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Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

1991 erklärte die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wie alle anderen Sowjetrepubliken, die seit 1990 begonnen hatten, sich von der Sowjetunion loszusagen. Nur die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hatte sich nicht unabhängig erklärt, lediglich ihre Souveränität festgestellt. Die neu entstandene Republik Belarus begab sich in das Abenteuer der parlamentarischen Demokratie, was aber schon bald wieder ein jähes Ende fand. 1994 – bei den ersten Präsidentschaftswahlen – wurde Alexander Lukaschenko ins Amt des Präsidenten gewählt. Er brachte das Land zurück auf einen autoritären Kurs. 

War dieser Kurs unvermeidlich? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass sich die belarussische Bevölkerung von einer demokratischen Entwicklung abgewandt hat? Hat die kurze Zeit der Demokratie dennoch Spuren hinterlassen, die sich beispielsweise im Selbstermächtigungsprozess der Proteste von 2020 gezeigt haben? In einem Bystro beantwortet der belarussische Historiker Viktor Schadurski diese und weitere Fragen. 
 

Alexander Lukaschenko 2007 in Minsk / Foto © Imago/UPI Photo

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1. Erlangte Belarus seine staatliche Souveränität 1991 eher durch die glückliche Fügung äußerer Umstände als durch den eigenen Willen zur Unabhängigkeit?

Man darf natürlich die Selbstaufopferung vieler Generationen von Belarussen nicht kleinreden, die über Jahrhunderte hindurch für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft haben. Allerdings muss man zugeben, dass eine deutliche Mehrheit der Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sich keine Zukunft außerhalb des „einen Sechstel der Erdoberfläche“ vorstellen konnte. Laut Umfragen aus dem Jahr 1990 waren damals nur zwölf Prozent der befragten Belarussen für eine staatliche Souveränität der Republik. Bei der Volksbefragung, die am 17. März 1991 in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, stimmten 82,7 Prozent  der belarussischen Teilnehmer für die Aufrechterhaltung der UdSSR und nur 16,1 Prozent dagegen. Das waren deutlich mehr Pro-UdSSR-Stimmen als in Russland oder der Ukraine. In der „Parade souveräner Staaten“, die 1988 begann, verabschiedete Belarus seine Unabhängigkeitserklärung erst am 27. Juli 1990, also nach der Ukraine und noch weiteren sieben Unionsrepubliken. Auf diese Weise machte sich die belarussische Regierung nicht nur später als die baltischen Länder, sondern auch später als Russland und die Ukraine auf den Weg in die staatliche Souveränität.

Der Behauptung, Belarus habe seine Chance auf Unabhängigkeit in erster Linie günstigen äußeren Umständen zu verdanken gehabt – nämlich der Position seiner Nachbarländer, einschließlich Russland –, ist also durchaus zuzustimmen.

2. Warum waren die Belarussen pro-sowjetischer bzw. pro-russischer als andere Völker der Sowjetunion?

Eine schwere Belastungsprobe für die Entwicklung der belarussischen Nation war vor allem die aktive Politik der Russifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik sah nicht nur die Verankerung der russischen Sprache in Bildung, Kultur und Verwaltung vor, sondern auch eine zügige Industrialisierung der Unionsrepublik. Die Gründung neuer Automobilgiganten sorgte für ein rasantes Wachstum von Minsk und anderen belarussischen Städten und schuf die Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.  

Bei der Unterdrückung des nationalen Selbstbewusstseins in der belarussischen Gesellschaft spielte die zentralisierte Kaderpolitik Moskaus eine wichtige Rolle, bei der alle wichtigen Ämter ausschließlich mit „von oben geprüften“ Beamten besetzt wurden. Die so genannte Partisanenelite, mit der man Namen wie Kirill Masurow und Pjotr Mascherow assoziierte, wurde Ende der 1970er durch Vertreter der Großindustrie ersetzt, für die die nationalen Besonderheiten der Belarussen eher ein Relikt aus der Vergangenheit waren als das geistige Fundament eines Volkes mit langen europäischen Traditionen.

