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„Wir haben einen hybriden Krieg“

Dimitri Trenin leitet das Moskauer Zentrum des US-amerikanischen Carnegie Endowment for International Peace, das als einer der einflussreichsten Thinktanks der Welt gilt. Dabei teilt Trenin nicht alle klassischen Positionen des liberalen Diskurses in Russland. 

Im Interview mit der Novaya Gazeta spricht der renommierte Politologe sehr kritisch über die russischen Beziehungen zum Westen im Allgemeinen und zu den USA im Besonderen. Und darüber, was das alles noch mit dem Kalten Krieg zu tun hat.

Источник Novaya Gazeta

Andrej Lipski: Die Beziehungen zu den USA sind immer die reinste Achterbahnfahrt: Mal geht es hoch in die Luft, mal steil bergab. Wenn wir die derzeitige Krise vergleichen wollen, stellt sich die Frage, wodurch sie sich von anderen Einbrüchen in den Beziehungen unterscheidet, insbesondere von dem während der Blockkonfrontation, im Kalten Krieg.

Dimitri Trenin: Erstens denke ich nicht, dass das eine Krise ist. Meiner Ansicht nach war die Krise ungefähr Anfang 2015 vorbei. Eine Krise ist ja ein zeitlich recht begrenzter Zustand, ein Bruch, ein Übergang von einem Zustand in einen anderen.

Bis 2014 gab es einen Zustand, bei dem die Zusammenarbeit mit dem Westen überwog. Sie verschlechterte sich, war nicht besonders eng, aber es gab sie immerhin.

Seit 2014 – und bis 2015 hatte sich das endgültig verfestigt – gibt es überwiegend Rivalität und Feindschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika, bei einer gleichzeitigen Entfremdung von Europa.

Ich bezeichne den jetzigen Zustand als „hybriden Krieg“. Ende Februar 2014, als ich die Folgen der russischen Operation auf der Krim im Gefolge der Ereignisse in Kiew, nach dem Maidan und dem Machtwechsel einzuordnen versuchte, da hatte ich den Begriff „neuer Kalter Krieg“ verwendet. Den habe ich aber bald fallengelassen und stattdessen von einem hybriden Krieg gesprochen, einfach, um diesen weit verbreiteten Terminus zu verwenden. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es sich um eine Konfrontation handelt, die zwar auf dem gleichen Niveau und für Russland mit der gleichen Relevanz wie der Kalte Krieg besteht (das Wort „Krieg“ ist präsent, auch wenn mich viele deswegen kritisiert haben), aber dennoch eine andere ist.

Erst hatte ich den Begriff neuer Kalter Krieg verwendet. Jetzt spreche ich von einem hybriden Krieg

Wenn wir jetzt von einem „neuen Kalten Krieg“ sprächen, würden wir gewissermaßen eine Wiederholung dessen erwarten, was sich in den 1940er bis in die 1980er Jahre abspielte. Die Welt hat sich jedoch geändert, und es wird keine Wiederholung geben; wir würden dadurch unsere Orientierung verlieren. Und würden jene neuen Dinge außer Acht lassen, die geschehen und geschehen werden und die es in den Zeiten des Kalten Krieges nicht gegeben hat. Das würde uns auf der intellektuellen Ebene entwaffnen.

Und worin unterscheidet sich die derzeitige Konfrontation vom Kalten Krieg?

In vielem. Erstens ist es kein systembildendes Phänomen. Ein solches ist der Kalte Krieg aber für das gesamte System der internationalen Beziehungen gewesen. Der derzeitige amerikanisch-russische hybride Krieg ist von großer Bedeutung, ist aber nicht zentral für die internationalen Beziehungen als Ganzes. Und zweitens handelt es sich um einen höchst asymmetrischen Krieg. Die UdSSR war den USA militärisch, politisch und ideologisch und sogar zum Teil ökonomisch gewissermaßen ebenbürtig. Heute aber hinkt Russland den Vereinigten Staaten bei den meisten Parametern nationaler Stärke hinterher.

