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Latyschka

Es sind, so sagt die Redaktion, „Geschichten aus ihrem und unserem Leben“, die die Autorin und Journalistin Olga Beschlej (dekoder-Leser kennen sie schon) ab Ende Mai regelmäßig auf dem unabhängigen Online-Portal Colta.ru erzählt.

Schon der erste Text ihrer Reihe hatte Tausende Leser: Olga Beschlej fängt die Atmosphäre russischer Studentenwohnheime, die Unsicherheiten junger Erwachsener und die Unzulänglichkeit aller Schwarz-Weiß-Raster so gut ein wie kaum jemand sonst. Viel Spaß beim Lesen.

Источник Colta.ru

Alles, was Latyschka tat, war ideal. Foto © colta.ru

„I don't mind saying hello at stations, but I don't like saying good-bye.”
Career Girls, Mike Leigh

I.

Meine Mutter hatte mich im Wohnheim abgesetzt mit einer großen Frischhaltebox voll hausgemachter Bouletten, Pfannen und einem Bademantel von derart ätzender Farbe, dass ich damit bei einem Wettbewerb der penetrantesten Damenbademäntel mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet wäre.

Meine neuen Zimmergenossinnen – zwei dicke, rotwangige Soziologiestudentinnen im dritten Studienjahr – beobachteten schweigend, wie ich meinen Koffer auspackte und unbeholfen das obere Stockbett mit dem Bettzeug von zu Hause bezog.

„Will jemand eine Boulette?“

Keine Antwort.

Insgeheim war ich froh, dass sie keine wollten. Die Bouletten würden nach meinen Berechnungen für drei Tage reichen.

Alles in allem war es ganz schön mies von meiner Mutter und meinem Vater – erst jahrelang auf Zehenspitzen herumzuschleichen und irgendwas zu murmeln von wegen „lass das Kind ruhig lernen“, und dann dieses Kind einfach in eine fremde Stadt zu karren und es dort mit irgendwelchem Haushaltszeug von unklarer Bestimmung sich selbst zu überlassen.

Ich konnte nichts.

Ich hatte noch nie einen Boden gewischt oder Geschirr gespült. Ich hatte noch nie ein Bett bezogen. Noch nie Wäsche gewaschen. Nie gekocht. Ich wusste nicht, wie lange ein Ei braucht, welches Wasser man zum Würstchen-Warmmachen nimmt und wie man Fleisch einkauft. Der Anblick des Wischlappens in der Gemeinschaftsküche ließ mich schaudern, und von glitschigen Makkaroni in fremden Töpfen bekam ich Magenkrämpfe.

Als ich am zweiten Tag hörte, dass in der Waschküche Ratten lebten, schwor ich mir, diese niemals zu betreten, und ich blieb diesem Schwur die folgenden fünf Jahre treu. Meine Wäsche transportierte ich alle zwei Wochen zum Waschen in meine hundert Kilometer von Moskau entfernte Heimatstadt.

Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei

Meine Mutter erklärte später, mein Schulabschluss, dann mein 17. Geburtstag im Juli, und dann der Beginn meines Studiums – das alles sei damals allzu plötzlich gekommen. Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei – auf Anhieb erstand ich für ein Drittel des gesamten mir überlassenen Geldes eine große Flasche kaltgepressten Orangensaft und war damit äußerst zufrieden. Mein neues Leben kam mir sogar mit einem Mal gar nicht mehr so schrecklich vor. Bis meine Zimmergenossinnen von mir verlangten, ich solle den Boden wischen.

„Wieso, gibt es denn hierfür keine Putzfrau auf der Etage?“, erkundigte ich mich.

„Nee. Aber du kannst ja deine Mutti rufen“, meinte die eine und lachte höhnisch. Ich sah auf den Eimer mit dem angetrockneten Lappen. Dann auf meine finster dreinblickenden Mitbewohnerinnen. Und dann trat ich auf den Gang hinaus, stapfte zur diensthabenden Etagenfrau und bat sie, mich umzuquartieren, weg von den garstigen Soziologinnen.