Einer besonders gründlichen Kontrolle durch den sowjetischen Ideologieapparat waren historische Forschungen und der Geschichtsunterricht über Belarus unterworfen. Zur Geschichte der belarussischen Gebiete bis 1917 wurde praktisch geschwiegen, während die Zeit des Großfürstentums Litauen und die Rzeczpospolita als Belagerung des belarussischen Volkes dargestellt wurden, das immer von einer Wiedervereinigung mit Moskau träumte.  

3. Allen Hindernissen zum Trotz wurde Belarus jedoch zu einem souveränen Staat. Wie war das möglich?

Wie bereits erwähnt, trugen zur Erlangung der belarussischen Unabhängigkeit äußere Umstände bei. Zugleich können äußere Umstände keine ernsthaften Veränderungen in einem Land herbeiführen, wenn nicht auch die nötigen inneren Faktoren vorliegen. Das große Glück der Belarussen war, dass sie durch ihre ganze Geschichte hindurch immer über eine kleine, aber sehr motivierte, national orientierte Elite verfügten. Diese Leute fanden zur richtigen Zeit und im richtigen Moment das Potenzial und die Möglichkeit, der Gesellschaft einen nationalen Handlungsplan anzubieten. So geschehen in den Jahren 1905 bis 1917 sowie in der Zeit der ersten Belarussifizierung in den 1920er Jahren. 1990 und 1991 gelang es den spärlichen national-demokratischen Kräften, vertreten vor allem durch die Belarussische Volksfront unter der Führung von Senon Posnjak, durch das amorphe, konservative belarussische Parlament – den Obersten Sowjet der XII. Legislaturperiode (1990–1995) –, äußerst wichtige Beschlüsse durchzuboxen, die für Belarus den Weg zur staatlichen Souveränität ebneten und die Bedingungen für Demokratisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Reformen schufen.  

Aktive Unterstützung bekamen die Demokratisierungsprozesse in Belarus durch die kreative Intelligenzija, durch Bildungspersonal, Kulturschaffende und Unternehmer. Auch in anderen Bevölkerungsschichten fand die Idee der Wiedergeburt der belarussischen Nation Anklang. Der staatlichen Bürokratie hingegen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums bestehen blieb, waren Nationalisierungs- und Demokratisierungsentwicklungen größtenteils fremd.

4. Hätte Belarus eine Chance auf eine weitere Demokratisierung gehabt?

Die Anhänger des Wandels in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten, wenn auch eine geringe, so doch eine Chance, dem Autoritarismus Einhalt zu gebieten. Eine verpasste Gelegenheit war laut Experten der Verzicht einiger demokratischer Abgeordneter auf außerordentliche Parlamentswahlen, bei denen aktivere und stärker national orientierte Vertreter der Gesellschaft hätten gewählt werden können. Der Oberste Sowjet der XII. Legislaturperiode wurde 1990 gebildet, als die UdSSR noch existierte und die Kommunistische Partei dominierte, weswegen darin vor allem Anhänger der alten Staatsmacht vertreten waren. 

Im März 1994 verabschiedete der Oberste Sowjet eine Verfassung, die eine starke Position des Präsidenten in Belarus vorsah, die angesichts der schwach entwickelten politischen Kultur in der Bevölkerung und unreifer demokratischer Institutionen der Diktatur Tür und Tor öffnete. Die Praxis zeigt anschaulich, dass Länder mit einer parlamentarischen Regierung über eine starke Widerstandsfähigkeit gegen Autoritarismus verfügen. Meiner Meinung nach hat Belarus in der Zeit der parlamentarischen Republik nicht ausreichend materielle und moralische Unterstützung durch demokratische Staaten erfahren, die den jungen Staat damals vor allem als traditionelle „Einflusssphäre“ der Russischen Föderation wahrnahmen. 

5. Warum konnte Alexander Lukaschenko nicht nur die demokratischen Kandidaten besiegen, sondern auch Vertreter der „Regierungspartei“?