Der Kalte Krieg war etwas Statisches. Die Welt war geteilt. Es existierte ein Eiserner Vorhang, es gab die Berliner Mauer … Der derzeitige hybride Krieg wird unter den Bedingungen der Globalisierung geführt, und er läuft am aktivsten in Sphären, die allen zugänglich sind. 

Der Krieg damals war zweidimensional – jetzt befinden wir uns in 3D

Angefangen bei der Wirtschaft, wo die Sanktionen wirken, über die Medien, wo ein harter Informationskrieg geführt wird, bis hin zum Cyberbereich … Und so weiter und so fort. 
Wenn der Krieg damals zweidimensional war, so befinden wir uns jetzt in 3D. Es gibt keine Frontlinie, keine klare Abgrenzung zwischen dem eigenen Territorium und dem des Gegners. Es gibt noch eine Reihe weiterer Besonderheiten. Das Militärische ist präsent, aber nicht dominierend. Es gibt einen Rüstungswettlauf, der steht aber nicht im Zentrum. Und ich sage es noch einmal:

Russland hat in diesem Krieg keinen einzigen Verbündeten, nicht einmal unter seinen engsten Partnern. Niemand hat sich Russland angeschlossen. Und es wird sich auch niemand anschließen, solange Russland auf der Gegenseite nicht nur mit den Vereinigten Staaten Probleme hat, mit denen es sich in einer direkten Konfrontation befindet, sondern auch mit den Ländern Europas, die meiner Ansicht nach im Großen und Ganzen nicht in Konfrontation zu Russland stehen.

Während des klassischen Kalten Krieges und insbesondere während der Kubakrise hat die Angst vor einer Atomkatastrophe von einem Krieg abgehalten. Danach verflüchtigte sich diese Angst allmählich. Perestroika, Reykjavík, das „neue Denken“, der Zusammenbruch des Kommunismus, der Zerfall der UdSSR, des Warschauer Paktes, das Ende der Konfrontation, des Kalten Krieges. Man konnte sich entspannen und die Rüstungsausgaben senken. 

Die Gesellschaft zitterte nicht mehr vor Angst und glaubte nicht mehr an die Bedrohung durch einen langjährigen potenziellen Feind. Besteht nicht genau darin paradoxerweise die neue Gefahr, wenn sich die Konfrontation wiederum verschärft?

Natürlich war der Kalte Krieg sehr viel gefährlicher für die menschliche Existenz als die Zeit jetzt. Seinerzeit gab es nicht nur ein Gefühl von Gefahr, sondern echte Gefahr. Ein massiver Atomschlag galt als durchaus real. Und wie wir wissen, gab es im Laufe des Kalten Krieges einige Fälle, bei denen der Finger über dem roten Knopf schwebte, weil die Geräte zeigten, dass es losgeht, oder weil sie irgendwas zeigten, was als massiver Raketenschlag gewertet werden konnte.

Aber ich stimme in der Tat zu, dass die fehlende Angst vor einem realen Atomschlag die Illusion entstehen lässt, man könne militärische Gewalt einsetzen und gleichzeitig eine Eskalation im Sinne einer atomaren Auseinandersetzung ausschließen. 

"Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle." – Putin und Trump beim G20-Gipfel in Hamburg © kremlin.ru

Meiner Ansicht nach standen wir 2016 in Syrien ziemlich dicht vor der Aussicht auf einen russisch-amerikanischen Krieg, als Hillary Clinton und ihre Berater im Wahlkampf verkündeten, sie werde, falls sie Präsidentin werde, über Syrien eine Flugverbotszone ausrufen. Was eine Flugverbotszone bedeutet, haben wir nach Libyen sehr wohl verstanden. Dann hätte die russische Führung – die zu diesem Zeitpunkt in Syrien schon über Streitkräfte verfügte, einschließlich einer Luftwaffenkomponente – vor der Wahl gestanden, sich entweder aus Syrien zurückzuziehen und die Amerikaner dort nicht zu stören oder die Flugverbotszone zu verletzen und mit den Amerikanern in bewaffneten Kontakt zu geraten. Wenn ich das richtig verstehe, waren Hillary Clinton und die Leute an ihrer Seite durchaus entschlossen. Und wenn die Vorschläge von Frau Clinton umgesetzt worden wären, hätten sie den Weg zum ersten russisch-amerikanischen Krieg geebnet.