„Was hacken die bloß immer alle auf euch Journalisten rum“, knurrte die Diensthabende. „Im ersten Stock ziehen zwei Erstsemestlerinnen ein, die eine studiert auch Publizistik. Ich werd mal fragen, ob du nicht bei denen mit reinkannst.“

Am nächsten Tag stand ich in der Tür zu dem anderen Zimmer – mit meinem Koffer, der leeren, dreckigen Frischhaltebox, Pfannen und dem Bademantel, den die eine meiner neuen Zimmergenossinnen - eine dürre, finstere Blondine – prompt kommentierte:

„Echt krasses Farbdesign.“

Das war Latyschka, „die Lettin“, so nannte ich sie.

II.

Latyschka war am 9. Mai geboren. Eine sich selbst und anderen Menschen gegenüber derart schonungslose Person ist mir noch nie begegnet.

Eigentlich hieß sie Olga – wie ich. Ich fand es aber immer schon befremdlich, jemand anderen mit meinem eigenen Namen anzusprechen, deshalb hatte sie bei mir praktisch vom ersten Moment an ihren Spitznamen weg.

Geboren und aufgewachsen war sie in Riga. Sie hatte die russischsprachige Schule mit Bestnoten absolviert, es locker an die Wirtschaftsfakultät der führenden lettischen Universität geschafft, dort ein Jahr durchgezogen und war, unzufrieden mit der Qualität der dortigen Lehre, nach Russland gegangen.

Latyschka verfügte über beängstigende Leistungsfähigkeit und physische Stärke. Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in der gleichen Sekunde in Schlaf, und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. Ihre Angewohnheit, ins Zimmer zu stürmen, machte mich wahnsinnig, und an den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich noch genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches.

Alles, was Latyschka tat, war ideal. Sie gab ihre Hausaufgaben rechtzeitig ab, lernte fleißig, hatte vom ersten Studienjahr an einen Job und versäumte keine Lehrveranstaltung. Ich flog wegen Spickens aus den Vorlesungen und bekam Stress wegen Schwänzerei. Morgens schlug ich die Augen auf, sah eine Minute lang zu, wie Latyschkas kornblumenblauer Bademantel durchs Zimmer wirbelte, machte den Wecker aus und zerfleischte mich, bis sie das Zimmer verließ. Mir schien, wenn man nicht in der Lage war, so zu lernen wie Latyschka, lohnte sich die Mühe erst gar nicht.

Ich war in allem schwächer als sie, träumte aber dennoch davon, ihr es einmal richtig zu zeigen und zwar bei zwei Dingen: Wenigstens ein einziges Mal wollte ich in Literatur besser abschneiden und wenigstens einmal einen politischen Disput gegen sie gewinnen.

Ich sage es gleich: Weder das eine noch das andere ist mir gelungen.

Innerhalb der Universitätsmauern war Latyschka unbesiegbar.

Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in derselben Sekunde in den Schlaf und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. An den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches

Das erste Mal stritten wir uns gleich zu Beginn des Studiums. Wir kamen aus einer Vorlesung. Vermutlich politische Geschichte. Ich hatte irgendeine Bemerkung über die despotischen Neigungen unseres Präsidenten losgelassen, da sagte Latyschka plötzlich, ich würde Müll reden.

„Jetzt sag bloß, du stehst auf ihn.“ Ich lachte laut auf.

„Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel zu verdanken habe“, erwiderte Latyschka gemessen. „Ich kann eben dankbar sein.“

„Was meinst du damit – viel zu verdanken?“

„Ich bin aus Lettland hierhergekommen und habe keine russische Staatsbürgerschaft. Man hat mir die Chance gegeben, bei den Prüfungen gleichberechtigt mit den russischen Studenten die Aufnahmeprüfungen zu machen und umsonst an einer der besten Unis zu studieren, ich kann im Studentenwohnheim wohnen und ich bekomme ein Stipendium.“

„Ja schön, und was willst du mir damit sagen?“

„Dass du genauso Grund hättest, dankbar zu sein.“

Diese Argumentation haute mich derart um, dass wir eine Weile schweigend nebeneinander hergingen. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir nie über Politik diskutiert, aber ich war aus irgendeinem Grund fest davon ausgegangen, dass Latyschka meine Ansichten teilte. Oder vielmehr die Ansichten meiner Familie. Die Küchenbetrachtungen meines Vaters waren mir immer derart logisch, zutreffend und zwingend erschienen, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, in Moskau, zumal an der Moskauer Universität, könnte jemand anders argumentieren.