Der Zerfall der UdSSR führte zum Untergang des streng zentralisierten Wirtschaftssystems, die engen Handels- und Produktionsbeziehungen zwischen den Unionsrepubliken rissen ab. Belarus erlebte ein drastisches Waren- und Dienstleistungsdefizit, die Inflation stieg rasant, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftskrise wurde von einer nomenklatorischen Privatisierung begleitet, das heißt, die attraktivsten Objekte aus dem Staatseigentum gingen in den Besitz von Beamten und ihren Verwandten über. Diese negativen Phänomene brachte der Großteil der Bevölkerung mit zwiespältigen Demokratisierungsprozessen in Verbindung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurden Demokratisierungsprozesse fortan nicht mit einer höheren Lebensqualität assoziiert, sondern eher umgekehrt, man sah in der Demokratisierung die Hauptgründe für die Wirtschaftskrise, für verstärkte Bürokratie und die wachsende Korruption.

6. Wozu führte die Krise am Ende?

Die Krise ließ in der Mehrheit der Gesellschaft den Ruf nach einer „starken Hand“ in Person des Präsidenten laut werden. Das belarussische Volk hatte keine Erfahrung mit den Bedingungen einer stabilen Demokratie und war sehr anfällig für Populismus. 

Den Schmerz der Bevölkerung über den Verlust der sowjetischen Vergangenheit und ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen wurde von einer Gruppierung um den ehrgeizigen Alexander Lukaschenko geschickt aufgegriffen, indem sie sowohl die offizielle Regierung als auch die demokratischen Kandidaten scharf kritisierte. Anstelle eines konkreten, stichhaltigen Wahlprogramms wartete der Populist mit dem Slogan „Zurück in die UdSSR“ auf, der ihm mit 80,34 Prozent  der Stimmen einen klaren Sieg einbrachte.    

7. Die belarussische Bevölkerung wählte Lukaschenko nicht nur, sondern unterstützte auch seinen Kurs der Rücknahme der Belarussifizierung. Wie kam es dazu?

Im Vergleich zu anderen postsowjetischen autoritären Herrschern geht von Lukaschenko eine zusätzliche Gefahr aus, indem seine Politik auf die Zerstörung der national-kulturellen Grundlagen des belarussischen Staates abzielt. Eine seiner ersten Initiativen war eine Volksabstimmung im Mai 1995, bei der nebst drei anderen diese Frage gestellt wurde: „Sind Sie einverstanden damit, dass der Status der russischen Sprache jenem der belarussischen angeglichen wird?“ [das Belarussische war 1991 in den Rang der alleinigen Staatssprache erhoben worden – Anm. der Red.] 83,3 Prozent der Befragten stimmten der Initiative des Staatsoberhaupts zu. Die Mehrheit (75,1 Prozent ) war auch für die Änderung der Nationalsymbolik und eine stärkere Anbindung an Russland (83,3  Prozent).

Obwohl die Mehrheit der Lukaschenko-Anhänger belarussischer Abstammung war, stellte die belarussische Sprache keinen hohen Wert für sie dar. Viele Landbewohner waren in die russischsprachigen Städte gezogen und hatten möglichst schnell den Stempel des „Kolchosbauern“ und „Dörflers“ loswerden wollen und versucht, Russisch zu sprechen. Viele ehemalige Landbewohner konnten sich jedoch die typische belarussische Aussprache und die gemischte Lexik nicht abgewöhnen und sprachen Trassjanka. Als dann Anfang der 1990er die aktive Belarussifizierung begann, verspürten sie keine Motivation, zur belarussischen Sprache zurückzukehren, weil das ihre langjährigen Bemühungen, sich einer russischsprachigen Umgebung anzupassen, zunichte gemacht und wieder Aufwand bedeutet hätte. 

Man muss betonen, dass Lukaschenkos populistischen Kurs auch viele demokratisch gestimmte Wähler unterstützten, die sich in der ersten Zeit von ihm weismachen ließen, dass die Zweisprachigkeit nicht zu einer Benachteiligung der belarussischen Sprache, sondern zur Demokratisierung der Sprachenpolitik führen würde. 

8. Welche Rolle spielten demokratische Errungenschaften aus der parlamentarischen Zeit für die weitere Entwicklung von Belarus?