Es ist eine Illusion, dass eine atomare Eskalation ausgeschlossen ist

Es gibt noch andere Bereiche, in denen wir mit den Amerikanern aneinandergeraten könnten: Ich meine heftige Cyberattacken. Nicht das, was wir bisher gesehen haben, sondern beispielsweise, eine ganze Stadt, die lahmgelegt wird, oder ein großes Kraftwerk wird abgeschaltet, oder sonst was, was als feindseliger Akt eines anderen Staates gewertet werden könnte. Es kann zu Zwischenfällen mit Flugzeugen oder Kriegsschiffen kommen, vielleicht über dem Baltikum, vielleicht über dem Schwarzen Meer, wo es ja schon vorkam, dass man dicht aufeinander zuflog oder -navigierte. Die Möglichkeit von Zusammenstößen besteht also, und sie muss ernstgenommen werden.

Es gibt recht viele unterschiedliche Erklärungen für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und den Staaten. Viele von ihnen sind oberflächlich, nicht überzeugend, einige sogar lächerlich. Wahrscheinlich gibt es wohl fundamentale Gründe für die Widersprüche zwischen unseren Ländern. Versuchen wir also, auf den Grund vorzustoßen, wie die Archäologen sagen.

Beschreiben würde ich das so: Nach jedem großen Konflikt, in jedem Krieg – und der Kalte Krieg war ein großer Konflikt und einem Krieg gleichzusetzen – gibt es Sieger und Besiegte. Wenn wir den Kalten Krieg aus geopolitischer Perspektive betrachten, so haben die Vereinigten Staaten und deren Verbündete gesiegt, und die Sowjetunion oder Russland, das seinerzeit Sowjetunion hieß, hat ihn verloren. Außerdem hat Russland eine sehr schmerzhafte Transformation durchgemacht, nachdem es den Kommunismus abgeschüttelt hatte. 

Nach jedem Krieg gibt es zwei grundlegende Optionen. Entweder organisiert die siegreiche Seite auf den Ruinen des Krieges den Frieden auf eine Weise, dass die unterlegene Seite zu akzeptablen Bedingungen in ein neues System eingebunden wird. Das ist die eine Option.

Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt

Die andere besteht darin, das besiegte Land außerhalb des [neuen] Systems zu belassen und es zu zwingen, den bitteren Kelch des Unterlegenen zu leeren, wie es beispielsweise Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erging.

Ich will nicht sagen, dass der Westen Russland nach dem Ende des Kalten Krieges gezwungen hätte, diesen bitteren Kelch zu leeren. Aber Russland musste die Folgen seiner geopolitischen Niederlage anerkennen. Und den Umstand, dass die Welt im Großen und Ganzen nicht unbedingt unter Berücksichtigung von Russlands Meinung eingerichtet wird, dass Russland nicht zu den Bedingungen in das neue Sicherheitssystem in Europa einbezogen wird, die es für sich als akzeptabel erachtet. Der Westen hat die Interessen Russlands nicht berücksichtigt.

Nehmen wir einmal an, die Vereinigten Staaten hätten Russland in die NATO aufgenommen, wie das Jelzin wollte und wie Putin es anfänglich versuchte. Was wäre geschehen? Herausgekommen wäre eine ziemlich fragmentierte euroatlantische Welt, in der den USA vorgeschlagen worden wäre, auf einem Spielbrett mit den führenden EU-Staaten zu agieren – und diese drei führenden Staaten wiederum hätten ein Triumvirat Berlin – Paris – Moskau bilden können gegen oder sagen wir neben dem Bund Washington – London.

Dimitri Trenin / © Svetlana TB/CC BY-SA 4.0Russland hätte, so denke ich, seine Lage ein paar Jahre lang genossen, es hätte angenommen, dass es das zweitmächtigste und zweiteinflussreichste Land der NATO ist, so eine Art „Vizepräsident der euroatlantischen Allianz“. Doch recht bald schon hätte Russland größere Ansprüche erhoben – auf einen gemeinsamen Vorsitz. Und Russland hätte dann Koalitionen gesucht, um seine Positionen zu stärken, vor allem mit Ländern wie Deutschland oder Frankreich. 
Die Frage ist nun: Was wäre von der NATO unter solchen Bedingungen geblieben? Und wo wäre die amerikanische Führung geblieben, die amerikanische Vorherrschaft, und was hätten die Vereinigten Staaten durch eine Aufnahme Russlands in die NATO gewonnen?

