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Presseschau № 6

Der für seine radikalen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski sorgt in Russland wieder für Aufruhr. Diesmal hat er die Eingangstür des Inlandsgeheimdienstes FSB in Brand gesetzt. Nun wird diskutiert: Galerie oder Gefängnis? Medienbeherrschende Themen diese Woche sind außerdem der Dopingskandal im Sport sowie die Frage, wie die Urlauber nach dem A321-Absturz auf dem Sinai mit dem Flugstopp nach Ägypten umgehen sollen. 

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Kunst oder Vandalismus? Die Bilder zeigen den brennenden Eingang eines Gebäudes. Im Schein der Flammen ein hagerer Mann. Sekunden später wird er von einem Verkehrspolizisten abgeführt. In der Nacht auf den 9. November hat der für seine kompromisslosen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski die Tür des Inlandsgeheimdienstes FSB an der Moskauer Lubjanka in Brand gesetzt. Die Aktion mit dem Titel Bedrohung sei eine Anklage dagegen, dass der FSB 146 Millionen Menschen unter seiner Terrorherrschaft halte, sagte Pawlenski vor Beginn seiner Anhörung im Saal des Tagansker-Bezirksgerichts. Ihm droht nun ein Prozess wegen Vandalismus, das Moskauer Gericht hat die Untersuchungshaft um 30 Tage verlängert. Pawlenski selbst verlangte ein strengeres Vorgehen. Er fordere, wegen Terrorismus angeklagt zu werden, sagte der Künstler unter Verweis auf die „Krim-Terroristen“ um den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow, welche wegen eines Brandanschlags zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

Mit seinen radikalen Aktionen provoziert Pawlenski: 2012 stand er mit zugenähtem Mund in St. Petersburg auf der Straße, um gegen die Verurteilung von Pussy Riot zu protestieren. 2013 nagelte er sein Skrotum auf dem Roten Platz fest. Im vergangenen Jahr schnitt er sich auf dem Dach der berüchtigten Serbsky-Klinik in Moskau ein Stück seines Ohrläppchens ab, um gegen den politischen Missbrauch in der Psychiatrie in Russland zu protestieren.

Der Staat reagiert. Diverse psychiatrische Gutachten der Behörden zielen darauf ab, dem Aktionskünstler seine Schuldfähigkeit abzuerkennen, um ihn damit in eine Klinik einweisen zu lassen. Auch nach der brennenden FSB-Tür wurden Rufe laut, Pawlenski „von der Gesellschaft zu isolieren“. Ein Abgeordneter des Moskauer Stadtparlaments verlangt zudem, dass die Ermittlungsbehörde wegen Extremismus gegen Journalisten und Blogger ermitteln soll, welche die Aktion fotografierten und Bilder davon verbreiten. Nutzer sozialer Netzwerke ließen sich davon jedoch nicht abschrecken. Ein Online-Reiseportal nutze die brennende Türe gar, um für Urlaub in Afrika zu werben.

Die brennende FSB-Tür wurde auch unter Oppositionellen und Gegnern des Putin-Regimes hitzig diskutiert. Die Meinung, ob es sich bei der Aktion um Kunst handelt oder ob Pawlenski vor Gericht gehört, gehen auseinander. So kontrovers die Aktionen sind, eines scheint festzustehen: Je strenger die Strafe, desto stärker entfaltet sich das aktionistische Szenario, erklärt der Galerist Marat Gelman in Slon das Funktionieren von Pawlenskis Kunst. Wer sich für die Arbeit des polarisierenden Künstlers interessiert, kann sich übrigens auch außerhalb Russlands mit seinen Arbeiten auseinandersetzen. Im November wird in Hamburg die erste Pawlenski-Retrospektive eröffnet.

