Wem gehört der Chaladnik? Woher stammt der Krupnik? Was sind Kalduny? In einem Beitrag auf Radio Svaboda entführt der Historiker Alex Bely in die belarussische Küche und ihre komplexen kulturhistorischen Ursprünge. Zum Schluss gibt es nicht nur schmackhafte Erkenntnisse, sondern auch noch ein Rezept.
Die dekoder-Redaktion wünscht smatschna jeszi! Guten Appetit!
Mit einem Artikel über Chłodnik Litewski (wörtlich: Litauische Kalte Suppe) handelte sich The New York Times in Litauen und Polen eine Flut von Kommentaren ein. Ursache war, dass dieses auch in Belarus sehr beliebte Gericht als polnisch bezeichnet wurde. Die länderübergreifende Diskussion in den sozialen Netzwerken dauerte über eine Woche an, auch Belarussen beteiligen sich daran. Der Historiker Ales Bely weist darauf hin, dass die traditionellen Speisen der Völker der Rzeczpospolita eine relativ gemeinsame Geschichte haben, es aber viele Speisen gibt, die Kontroversen hervorrufen.
„Wenn wir jemandem ein Gericht zuschreiben, geht es gar nicht so sehr um die Rezepte. Es geht vielmehr um die Frage der ‘Verankerung’ in einer Kultur. Dass man es hier mehr kocht als da“, sagt der Historiker. Seiner Ansicht nach litt die traditionelle belarussische Küche am stärksten während der belarussischen Unabhängigkeit und in der Sowjetzeit. Damals wurde neben der Umgangssprache auch die Alltagskultur russifiziert. Die Belarussen nutzten die Unabhängigkeit nicht als Chance, um ihre eigene kulturelle Marke zu stärken.
„Die Alltagskultur, die die nationalen Besonderheiten markiert, wurde verwischt. Sie war zwei Globalisierungstendenzen ausgesetzt: der allgemeinen und der des Russki Mir. Man hätte sich dem widersetzen können, doch es fehlte an Institutionen. Niemand lehrt oder studiert kulturwissenschaftliche Phänomene der nationalen Küche an der Universität. Wir haben auch keine Kochkurse, die auf die nationale Küche spezialisiert sind“, sagt Bely.
Um ein traditionelles Gericht einer Nation zuzuordnen, meint der Experte, muss man nicht nur die historischen Grundlagen berücksichtigen, sondern auch den Status des Gerichts in der heutigen Gesellschaft: ob es als nationale Marke etabliert ist. 2024 gab Ales Bely das Buch Samy Zymus (dt. etwa: Der süße Kern) heraus, in dem er die Speisen der belarussisch-jüdischen Küche detailliert beschreibt, darunter auch jene, die wir im Folgenden vorstellen.
Chaladnik (Kalte Rote-Beete-Suppe)
Den Chaladnik könnten auch die Ukrainer für sich beanspruchen, erzählt Ales Bely. Wobei die ukrainische Küche wiederum die russische stark beeinflusst habe. Chaladnik servierte man auch in der historischen Region Lettgallen und bei Juden im Großfürstentum Litauen. Diese nannten ihn kalte buretschkes (kalte Rote Beete). Der Historiker räumt ein, dass er in der Chaladnik-Frage eher auf litauischer Seite stehe, meint aber, dass es kein ausschließlich litauisches Gericht sei.
„Mickiewicz schreibt vom ‘chłodnik litewski’. Dreimal wird diese Speise in Pan Tadeusz erwähnt. Ihm war egal, ob er Pole oder Litauer war, das waren für ihn zwei Seiten seiner Identität.“ Dem Historiker zufolge war das Epizentrum des Chaladnik das historische Litauen – ein großer Teil des heutigen Litauen und das belarussische Njomangebiet. Die Litauer machen den Chaladnik lieber mit Kefir, sagt Bely. Man könne sogar speziellen Kefir für Chaladnik kaufen, der schon Gurken und Dill enthält. In Belarus bereite man Chaladnik lieber mit saurer Sahne (Smjatana) zu.