Dabei hatten Latyschkas Worte mich nicht bloß überrascht. Ich bekam regelrecht Schiss, ich hatte es nämlich nicht gelernt zu streiten. Die paar jämmerlichen Male, die einer meiner Klassenkameraden von seinen Sympathien für den Präsidenten gesprochen hatte, hatte ich die Betreffenden einfach voller Geringschätzung angesehen und gedacht, was kapieren die schon. Aber Latyschka voller Geringschätzung ansehen ging gar nicht. Erstens schien sie mir ungeheuer klug. Zweitens sah sie mich schon voller Geringschätzung an.

„Ich soll also dem Präsidenten dankbar dafür sein, dass ich umsonst studieren darf?“, fragte ich schließlich. „Aber das ist doch … also ist doch eigentlich gar nicht sein Verdienst. Das ist sowas wie unsere Vereinbarung mit dem Staat, oder? Dass Bildung nichts kostet, war außerdem schon zu Sowjetzeiten der Fall. Das hat sich doch nicht Putin ausgedacht.“

„Ausgedacht nicht“, stimmte Latyschka zu. „Aber dank Putin kann der Staat dafür aufkommen.“

„Zu Jelzins Zeiten hat das Studieren auch nichts gekostet.“

„Zu Jelzins Zeiten waren die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar noch unter würdigen Bedingungen.“

„Naja, unsere Uni ist einfach ziemlich reich. Das ist ja nun nicht überall so.“

„Aber immerhin bist du an dieser Uni genommen worden. Und deine Eltern bezahlen dafür keinen Rubel.“

„Was meinst du, was die für meine Repetitoren abdrücken mussten!“

„Na gut, aber das ist eine Frage deiner persönlichen Fähigkeiten. Ich habe kein Geld für Repetitoren ausgegeben.“

Ich kochte vor Wut.

„Wir studieren doch Publizistik! Und Putin schafft die Meinungsfreiheit ab!“

„Freiheit ohne Kontrolle geht nicht. Und er hat Maßnahmen ergriffen, die notwendig waren. Ich sehe nicht, dass die Presse hier ernsthaft drangsaliert würde. Es gibt die Novaya Gazeta, Echo Moskvy, den Kommersant, Vedomosti, das ganze Internet.“

‚Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel verdanke‘, erwiderte Latyschka gemessen. ‚Ich kann eben dankbar sein. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar unter würdigen Bedingungen. Du hättest genauso Grund, dankbar zu sein‘

Sämtliche Argumente, die ich in der elterlichen Küche gehört hatte, zerschellten an der unerschütterlichen Überzeugtheit in Latyschkas Stimme in tausend Stücke. Ich bedauerte auf einmal, dass ich meinen Vater nicht einfach aus der Manteltasche ziehen konnte.

„Und was ist mit dem Mord an Politkowskaja?“, fiel mir endlich noch ein. „Nach der Sache können wir uns in unserem Beruf wohl kaum noch sicher fühlen!“

Latyschkas Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte [damals vor Anna Politkowskajas Haus – dek] in der Lesnaja Uliza Blumen niedergelegt.

„Für das Material, das sie geliefert hat, hätte die Politkowskaja auch in jedem anderen Land der Welt ermordet werden können. Journalismus ist einfach gefährlich, Beschlej. Aber du hast bisher nichts zu befürchten. Wenn du eine Politkowskaja werden willst, hör zuallererst mal auf, dich vor dem Küchenlappen zu fürchten.“

III.

Heute heißt es auf der Homepage des Studentenwohnheims, in das ich 2006 einzog, die 14,5 Quadratmeter großen Zimmer seien mit jeweils zwei Studierenden belegt, auf jeder Etage gebe es zwei Duschräume mit Einzelduschen und die Küchen seien rund um die Uhr offen. Sei‘s drum, zumindest weiß ich jetzt, was sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besseren verändert hat.