Ausgehend vom Primat der Eigeninteressen der USA, vom Primat ihres nationalen Egoismus, können wir zu dem Schluss gelangen, dass die amerikanische Weigerung, Russland in die NATO aufzunehmen, kein Ergebnis strategischer Kurzsichtigkeit war, sondern das einer recht nüchternen Kalkulation der Folgen.

Und Putin hat das ernsthaft vorgeschlagen?

Ich denke, ja. Der Putin der frühen 2000er Jahre wollte ein Bündnis mit dem Westen, da habe ich keine Zweifel. Nur hat Putin in den fast zwei Jahrzehnten, die er an der Macht ist, eine ganz beträchtliche Evolution vollzogen, unter anderem im Bereich der Außenpolitik.

Um es also zusammenzufassen: Der jetzige Konflikt zwischen Russland und Amerika ist eine Folge dessen, dass nach dem vorangegangenen Konflikt keine Regelung gefunden wurde, die sowohl die unterlegene als auch die Siegerseite zufriedengestellt hätte. Wenn die Verliererseite, wie die Geschichte zeigt, stark genug ist, über genug Ressourcen verfügt und – das ist die Hauptsache – den nötigen Willen und die Bereitschaft hat, sich dem Gegner zu widersetzen, dann muss man nur eine Weile warten, bis der Konflikt erneut ausbricht.

In Russland akzeptieren die herrschende Schicht und die Gesellschaft keine Dominanz durch jemand anderen

Was haben die Amerikaner nicht bedacht? Sie haben nicht bedacht, dass Russland eines der wenigen Länder ist, in denen die herrschende Schicht und die Gesellschaft (aus einer Reihe von Gründen, über die wir lange reden können) ganz prinzipiell keine Dominanz durch jemand anderen akzeptieren. Und die bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen, um nicht zum Objekt dieser Dominanz zu werden.

Russland wiederum hat im Grunde den Platz, der ihm in der Welt nach dem Kalten Krieg angeboten wurde, aus einem ganz bestimmten Grund ausgeschlagen.

Die Eintrittskarte in das System schien recht günstig – es musste lediglich die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika ernsthaft anerkannt werden: Wenn ihr die anerkennt, dann werdet ihr ins Zimmer gelassen und dann, nun ja, da ist dann vieles möglich, aber ihr seid ein Teil unserer Welt.

Und in dieser Welt befanden und befinden sich jetzt die unterschiedlichsten Länder, die längst nicht alle Demokratien sind, die längst nicht alle in sämtlicher Hinsicht sauber sind. Doch sie alle aber befinden sich dort, weil sie das Primat der amerikanischen Führung anerkennen.

Russland hat versucht, auf irgendeine Art durch diese Tür zu kommen; einige russische Führungskräfte haben das erklärt und sind wohl persönlich bereit gewesen, etwas zu unternehmen, doch wurden sie von der Gesellschaft und der Elite zurückgezogen. 

Und Russland weigerte sich, eine amerikanische Führung anzuerkennen. Als das klar wurde, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann und unter welchen Bedingungen Russland mit den Vereinigten Staaten zusammenstoßen würde. Weil die USA prinzipiell und niemals eine Gleichstellung mit einem anderen Land akzeptieren, nicht einmal mit China, wenn Amerika im nach Dollar bemessenem Bruttoinlandsprodukt von ihm überholt werden sollte.

Unsere Propaganda wie auch Politiker sagen gern, dass die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen zu den USA unter Trump eine Folge der internen Widersprüche in der amerikanischen Elite sei. Und Trump – obwohl er bereit ist, sich mit uns zu arrangieren – sei genötigt, Härte zu zeigen, um die demokratischen Opponenten in Schach zu halten und den Verdacht eines Komplotts mit den Russen loszuwerden.
Wie stark wirkt dieser Faktor auf die Krise in unseren Beziehungen zu den USA?