Im November 1996 etablierte Lukaschenko im Zuge einer sogenannten Volksabstimmung, die genau genommen ein Staatsstreich war, eine personengebundene Diktatur. In Belarus wurde ein politischer Kurs eingeschlagen, der ein Erlahmen aller wichtigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Gleichzeitig leistete die belarussische Gesellschaft, gestützt auf demokratische Errungenschaften aus der Zeit der parlamentarischen Republik und auf die Hilfe demokratischer Länder, relativ erfolgreich Widerstand gegen die Konsolidierung des Autoritarismus und sein Abgleiten in Richtung Totalitarismus. Dieser Widerstand fand sowohl in der Politik als auch in Wirtschaft, Bildung und Kultur statt. So schritt trotz der Abneigung des Regenten gegen die Privatwirtschaft ein langsamer, aber stetiger Ausbau der Klein- und Mittelbetriebe voran, es wurden weiterhin moderne Technologien aus wirtschaftlich entwickelten Ländern importiert, und aus dem Ausland kam beachtliche humanitäre und technische Hilfe herein.           

Als jedoch 2020 die Balance, die zwischen der bröckelnden autoritären Gruppierung und der aufsteigenden belarussischen Gesellschaft bestand, in rasendem Tempo zerstört wurde, musste die Diktatur, um ihr Fortbestehen zu sichern, zu totalitären Methoden greifen.   

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Viktor Schadurski
Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Altenhofer
Veröffentlicht am 26.01.2023

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Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik

In der europäischen Geschichte vollzog sich der Prozess der Nationalstaatsbildung primär im Zeitraum zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ersten Weltkrieg 1914. Das nationale Projekt der Belarus trat hingegen mit gehöriger Verspätung auf die politische Bühne: Es begann mit der Ausrufung einer kurzlebigen Belarusischen Volksrepublik (BNR) im Jahre 1918 und kam mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus im Jahre 1991 zum Abschluss. Dazwischen lagen rund 70 Jahre der Zugehörigkeit zur Sowjetunion, welche die belarusische Gesellschaft nachhaltig prägten. Im Hinblick auf die gegenläufigen Prozesse der Belarusifizierung in der Zwischenkriegszeit und der Russifierung in der Nachkriegszeit lässt sich von einer Zweiteilung der sowjetisch-belarusischen Epoche sprechen, vielleicht sogar von einer Unterscheidung in eine „Belarusische“ und eine „Belorussische“ Sowjetrepublik. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Metamorphosen aufzuzeigen, welche die Belarus im Laufe des 20. Jahrhunderts im Eiltempo vollzog.

Die Gründung einer kommunistischen Republik auf dem Gebiet der Belarus erfolgte unter turbulenten Bedingungen. Nachdem die deutschen Truppen infolge der Novemberrevolution die westlichen Gebiete der Belarus verlassen hatten, rückte die Rote Armee vor und zwang die Rada (dt. Rat), das Leitungsorgan der Belarusischen Volksrepublik (BNR), Anfang 1919 ins Exil. Inmitten des anschließenden Polnisch-Sowjetischen Krieges und des andauernden russischen Bürgerkrieges kam es in der Folge zweimal, zunächst am 1. Januar 1919 in Smolensk und dann am 31. Juli 1920 in Minsk, zur Ausrufung einer Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus (SSRB). In der Zwischenzeit existierte von Ende Februar bis Mitte Juli 1919 außerdem eine Belarusisch-Litauische Sowjetrepublik (LitBel). Im Frieden von Riga musste Sowjetrussland 1921 schließlich mit dem Wilnagebiet, dem westlichen Polesien, mit Wolhynien sowie Galizien und den beiden Städten Grodno (belarusisch: Hrodna) und Brest die westlichen Landesteile des ehemaligen Zarenreichs abtreten. Sie bildeten von nun an die „östlichen Gebiete“ der Zweiten Polnischen Republik, deren Grenze bis 30 Kilometer an die belarusische Hauptstadt Minsk heranreichte. Bei der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 bestand die Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) daher zunächst nur aus einem unscheinbar kleinen Gebiet um die Hauptstadt Minsk.