„Die Litauer waren immer stolz auf ihren Chaladnik. Es gibt sogar ein Sommerfestival in Vilnius, das dem Gericht gewidmet ist, und der Chaladnik wurde auf europäischer Ebene als nationales Kulturerbe Litauens anerkannt. Das erfordert intellektuellen, organisatorischen und emotionalen Einsatz. Die Menschen beteiligen sich an der Etablierung des Chaladnik als zutiefst litauisches Phänomen“, sagt der Historiker. Belarus könnte seiner Meinung nach den Chaladnik genauso beanspruchen wie die Litauer.
„Aber Belarus tut nichts dafür. Man kann solche Fragen nicht durch respektlose Diskussionen in den sozialen Netzwerken lösen. Ich verstehe, warum sich die Litauer über die Polen ärgern. Die Polen haben die Tendenz, die Beteiligung anderer Völker an der Rzeczpospolita zu vergessen. Als sei die Rzeczpospolita per se mit Polen gleichzusetzen und alles, was dazugehörte, polnisch.“
Bazwinnje (Rübenkrautsuppe)
Bazwinnje oder Bazwinnik ist eine Suppe aus dem Kraut und den Knollen junger roter Rüben [die übrigens auch mit Mangold verwandt sind, Anm. d. Ü.], die heiß oder kalt serviert werden kann. Es hat vor allem auf dem Gebiet des historischen Litauens Tradition. „Eine lange Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, empfanden es die Polen als Barbarei, dass die Litauer Rübenkraut kochten. Es stellte sie für die Polen auf eine Stufe mit den Schweinen. Sie nannten die Litauer und Belarussen deshalb abwertend boćwiniarze (dt. etwa Rübenkrautler)“, erzählt der Historiker.
„Im 19. Jahrhundert eigneten sich die Polen die Bazwinnje dann ebenfalls an. Heute sind sie überzeugt, dass es ihr Gericht ist, obwohl sie es früher nicht mochten und Späße darüber machten“, fügt Bely hinzu. „Auf Radziwiłłs Scholle erwuchs die rote Knolle, nicht ein Kanten Brot“, zitiert er eine polnische Redensart.
Krupnik (Graupensuppe)
Die Graupensuppe Krupnik ist wohl die unter den Völkern der Rzeczpospolita am weitesten verbreitete Suppe. Die wichtigste Zutat sind Graupen, die aus Gerste, Hirse oder Roggen sein können. Hinzu kommen Möhren oder Pilze. Fleisch ist in der Regel nicht enthalten, es ist ein Armeleuteessen. Man bemühte sich, „Weißes“ hinzuzufügen, wenn nicht saure Sahne, dann wenigstens Milch. Keinesfalls sollte man den Krupnik mit dem gleichnamigen alkoholischen Getränk verwechseln.
In Belarus wird die Bezeichnung Krupnik heute kaum noch verwendet, merkt unser Gesprächspartner an. Er erinnert sich, dass ein Betrieb in Lida eine Fertigmischung für diese Suppe herstellte, sie aber „Perlgraupen-Pilz-Suppe“ nannte. „Die Belarussen wissen in diesen Streitigkeiten oft nicht, worum es überhaupt geht, weil gar nicht alle die Bezeichnung, wie hier Krupnik, kennen“, meint Bely.
Bulbjanaja Kischka (Kartoffelwurst)
Ales Bely ist der Ansicht, dass dieses Gericht aus Belarus stammt. In Polen wird es vorwiegend in Podlasie gekocht, „das noch vor Kurzem belarussisch war“, sagt der Historiker.
„Das Wort kischka (dt. eigentlich Darm, Schlauch) ist nicht polnisch. Auch das ist ein Armeleuteessen: Aus Mangel an Fleisch macht man eine Wurst aus Kartoffeln und Griebenspeck“, erläutert Bely. Aber auch in diesem Fall, macht man in Polen das bessere Nationalgerichte-Marketing. „Die Polen veranstalten eine Weltmeisterschaft im Kartoffelwurst- und Kartoffelkuchenmachen in Supraśl (einer Kleinstadt bei Białystok, Anm. d. Red.), einer einstigen Bastion der belarusssischen Kultur“, erklärt Ales Bely.
Schmorkraut mit Pilzen
Das ist eines der ältesten bekannten Rezepte der belarussischen und litauischen Küche. In Vilnius wird es Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnt, auch in Schriftstücken des Magistrats von Mahiljou taucht das Gericht im 17. Jahrhundert auf.