In den USA ist die Innenpolitik das Allerwichtigste. Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik im Prinzip eine zweitrangige Rolle, da sie ausschließlich den internen Interessen Amerikas untergeordnet ist. Russland als solches gibt es für Amerikaner im Großen und Ganzen nicht. 

Die Sanktionen zeigen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt

Die Sanktionen belegen, dass Russland für die Vereinigten Staaten keinen Wert darstellt, deshalb werden alle Sanktionen so leicht akzeptiert. Wenn Russland einen Wert darstellen würde, wäre die Situation eine andere.

Und weil es für Trumps Gegner nichts Wichtigeres gibt, als ihn zu Fall zu bringen, wird Russland als Knüppel eingesetzt, solange Trump an der Macht ist. Wenn Trump geht, dann können wir uns ausmalen, sollte es einen demokratischen Präsidenten geben, dass dieser zumindest anfänglich eine sehr harte Position gegenüber Russland einnehmen wird. 

Bislang heißt es, dass Trump den Russen gegenüber zu milde sei, dass er, selbst wenn er all die Sanktionsgesetze und -erlasse unterzeichnet hat, in Wirklichkeit eine gewisse Warmherzigkeit gegenüber Russland empfinde. Und dass er sogar von Putin abhängig sei. Meiner Ansicht nach ist das völliger Schwachsinn, doch der findet bei jenen, die daran glauben, ein sehr großes Publikum. Deshalb denke ich, dass der Beginn der nächsten Präsidentschaft ebenfalls sehr schwer würde für die Beziehungen.

Und es gibt noch einen Faktor. Keiner der in der amerikanischen Innenpolitik profilierten führenden Politiker wird sich in der Kommunikation mit Putin sonderlich frei fühlen. Solange Putin an der Macht ist, wird es ganz erhebliche Vorbehalte auf amerikanischer Seite geben.

Ist Putin für die Amerikaner toxisch?

Genau. Sie fürchten ihn, und gleichzeitig hassen ihn viele. Die Dämonisierung Putins in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit macht jeden, der sich ihm zu sehr nähert, bereits zu einem potenziellen Verdächtigen.

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Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Dieses Datum verbindet sich mit dem Schlüsselereignis der dritten Amtsperiode von Wladimir Putin: der Annexion der Krim. An diesem Tag formalisierte Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation, der die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondertruppen und ein sogenanntes Referendum unter russischer Kontrolle vorangegangen waren. Auf der Krim setzte Putin einen im Detail vorbereiteten Plan um, für den sich im Kontext des ukrainischen Euromaidan – Massendemonstrationen, die zu einem Machtwechsel in Kiew führten und die Westorientierung der Ukraine bestärkten – die Gelegenheit ergab. 

Die militärische Aktion und Russlands Verletzung des Völkerrechts, das von der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates ausgeht, überraschten nicht nur die westliche Politik, sondern auch die Bevölkerung der Krim und Russlands. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Dieses Sanktionsregime ist im Zuge des Krieges in der Ostukraine noch verstärkt worden. 

Dieser Krieg, in dem Russland lokale Separatisten im Donbass unterstützt, hat die Krimthematik zunehmend überschattet. Auch wenn die offizielle Politik westlicher Staaten weiterhin auf der Nichtanerkennung der Annexion der Krim beruht, so geht dies einher mit der Einschätzung, dass sich am derzeitigen Status quo in nächster Zeit wenig ändern wird. Diese Haltung lässt das Thema somit nicht zur Priorität werden. 

Dieser politische Kontext ist ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, warum im Rückblick die Konturen der Ereignisse von 2014 verschwimmen und auch in der deutschen Berichterstattung und Öffentlichkeit bedenkliche Schlussfolgerungen möglich sind. Die Krim-Annexion war, anders als mitunter behauptet, nicht das Resultat einer Mobilisierung der Krim-Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, und die Krim war auch nicht „schon immer Teil Russlands“, was der Annexion den Anschein einer historischen Berechtigung verleiht.