 

Belarusische Karikatur in Antwort auf den Vertrag von Riga, 1921. Beschriftung: „Nieder mit der schandhaften Teilung von Riga. Lang lebe die freie, unteilbare, bäuerliche Belarus!“ / Illustration © Public domain

Territorialisierung und Sowjetisierung

Dies änderte sich in den Jahren 1924 bis 1926, als sich die Fläche der BSSR auf Kosten der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) mit der Angliederung der Gebiete um Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow) verdoppelte. Damit kristallisierte sich aber auch der künstliche Charakter der belarusischen Staatsbildung heraus. Normalerweise stiften Nationalbewegungen ein Gemeinschaftsgefühl, das auf ethnischen oder sprachlichen Kriterien beruht. Erst danach beginnen sie, die geografischen und politischen Grenzen abzustecken. Im belarusischen Fall war es genau umgekehrt. Für die belarusischen Bauern, die als „Hiesige“ (tuteischyja) nicht daran gewöhnt waren, über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszublicken, wurde erst ein Gebiet definiert und dann eine Identität imaginiert. Zum Abschluss gelangte der Prozess der Territorialisierung durch die im Hitler-Stalin-Pakt festgelegte Vereinigung der BSSR mit den „polnischen Ostgebieten“, die eine abermalige Verdoppelung der Fläche bedeutete.

Die Konsolidierung der BSSR verlief bis zum Zweiten Weltkrieg ganz im Zeichen einer zunehmenden Sowjetisierung. Dabei bildeten die 1920er Jahre zunächst eine Phase der sprachlichen Belarusifzierung und des kulturellen Pluralismus. So entsprach etwa die Gründung des Instituts für Belarusische Kultur 1921 der sowjetischen Politik der Indigenisierung (korenisazija), die auf die Einbindung der Eliten in das System von Staat und Partei abzielte. Dazu zählte auch die Kodifizierung der belarusischen Sprache, die 1918 mit der Grammatik Branislau Taraschkewitschs, der sogenannten Taraschkewiza, einsetzte.1 Jenseits der Religion öffneten sich auch Freiräume für die jüdische Kultur. Ein Ausdruck der belarusisch-russisch-polnisch-jiddischen Mehrsprachigkeit war die Inschrift „Minsk“, die in vier Sprachen und drei Alphabeten am Bahnhof der Hauptstadt prangte.2

 

Inschrift des Namens der Hauptstadt in vier Sprachen am Bahnhofsgebäude in Minsk, Zwischenkriegszeit / Foto © Public domain

Allerdings führte der Stalinismus an der Schwelle von den 1920er zu den 1930er Jahren zu einer Trendwende, aus der ‚belarusischen‘ wurde in en folgenden Jahren zunehmend eine ‚belorussische‘ Sowjetrepublik. So folgte auf die Belarusifizierung eine Phase des Sowjetpatriotismus, in der die Taraschkewiza von der Narkamauka abgelöst wurde. Auch in der BSSR wurden sogenannte Kulaken verfolgt und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Maßnahmen wurden allerdings langsamer und moderater durchgeführt als andernorts, da die Belarus nicht zu den fruchtbaren Schwarzerderegionen gehörte.3 Dem Großen Terror fielen schließlich zahlreiche Angehörige der Intelligenzija zum Opfer, die als nationale Trägerschicht verfolgt wurde. Zu den Zeugnissen jener Jahre zählt die Erschießungsstelle Kuropaty am östlichen Stadtrand von Minsk.

Als Folge der deutschen Besatzung der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945 waren auf dem Territorium der BSSR rund zwei Millionen zivile Opfer zu beklagen – insgesamt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Dabei waren etwa 600.000 der Ermordeten Juden, womit die BSSR zu einem der wichtigsten Schauplätze des Holocaust geriet. Doch ungeachtet der enormen Bevölkerungsverluste ging die Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg als eine Siegermacht hervor, die ihre territoriale Verschiebung nach Westen im Protokoll von Jalta und im Potsdamer Abkommen im Februar und August 1945 legitimieren konnte. Im gleichen Monat wurde in einem separaten sowjetisch-polnischen Abkommen auch die endgültige Westgrenze der BSSR festgelegt. Die ehemaligen polnischen Ostgebiete wurden in der Folge sowjetisiert, wozu auch ein 1944 mit der Volksrepublik Polen aufgenommener Bevölkerungsaustausch beitrug.4

 

Karte der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1946. Die ockerfarbenen Regionen waren inklusive Białystok von 1921 bis 1939 Teil der Zweiten Polnischen Republik. Unter deutscher Besatzung gehörte die von einer belarusischen Minderheit besiedelte und grün markierte Gegend um Białystok der Zivilverwaltung an. Nach dem polnisch-sowjetischen Abkommen von 1945 verblieb Białystok in der Volksrepublik Polen / Karte © Public domain