Dopingskandal. Die einen würden ihre Konkurrenz direkt besiegen, die anderen würden es vorziehen, das Image eines Landes zu ruinieren. Mit derart markigen Worten kommentierte der russische Sportminister Wladimir Mutko den massiven Dopingskandal, mit dem sich Moskau seit Anfang der Woche konfrontiert sieht. Hochrangige Politiker und staatsnahe Medien sprachen von haltlosen Beschuldigungen, von einer politisch motivierten Schmutzkampagne gegen Russland. Die Vorwürfe der Anti-Dopingagentur WADA wiegen allerdings schwer: In Russland werde staatlich gesponsertes Doping betrieben, heißt es in dem am Montag vorgestellten Bericht. Die Korruption im Sport hat für die WADA Systemcharakter. Berichten von Athleten zufolge musste man sich bloß mit der Nummer seiner abgegebenen Dopingprobe und 30.000 Rubel (450 Euro) an bestimmte Trainer wenden, welche alles Nötige veranlassen würden. Kurz: Keine Proben - kein Problem, beschrieben russische Medien den Ablauf.

Den Untersuchungen der WADA liegt eine ARD-Dokumentation zu Grunde. Das russische Sportministerium fordert die Agentur dazu auf, richtige Beweise vorzulegen und sich nicht auf die Arbeit von Journalisten zu berufen. Dem beanstandeten Moskauer Labor, in welchem angeblich mehr als 1400 Proben zerstört wurden, hat die Wada bereits die Akkreditierung entzogen. Dopingproben russischer Athleten werden nun vorerst außerhalb des Landes getestet.

Die Anschuldigungen wiegen schwer für die erfolgsverwöhnte Sportnation, welche an den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 vor eigenem Publikum die meisten Medaillen erringen konnte. Nun droht der gesamten russischen Leichtathletikmannschaft eine Sperre für die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien. Einen kollektiven Rückzug lehnt Moskau jedoch ab. Nur diejenigen Athleten sollen gesperrt werden, die auch des Dopings überführt wurden. Präsident Wladimir Putin ordnete erst einmal eine interne Untersuchung an.

A321. Fast scheint es, als wäre in den russischen Medien die Suche nach den Ursachen der Flugzeugkatastrophe über dem Sinai, der 224 Menschen zum Opfer fielen, in den Hintergrund gerutscht. Viel mehr zu interessieren scheint, wie nach dem durch den FSB initiierten Flugstopp vom vergangenen Freitag die Rückreise der in Ägypten gestrandeten 80.000 russischen Touristen mitsamt ihrem Gepäck verläuft. Auch müssen russische Touristen nun umdisponieren, war Ägypten doch ihr beliebtestes Reiseziel. Zwar bieten die Behörden der annektierten Krim das Schwarze Meer nun als Ersatz für das Rote Meer an. Bereits gebuchte Ferienreisen könnten aber nicht einfach umgetauscht werden, heisst es.

Behörden rechnen mit einem Flugstopp von mehreren Monaten, die Verluste für die Reisebüros werden auf 1,5 Milliarden Rubel geschätzt (etwa 21 Millionen Euro), schreibt Vedomosti. Das alles sei der russischen Regierung jedoch herzlich egal, schreibt der regierungskritische Journalist Oleg Kaschin. Der Kreml könne sich das erlauben, unangenehme Fragen würden wohl auch kaum gestellt, falls ein Terroranschlag zweifelsfrei als Ursache des Absturzes etabliert würde. Peinlich wäre für den Kreml laut Kaschin wohl einzig das Eingeständnis, dass sich Russland im vergangenen Jahrzehnt bei der Terrorbekämpfung im Kreis gedreht hat und keinerlei Fortschritte erzielt wurden.

Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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Gesellschaftsvertrag

Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.

Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1

Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.

War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5

An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.

Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.


1.Schröder, Hans-Henning (2011): Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? In: Russland-Analysen 2011 (231), S.12-14. Siehe auch Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
2.Greene, Samuel (2012): Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya 20(2), S.133-140
3.Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, S.607, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
4.Siegert, Jens (2015): Wirtschaftskrise in Russland - und keiner protestiert, in: Russland-Analysen 2015 (303), S.12-14
5.Lewada.ru: Odobrenie dejatelʼnosti Vladimira Putina
6.Baunow, Alexander (2015): Ever So Great: The Dangers of Russia’s New Social Contract
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