Zugehörigkeit der Krim

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gab es auf der Krim politische Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit der Krim beziehungsweise einen Anschluss an Russland eine Mehrheit der regionalen Bevölkerung mobilisieren konnten. Diese Bewegung scheiterte an inneren Spaltungen und an ihrer Unfähigkeit, auf die realen sozioökonomischen Probleme der Region einzugehen. Dazu kam noch die bewusste Entscheidung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Zugehörigkeit der Krim zum postsowjetischen ukrainischen Staat nicht in Frage zu stellen – das Interesse an einem guten Verhältnis zum Westen war wesentlich höher.1 Die regionale Mobilisierung auf der Krim mündete letztendlich in einen schwachen, durch seine sichtbare Institutionalisierung in der ukrainischen Verfassung jedoch symbolisch bedeutsamen Autonomiestatus der Krim. 

Auch wenn russische Politiker wie zum Beispiel der ehemaliger Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, seitdem mitunter versuchten, mit Blick auf ihre Wählerschaft in Russland die Krimthematik politisch zu instrumentalisieren, gab es bis 2014 keine breitere Mobilisierung auf der Krim. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region stagnierte, der kleine, durch die Krimverfassung definierte Spielraum der Autonomie blieb ungenutzt. Die Integration der seit dem Ende der Sowjetunion zurückgekehrten Krimtataren, die von Stalin nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden waren, wurde nicht zur Priorität Kiews, aber am politischen Wahlverhalten gemessen, war die Region fest in den Südosten der Ukraine integriert.

Chruschtschows Geschenk

Die inzwischen weit verbreitete, zu wenig hinterfragte These des historischen Anspruchs Russlands auf die Krim ist das Resultat einer höchst selektiven Interpretation der Geschichte. Das russische Narrativ der „russischen Krim“ leitet sich ab aus der Zeit von 1783, der Eroberung der Krim durch Zarin Katharina der Großen, bis 1954, dem vermeintlichen Geschenk Chruschtschows an die ukrainische Sowjetrepublik. Die Tatsache, dass die Krim vor 1783 jahrhundertelang unter krimtatarischer und osmanischer Herrschaft war, wird in der russischen Geschichtsschreibung ausgeblendet und ist im Westen einfach zu wenig bekannt. Darüber hinaus hält sich das stark simplifizierende Bild des Transfers der Krim als Chrutschtschows persönliches Geschenk an die Ukraine im Rahmen der 1954 gefeierten „brüderlichen“ russisch-ukrainischen Beziehungen (eine sowjetische Interpretation des Perejaslaw-Vertrags von 1654, in dem sich die Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzky durch einen Treueeid den Schutz des russischen Zaren Alexej I. sicherten). Archivdokumente zeigen, dass Chruschtschow zwar eine zentrale Rolle beim territorialen Transfer der Ukraine zukommt, dass er jedoch nicht in einer politisch derart gefestigten Position war, die eine alleinige Entscheidung erlaubt hätte, und dass wirtschaftliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten. Der Symbolgehalt von 300 Jahren Perejaslav wurde hingegen erst im letzten Moment hinzu addiert.2

Narrativ der „russischen Krim“

Das russische Narrativ des Krimnasch („Die Krim gehört uns“), das Kontinuität auf die facettenreiche Geschichte der multiethnischen Krim projiziert, speist sich aus einer selektiven Geschichtsschreibung. Die Region spielt dabei vornehmlich eine Symbolfunktion, die bereits in der Zarenzeit geprägt, in der Sowjetunion umgewidmet und in der postsowjetischen Zeit wiederbelebt wurde. Die Grenzen zwischen Mythen und Fakten sind hierbei fließend. Die Krim ist die Region mit einem subtropischen Klima an der Südküste, die viele an die südeuropäischen Länder, vor allem an Italien und Griechenland erinnert, und in der die russische Zarenfamilie und Aristokratie (nicht nur aus Russland) Urlaub machte. Die Region ist fest in der russischen Literatur und Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. Puschkin, Tolstoi und Tschechow gehören zu den prominentesten Autoren, die die Krim in ihren Gedichten und Erzählungen verewigten. Die Krim wurde schließlich zum sowjetischen Urlaubsparadies der Arbeiterklasse, Pioniere und Parteinomenklatura umdefiniert.