Industrialisierung und Urbanisierung

Abgesehen von diesem außenpolitischen Akzent stand die Entwicklung der BSSR in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts. Phasenverschoben zur Gesamtentwicklung der Sowjetunion setzte die Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten BSSR erst nach 1945 ein.5 Fortan wurden alle Ressourcen auf die Hauptstadt Minsk konzentriert, die somit eine Sogwirkung entfaltete. 1947/48 wurden dort ein Traktorenwerk und ein Lastkraftwagenwerk errichtet, die jeweils unionsweite Bedeutung hatten.

Jedoch wirkte sich der Fortschrittsoptimismus der belarusischen Parteiführung im Hinblick auf die Beherrschung der Natur in mancherlei Hinsicht kontraproduktiv aus. In der am Prypjat-Fluss gelegenen Landschaft Polesien wurde – als Pendant zu der in den 1960er Jahren auf ukrainischer Seite errichteten Atomindustrie – eine Trockenlegung der Sümpfe betrieben. Diese führte jedoch zu einer Versandung von weiten Arealen und trug damit zum Aussterben der Dörfer bei. Sowjetischerseits wurde dafür bezeichnenderweise der Ausdruck „Auswaschen“ (wymywanije) geprägt. Gemeint war die Landflucht junger Fachkräfte, die über Bildungsanstalten und Arbeitsstätten einen dauerhaften Verbleib in den Städten anstrebten.

Die demografische Konsolidierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich bis in die 1970er Jahre hin. 1970 wurde mit einer Bevölkerungszahl von 9,1 Millionen der Stand der Gesamtbevölkerung der östlichen und der westlichen Landeshälften vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht, wobei die Einbußen durch die Arbeitsmigration nach Sibirien und Zentralasien auch in Betracht gezogen werden müssen.

Unter dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der belarusischen Kommunistischen Partei, Pjotr Mascherow, entwickelte sich die BSSR ab 1965 nicht nur zu einer Musterrepublik, die wirtschaftlich schwarze Zahlen schrieb. Sie trat mit Blick auf den historischen Sieg über den Nationalsozialismus unter dem Slogan der Partisanenrepublik auch selbstbewusst gegenüber dem Kreml auf – womit sie in Konflikt mit einigen Angehörigen der Moskauer Nomenklatura geriet. Diese fürchteten einerseits das Emanzipationsstreben der belarusischen Partisanenfraktion in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und damit einen eigenen Machtverlust, andererseits warfen sie der BSSR den Umstand der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg vor.6 Dass Minsk erst 1974 mit dem prestigeträchtigen Ehrentitel einer „Heldenstadt“ ausgezeichnet wurde, war Ausdruck dieser Spannungen. Widerstände im Kreml trugen dazu bei, dass sich Leonid Breshnew nur verspätet 1978 bereit erklärte, den entsprechenden offiziellen Festakt in Minsk zu vollziehen.

Im gleichen Jahr wurde in der BSSR auch der Verstädterungsgrad von 50 Prozent überschritten, was den Wandel vom Agrarland zum Industriestaat dokumentierte. Kehrseite dieses Sprungs nach vorn war die Preisgabe der Landessprache. Zwar wurde bildungspolitisch auf Zweisprachigkeit gesetzt, doch bevorzugten die von der sowjetischen Moderne profitierenden Eltern das Russische als Unterrichtssprache für ihre Kinder. In den 1970er Jahren verschwanden die belarusischsprachigen Schulen aus den Städten. Gleichzeitig hatten die Landflucht und die Anpassung bäuerlicher Schichten an urbane Milieus das Phänomen der „gemischten Sprache“ hervorgebracht, ein Mischmasch aus Heu und Stroh oder eben aus Belarusisch und Russisch.7

 

Vorrevolutionäre Gehöfte und die in den 1930er Jahren erbaute Akademie für Körperkultur am Jakub-Kolas-Platz, Minsk 1952 / Foto © BGAKFFD, 0-118044