Ich erinnere mich an keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten

Zu unseren Zeiten wohnte man jedenfalls zu dritt, und ich erinnere mich noch gut an die stickige Luft morgens in unserem Zimmer und an den Geruch des Waschschwamms aus der Schüssel unter meinem Bett. In den ersten drei Jahren gab es einen einzigen Duschraum – riesig und gnadenlos ohne Vorhänge oder Kabinen, dank dem mir die anatomischen Besonderheiten meiner Kommilitoninnen heute besser in Erinnerung sind als ihre Nachnamen. Die Küchen schlossen die Etagenfrauen nachts immer ab. Warum sie das taten, wusste keiner, aber es wollte sich auch keiner mit ihnen anlegen.

Mit Latyschka und Katja – unserer dritten Zimmergenossin, einer Psychologiestudentin – habe ich ein Fünftel meiner Lebenszeit verbracht. Wenn ich heute jedoch versuche, diese Jahre im Detail zu rekonstruieren, entsteht in meinem Kopf eine Art Ansammlung von Episoden, die zusammengenommen wahrscheinlich eine Zeitspanne von einigen wenigen Tagen ergeben. Vielleicht eine Woche.

Also, ich stehe morgens auf oder ich stehe nicht auf, sondern schlafe bis mittags. Ich trödele in der Gemeinschaftsdusche rum. Ich ziehe mich an, komme immer und überall zu spät. Ich gehe zur Uni. Oder gehe nicht zur Uni, sondern zwei Treppen runter in den gelb gekachelten Raucherraum und lasse dort lange Zeit Ringe an die verqualmte Decke steigen. Oder ich gehe raus, Richtung Kirche. Es ist grauer Herbst. Oder Frühling. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an Winter erinnern. Ich rauche. Der Weg den Hügel hinauf. Das goldene Schild der Universität. Erster Stock, zweiter Stock. Die Plastiktüren. Die engen Bänke.

Ich erinnere mich an nichts. An keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie ich in Westlicher Literatur Würstchen mit Ketchup gegessen habe. Und wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten.

Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch

Es war im zweiten Studienjahr. Ich hatte die Vedomosti mit in die Vorlesung gebracht, und Latyschka hatte sie mir natürlich prompt abgeknöpft. Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch. Rasch überflog sie die Spalten, schlug die Zeitung auf der Pultbank auf und fing an, auf dem Foto des damaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers herumzukritzeln.

Die Dozentin – eine stramme Kommunistin, die uns in Makroökonomie unterrichtete -, schritt gemächlich vor der Tafel auf und ab.

Ich flüsterte:

„Auf den stehst du nicht so oder wie?“

„Stimmt.“

„Und wieso?“

Latyschka bedachte mich mit einem abfälligen Blick.

„Der Typ ist einfach ein Niemand“, entgegnete sie nach einer Pause.

„Wie meinst du das?“

„Ich weiß gar nicht, wer er ist. Zwei Wochen vor seiner Ernennung haben sie ihn uns vorgestellt. Ein Arzt, Traumatologe. Nicht mal ein Programm hatte er vorzuweisen.“

„Naja, also so viel besser ist die Lage ja bei uns nun auch nicht“, hob ich zaghaft an. „In dem Land, das du dir ausgesucht hast, wird der Präsident auch nicht gewählt.“

„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie wenig er in Lettland gewählt wird. Er wird von den Parlamentsabgeordneten bestätigt, nicht vom Volk.“

„Aber das Parlament, das wählt ihr doch.“

„Und ihr wählt sowohl das Parlament als auch den Präsidenten!“

„So ein Schwachsinn. Wir wählen hier überhaupt niemanden!“ Langsam war ich echt genervt. „Es geht doch die ganze Zeit nur um den ‚Erben‘. ‚Nachfolger-Wahlen‘. Wenn ich das schon höre! Stößt dir an der Formulierung nichts auf?“

„Putin habt ihr selber gewählt. Ihr, das russische Volk, seid zur Wahl gegangen und habt für ihn gestimmt. Und für seinen Nachfolger werdet ihr auch stimmen.“

„Bei uns ist die große Mehrheit einfach nicht ganz dicht, das ist alles.“

„Da musst du dich jetzt mal entscheiden: Sind die Leute bei euch nicht ganz dicht oder stimmt was mit Putin nicht?“

„Die haben hier alle einen an der Waffel. Ganz Russland hat einen an der Waffel.“