Um die Krim ranken sich zahlreiche, von verschiedenen Völkern geprägte Legenden und Mythen. Viele Küsten- und Bergformationen tragen bildhafte krimtatarische Namen. Diese haben die Zeit der krimtatarischen Deportation überlebt und sind (wie beispielsweise der Berg Ai-Petri, ein beliebtes Touristenziel in der Nähe von Jalta) bis heute ein fester Bestandteil der regionalen Identität.

Am Beispiel der Krim gelang sowohl dem zaristischen Russland als auch dem sowjetischen Regime die Umdeutung verlustreicher Schlachten – während des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs – in russische beziehungsweise russisch-sowjetische Heldentaten. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte vor der Küste Sewastopols, die nach 1991 zum Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine wurde und nach langen Verhandlungen Ende der 1990er Jahre unter Verrechnung ukrainischer Schulden für Energielieferungen aus Russland aufgeteilt wurde, symbolisiert diesen Teil der Geschichte. 
Die Stadt Chersones in der Nähe von Sewastopol gilt als die Wiege der russisch-orthodoxen Zivilisation – seit 2014 ist die mutmaßliche Taufe von Großfürst Wladimir in Chersones Ende des 10. Jahrhunderts erneut zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden.

Terra incognita 

Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die Krim für westliche Beobachter und UkrainerInnen ohne familiären Bezug zur Krim weitgehend zur terra incognita geworden. Der ukrainische Staat erlaubt den Zugang zur Region nur in einem streng definierten gesetzlichen Rahmen, und die Einreise in die Region über Russland stellt einen Verstoß gegen ukrainisches Gesetz dar. Aus den Berichten derer, die die Krim seit 2014 verlassen haben – Schätzungen zufolge etwa 40.000 bis 60.000 Menschen, darunter mindestens zur Hälfte Krimtataren3 – und aus den Berichten krimtatarischer und Menschenrechtsorganisationen sowie einiger weniger westlicher JournalistInnen, lässt sich das Ausmaß der in erster Linie gegen die krimtatarische Bevölkerung gerichteten Repressionen ablesen. Außerdem ist ein Wandel von einer von Russland geschürten Hochstimmung 2014 in eine eher abwartende Haltung erkennbar. 

Einer repräsentativen Umfrage4 zufolge, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) von März bis Mai 2017 mit Hilfe eines internationalen Dienstleisters und ausgebildeten lokalen Interviewern durchführte, ist unter der Krim-Bevölkerung eine Orientierung nach innen festzustellen. Die Kontakte der Krim-Bevölkerung zum Rest der Ukraine sind fast vollständig unterbrochen. Eine schon immer stark ausgeprägte regionale Identität (krymchanin = „Krim-Bewohner“) wurde durch die Ereignisse von 2014 noch gestärkt. Die ZOiS-Umfrage zeigt in diesem Zusammenhang, dass nur sechs beziehungsweise ein Prozent der Befragten Russland beziehungsweise die Ukraine als ihr Zuhause begreifen.  Zugleich haben die Menschen auf der Krim ein sehr geringes Vertrauen in die lokalen und regionalen politischen Institutionen. Die Umfrage veranschaulicht darüber hinaus das Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Nöte der Bevölkerung. 

Nach der Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 hat der Kreml die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin auf der Krim als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland dargestellt. Damit schrieb er eine neue Seite in die mythenumwobene Geschichte der Halbinsel.


1.Sasse, Gwendolyn (2007): The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge
2.ebd.
3.Freedom House: Crimea
4.Sasse, Gwendolyn (2017): Terra Incognita: The Public Mood in Crimea, ZOiS Report 3/2017. Die Umfrage hatte zum Ziel, einen Einblick in die Stimmung und das Alltagsleben auf der Krim zu bekommen. Die derzeitige Lage auf der Krim entspricht nicht den soziologischen Idealbedingungen für eine Umfrage. Dennoch kann die Schlußfolgerung  nicht sein, lieber gar nicht zu versuchen, die Stimmen der betroffenen Menschen hörbar zu machen. Die Umfrage versteht sich als ein Beitrag dazu, die Situation auf der Krim im öffentlichen Diskurs präsenter zu machen.
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