Früher haben sich die Polen über die Speise lustig gemacht, unterstreicht der Historiker, da, wie sie fanden, Kulturgemüse und Waldfrüchte nicht zusammenpassten. Später eigneten sie sich das Gericht doch an. Schmorkraut beeinflusste das heutige (polnische Nationalgericht) Bigos. Früher wurde als Bigos einfach Hackfleisch oder -fisch bezeichnet und erst mit der Zeit kam das Kraut hinzu. Später wurde Schmorkraut mit Pilzen als Füllung verwendet, zum Beispiel für Kalduny oder Knyschy (ein belarussisches Gericht: kleine Teigtaschen für ein, zwei Bissen).
Kalduny (Gefüllte Teigtaschen)
Als Kalduny bezeichnet man traditionell kleine Teigtaschen, sagt der Historiker. „Ich habe eine Postkarte von 1975 aus einem Moskauer Verlag, der in einer Auflage von einer Million ein Kartenset zur belarussischen Küche herausgab. Sie zeigt eine Bouillon mit Kalduny – Teigtaschen wie Pelmeni. Heute findet man in Litauen in jedem beliebigen Supermarkt koldunai – dieselben Tiefkühlbeutel wie Pelmeni“, erzählt Bely.
Seiner Ansicht nach haben die Belarussen vergessen, dass dieses Essen eigentlich Kalduny heißt. Heute nennt man es eher Draniki (dt. Kartoffelpuffer) mit Fleischfüllung.
Wahrscheinlich waren es die Tataren, die die Kalduny ins Großfürstentum Litauen und die Rzeczpospolita brachten, sagt der Historiker. Es war ein Klumpen in Teig gewickeltes Fleisch, ursprünglich Hammel oder eine Mischung aus Lamm- und Rindfleisch. Später konnte die Füllung auch aus Fisch oder Kartoffeln mit Griebenspeck bestehen.
Bei den Tataren gab es Bräuche rund um die Kalduny. Man versuchte etwa, einen Pfeifton zu erzeugen, indem man die Teigtasche mit der Zunge geschickt an den Gaumen drückte, sodass die Luft entwich. Und fünf Kalduny mit Brühe mussten reichen, um sich satt zu essen. Das heißt, sie waren größer als Pelmeni. Ales Bely fügt hinzu, dass heute auch ein drittes Gericht Kalduny genannt wird: mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße. In Polen nennt man sie kartacze, in Litauen cepelinai und in Belarus, wo sie vor allem im Gebiet der Dswina Tradition haben, auch kljozki s duschami - „Klöße mit Seele“.
Subrouka (Wisentwodka)
Subrouka ist ein alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis mit einem Alkoholgehalt von 40 Volumenprozent. Es wurde ursprünglich in der Belaweshskaja Puschtscha hergestellt, im polnisch-belarussischen Grenzland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei Jägern und Förstern während der Wisentjagd beliebt, erzählt der Historiker. Die Polen machten Subrouka – Żubrówka – zur international bekannten Marke, die bei hochprozentigen Spirituosen weltweit den dritten Verkaufsrang hält.
„Seit mehr als 30 Jahren ist Białystok im unabhängigen Polen das Marketingzentrum für Żubrówka. Die Polen pushen ihn mit Videos und Barkeeper-Wettbewerben. Sie haben enorm investiert“, erklärt der Experte.
Auch in Belarus wird ein Getränk hergestellt, das Żubrówka ähnelt, aber der Name wird nicht mehr verwendet, da sich beim Zerfall der UdSSR eine russische Firma die Rechte zur Subrowka-Herstellung gesichert hat. In Belarus heißt er jetzt: Subrowatschka, Bazkawa subrowatschka, Belarusskaja dubrawa.
Ales Belys Chaladnik-Rezept
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Gekochte Rote Beete und frische Gurken grob reiben.
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Schnittlauch oder Zwiebellauch klein schneiden. Man kann auch Dill und geriebene Radieschen zugeben.
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Alle Zutaten mit Salz vermengen. Mit Kefir und Mineralwasser übergießen. Mit gekochtem Ei und Eiswürfeln servieren.
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Dazu schmecken Pellkartoffeln.