Hiesige und Sowjetmenschen

Im Unterschied zur übrigen Sowjetunion konnte in der BSSR nicht von einem gesellschaftlichen Stillstand während der Breshnew-Ära die Rede sein. Die Republik befand sich weiterhin in einem Prozess der nachholenden Modernisierung. Gerade deswegen wurde sie von der wirtschaftlichen Rezession, die die Perestroika der 1980er Jahre mit sich brachte, umso härter getroffen. Außerdem zog der radioaktive Niederschlag des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April 1986 ein Viertel des Territoriums der BSSR in Mitleidenschaft. Zwei Jahre später wurden in der Zeitschrift Literatura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) schließlich die stalinistischen Massenerschießungen im Wald Kuropaty am Stadtrand von Minsk bekannt gemacht, was breite Debatten auslöste. Einer der Verfasser des Textes war der Archäologe Sjanon Pasnjak, ein führender Akteur der sich neu formierenden belarusischen Nationalbewegung. Als Konsequenz dieser Enthüllungen erfolgte im Juni 1988 die Gründung der Belarusischen Volksfront (BNF), die sich hinter die weiß-rot-weiße Flagge der Belarusischen Volksrepublik von 1918 stellte. Bereits im Dezember 1986 und Juni 1987 hatten erst 28 und dann noch einmal 134 prominente belarusische Intellektuelle in einem offenen Brief an Gorbatschow den Verlust der belarusischen Sprache im Zuge der kulturellen Russifizierung beklagt. Im Hinblick auf Kuropaty und Tschernobyl sprachen radikalere Stimmen sogar von einem sowjetischen Genozid am belarusischen Volk.8

Ungeachtet dessen erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus am 25. August 1991 im Nachgang zu entsprechenden Verlautbarungen anderer Sowjetrepubliken eher beiläufig. Von einer weit um sich greifenden belarusischen Identität konnte zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht die Rede sein. Für die Belarusen war das 20. Jahrhundert sowohl ein Zeitalter der Staatsbildung und Territorialisierung als auch ein Zeitalter der demografischen Katastrophen, der nachholenden Industrialisierung und der Urbanisierung. Diese Entwicklungen, die durch den Katalysator des Zweiten Weltkriegs noch beschleunigt wurden, hatten für eine Metarmorphose gesorgt: Aus den in ihren dörflichen Welten verhafteten Hiesigen waren urbane Sowjetmenschen geworden, die sich vom Lebensstil der sozialistischen Moderne überzeugen ließen. Die rapiden Transformationen der belarusisch-sowjetischen Epoche waren also keinesfalls von einem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft begleitet. Im Gegenteil: Der sowjetische Fortschrittsglaube und die sowjetische Parteiöffentlichkeit hatten nicht nur dafür gesorgt, dass die Belarusinnen und Belarusen ihre Nationalsprache aufgaben. Neben der Marginalisierung des jüdischen Erbes ist bis in die Gegenwart auch ein Defizit an Arbeiterbewegung und bürgerlicher Kultur als historische Hypothek zu beklagen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen:
Bohn, Thomas M. (2008): Minsk – Musterstadt des Sozialismus: Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln
Brakel, Alexander (2009): Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn
Einax, Rayk (2014): Entstalinisierung auf Weißrussisch: Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953–1965, Wiesbaden
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg
Kouida, Artem (2019): Melioration im Belarussischen Polesien: Die Modernisierung der sowjetischen Peripherie (1965–1991), Wiesbaden

1.Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906–1931, Pittsburgh 
2.Bemporad, Elissa (2013): Becoming Soviet Jews: The Bolshevik Experiment in Minsk, Bloomington 
3.Siebert, Diana (1998): Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921–1941), Stuttgart 
4.Ruchniewicz, Małgorzata (2015): Das Ende der Bauernwelt: Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953, Göttingen 
5.Kashtalian, Iryna (2016): The Repressive Factors of the USSR’s Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944–1953), Wiesbaden 
6.Urban, Michael E. (1989): An Algebra of Soviet Power: Elite Circulation in the Belorussian Republic 1966–1986. Cambridge/New York 
7.Hentschel, Gerd (2014, Hrsg.): Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede: Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Frankfurt am Main 
8.Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus (1968–1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden 
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