. 

Hier sei darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Polen und Belarus unabhängig vom Zustand der politischen Beziehungen fast vom Beginn der 1990er Jahre an dynamisch entwickelt hat. Über lange Zeit – praktisch bis zur Krise nach 2020 – gehörte Polen mit einem Handelswert zwischen zwei und drei Milliarden US-Dollar zu den zehn wichtigsten Wirtschaftspartnern von Belarus. Besonders erfolgreich waren dabei die Jahre 2013 und 2018/19. Ca. 500 Unternehmen in Belarus, die hauptsächlich in sechs Freihandelszonen angesiedelt waren, wurden mit polnischem Kapital gegründet – vorwiegend in Branchen wie dem Baugewerbe, IT, Lebensmittel, Möbel und Kunststoffe. Umgekehrt waren belarussische Exporteure und Investoren in Polen weit weniger aktiv. Belarus belegte unter den polnischen Handelspartnern einen Platz zwischen den Positionen zwanzig und dreißig, was vor allem an der geringeren Wirtschaftskraft der belarussischen Unternehmen lag.6 

Nach 2020: Unumkehrbarer Zusammenbruch der bilateralen Beziehungen? 

Die nächste Krise zwischen Minsk und Warschau dauert bis heute an. Sie begann scheinbar ähnlich wie die früheren. Nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 wies das belarussische Regime jegliche Kritik westlicher Länder – einschließlich Polens – ab, die sich empört über die gewalttätigen Repressionen nach den Protesten gegen die Wahlfälschung zeigten. Lukaschenka fühlte sich dadurch in der Überzeugung bestärkt, die westliche Elite habe sich gegen ihn verschworen. Die Propaganda des Regimes richtete sich hauptsächlich gegen Polen, das wieder beschuldigt wurde, es wolle die ehemaligen „östlichen Grenzlande“ annektieren. Gleichzeitig erhielt der Diktator die Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der im Nachbarstaat Belarus, den der Kreml seiner unmittelbaren Einflusssphäre zurechnet, keinen Machtwechsel unter dem Druck der Straße riskieren wollte. Damit begann für Lukaschenka eine Zeit der Isolation im Verhältnis zum Westen, der seine Sanktionen gegen Belarus zunehmend verschärfte und unter anderem ein Handelsembargo verhängte.
 

Zehntausende Belarussen sind im Zuge der Repressionen in ihrer Heimat nach Polen geflohen. Hier: eine Kundgebung in Warschau im Sommer 2021 / Foto © Zerkalo.io 

Lukaschenka und seine Gefolgschaft unterstellten Polen, es plane einen bewaffneten Angriff zur „Wiedererlangung der ehemaligen östlichen Grenzlande“ und wolle „eine zweite Front gegen die in der Ukraine kämpfenden russischen Streitkräfte“ eröffnen. Zudem beschuldigt Minsk die polnische Führung, sie würde auf ihrem Territorium „belarussische paramilitärische Einheiten“ ausbilden, die einen Einmarsch in Belarus zum Sturz der „rechtmäßigen Regierung“ vorbereiteten. Dieses antipolnische Narrativ wird von verschiedenen Maßnahmen flankiert, die sich gezielt gegen Polen oder die polnische Minderheit in Belarus und das Erbe der gemeinsamen polnisch-belarussischen Vergangenheit richten. So wurden seit Juni 2022 eine Reihe polnischer Friedhöfe (vor allem in den westlichen Regionen von Belarus) und Gedenkstätten verwüstet. Aufgrund eines neuen Bildungsgesetzes ist der Gebrauch des Polnischen als Unterrichtssprache in den Minderheitenschulen in Hrodna und Waukawysk seit letztem Jahr fast vollständig abgeschafft. Auch der Druck auf den unabhängigen, nicht offiziell registrierten Bund der Polen in Belarus wird fortgesetzt. Der stellvertretende Vorsitzende der Organisation, Andrzej Poczobut, sitzt zurzeit eine achtjährige Gefängnisstrafe ab, und es gibt keine Anzeichen für eine mögliche Begnadigung oder Freilassung. 

Als Grundlage für die Repressionen gegen Aktivisten der polnischen Minderheit dienen unter anderem die Ermittlungen zu Verbrechen gegen das belarussische Volk während des Zweiten Weltkrieges und danach, die das Untersuchungskomitee von Belarus 2021 einleitete. Sie wurden in den staatlichen Medien mit zahlreichen Beiträgen über angebliche Verbrechen gegen Belarussen begleitet, die unter anderem von Polen begangen worden seien. Eine antipolnische Stoßrichtung hat auch ein neu eingeführter Feiertag, der Tag der Nationalen Einheit. Er wird am 17. September begangen – dem Jahrestag des Einmarschs der Roten Armee in die östlichen Regionen der Zweiten Polnischen Republik, die damals gegen die deutschen Invasoren kämpfte.7 Zudem belastet die im Herbst 2021 offensichtlich von der belarussischen Führung lancierte Flüchtlingskrise das Verhältnis beider Staaten schwer, sowie die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus

Erstmals in der Geschichte der polnisch-belarussischen Beziehungen gibt es gegenwärtig keine reelle Möglichkeit für einen Ausweg aus der Krise. Die einzige Perspektive für einen Durchbruch wäre derzeit ein Machtwechsel in Belarus, im Idealfall als Ergebnis freier und demokratischer Wahlen.


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Kłysiński, Kamil (2023): Iron curtain on Belarus’ western border: Does the crisis in Minsk’s relations with its Baltic neighbors threaten Belarusian independence? In: BSR Policy Briefing Series 4/2023 
2.Snapkouski, Uładzimir (2003): Stosunki polsko-białoruskie (1990–2003), in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 19-22 
3.Dębski, Sławomir (2003): Stosunki polsko-białoruskie – stan obecny i perspektywy, in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 14-15 
4.Snapkouski, Uladzimir (2017): Šljach Skrozʹ Stahoddze: Belaruska-Polʹskija adnosiny 1918-2017 hh., BDU, Minsk, S. 216-223 
5.Fedorowicz, Krzysztof (2019): Białoruś – zapomniany sąsiad Polski, in: Stosunki Polski z Litwą, Białorusią i Ukrainą 450 lat po unii lubelskiej, Instytut Europy Środkowo-Wschodniej, Lublin 
6.Polsko-białoruskie rozmowy gospodarcze, 12.02.19, in: Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Technologie 
7.Kłysiński, Kamil (2022): The anti-Western narrative in Belarus’s historical policy becomes harsher, in: OSW Analyses, 14.01.2022 
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