„Nicht Russland hat einen an der Waffel, du bist es, die hier einen an der Waffel hat. Du hast doch alles, deine Familie hat alles, was willst du denn noch? Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja auswandern.“

„Was weißt du denn bitte über meine Familie? Meine Eltern haben einen kleinen Laden. Aber früher, da hatten sie drei kleine Läden. Jetzt haben sie nur noch den einen, die Steuern, die Miete, ständig steht der Brandschutz auf der Matte.“

Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln

„Die Situation der Kleinunternehmer ist mir nicht so geläufig, aber ich sehe das große Ganze. Das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Einkommen steigen, meine Oma in Lettland bekommt inzwischen eine russische Rente ausgezahlt. Kann sein, dass es speziell deine Familie nicht so gut getroffen hat, aber das heißt ja nicht, dass allgemein alles schlecht ist. Aber wenn du nicht bereit bist abzuwarten, dass das Land sich entwickelt, wenn du nicht bereit bist, deinen Beitrag zu leisten, dann hau doch ab! Ich bin dazu bereit. Ich will die Staatsbürgerschaft, ich will hier leben und arbeiten. Und du haust eben ab! Niemand hindert dich. Setz dich irgendwo ins gemachte Nest.“

„Und wie ich abhauen werde, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte ich.

Latyschka vertiefte sich demonstrativ in ihre Aufzeichnungen, während ich noch etwa fünf Minuten brauchte, um meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln.

Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir in diesem Augenblick – wie auch später nach jedem unserer Streits wieder – die Zukunft möge jetzt sofort anbrechen und sich als derart furchtbar herausstellen, dass selbst Latyschka mir nicht mehr würde widersprechen können.

IV.

Mit der Zeit hörte ich auf, mit ihr zu streiten. Latyschkas Autorität hatte sich in meinen Augen mit jedem Jahr weiter gefestigt. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könnte mir die ungewischten Böden vorhalten.

„Ich will leben wie in Europa!“

„Aber du hast seit drei Jahren den Boden nicht gewischt!“

Doch Latyschka hielt einem nichts vor. In regelmäßigen Abständen nahm sie demonstrativ den Schrubber zur Hand, wischte damit zwei Minuten lang grimmig über den Boden – wobei man sagen muss, dass es im Zimmer davon nicht sauberer wurde – und setzte sich wieder an ihr Notebook. Wirklich gewischt hat den Boden lediglich Katja – jedoch derart leidend und still, dass niemand von uns ihre Mühen würdigte oder überhaupt nur zur Kenntnis nahm.

Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant

Was mich betraf, war jedoch durch Latyschkas Bemühungen bereits zu Beginn des zweiten Studienjahres das Bild einer faulen dummen Gans aus reichem Hause fest verankert. Und – ich kann es nicht verhehlen – ich entsprach diesem Bild von Jahr zu Jahr mehr.

Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant, tat dort absolut nichts, was irgendeinen Nutzen gehabt hätte, ging dem stellvertretenden Chefredakteur der Abteilung auf die Nerven und sah dafür selbstredend kein Geld.

Im dritten Studienjahr hielt es Latyschka nicht mehr aus und sagte mir ganz direkt:

„Ich kann keinen Respekt vor dir haben, Beschlej. Du bist neunzehn Jahre alt und hängst deinen Eltern am Hals. Ich würde das ja alles noch verstehen, wenn du wenigstens studieren würdest. Aber du studierst nicht. Du schläfst bis mittags, machst das Zimmer nicht sauber, hängst stundenlang im Raucherraum rum und verfrisst irre viel Geld. Zur Zeitung gehst doch du bloß für den äußeren Schein. Oder wo sind deine Artikel? Na?“

Ich hatte ihr eigentlich eine von mir entworfene Grafik aus der letzten Ausgabe zeigen wollen, auf die ich sehr stolz war. Aber unter Latyschkas eisigem Blick kam sie mir mit einem Mal farblos und armselig vor.

Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Job und fand schnell was bei einer neu gegründeten Wirtschaftszeitung. Dort wurde ich die ganze Zeit angeblafft und runtergeputzt, von früh bis spät schlug ich mich mit irgendwelchen Zahlen herum, brachte alles durcheinander und machte mir große Sorgen, dass sie mich feuern würden. Dafür schien Latyschka sehr zufrieden mit mir und ersetzte zeitweise ihren herablassenden Ton durch freundschaftliche Anteilnahme.

Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte. Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr

Im vierten Studienjahr wurde mir das Leben vollends zur Qual. Zu dem umfangreichen Arbeitspensum kamen die Vorbereitungen auf die Prüfungen und das Diplom. Wir schliefen so gut wie gar nicht mehr. Latyschka verwandelte sich endgültig in einen Roboter und ich mich in ein zutiefst unglückliches, nölendes Wesen.

Manchmal schlich ich mich früh morgens hinunter in den Raucherraum, stellte mich an das Fenstergitter, blies Rauch durch die Stäbe und dachte an die Zeit, wenn das alles vorbei sein würde. Wenn es kein Studium mehr gäbe. Ich nicht mehr eine kleine dumme Reporterin wäre. Ich mich bis zur Redakteurin hochgedient hätte und selber alle anblaffen würde. Ich mir eine eigene Wohnung mieten und in meiner eigenen Küche rauchen würde.

Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte.

Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr.

V.

Inzwischen weiß ich, dass auch Latyschka ein ganz ähnliches Gefühl – das Gefühl einer unerträglichen Schwere des Erwachsenenlebens – hatte. Uns fehlte in allem, was mit uns geschah und was wir erlebten, Freude und irgendetwas Menschliches.

Um der Tristesse des Wohnheims und einer bestimmten kaum zu ertragenden Stallatmosphäre des Bürolebens zu entfliehen, verliebte ich mich in einen Unidozenten und erklärte von nun an alles mit meinem Liebeskummer. Ich rauche zu viel – denn ich leide. Ich lerne schlecht – denn ich leide. Ich hab den Küchendienst verpennt – ich leide. Ich bin zu spät – habe wieder die ganze Nacht gelitten. Von meinem Leiden wurde mir leichter ums Herz.

An die Wahrhaftigkeit dieser Liebe glaubte Latyschka keine Sekunde, doch schwang sie sich nicht auf, sie mir abzusprechen. Lügen konnte ich noch nie und so litt ich tatsächlich, mit Heulen, hysterischen Szenen, Verzweiflung und Alkohol. Unbeholfen versuchte sie mich zu trösten, aber Gespräche über meine Gefühle fielen ihr nicht leicht – man konnte merken, nicht, dass sie für solche Situationen keine Worte gehabt hätte, aber ihr fehlte irgendwie eine bestimmte Art von Reaktionen.

Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin

Nie werde ich den Tag im vierten Studienjahr vergessen, an dem ich mich fürchterlich blamierte.

Der Dozent – der besagte – stellte im Seminar die Frage nach der Definition der Verfassunggebenden Versammlung. Die gesamte Seminargruppe schwieg hartnäckig und ich entschloss mich, die Situation zu retten. Ich würde aufstehen und diese ausgesprochen einfache Frage beantworten. Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin.

Abends nahm mich Latyschka, die zu einer anderen Seminargruppe gehörte und die Szene nicht miterlebt hatte, ins Verhör:

„Das heißt also: Du warst vor lauter Liebe nicht imstande, die Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist? Wie ist so etwas möglich?“

Sie sah mich mit einer Mischung aus Besorgnis, Verärgerung und Neugier an. Als würde ich ihr gleich ein lebenswichtiges Geheimnis offenbaren. Ich war verheult, verquollen und konnte ihr keinerlei schlüssige Auskunft geben.

„Ich weiß nicht. Ich bin aufgestanden, habe ihn angesehen, und meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so ein Druck auf der Brust, weißt du.“

„Vor lauter Liebe?“

„Ich weiß nicht … ich denke schon, ja, vor lauter Liebe.“

Latyschka ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann und hob in bedeutendem Ton an zu sprechen – so hatte sie mit mir noch nie gesprochen. Beinahe auf Augenhöhe.

„Nur etwas wirklich Großes kann einen Menschen daran hindern, die einfache Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist, Beschlej. Ich wünschte, ich würde so etwas empfinden.“

VI.

Ich denke nicht, dass die Veränderungen, die in Latyschka vorgingen, durch mich und meine alberne Verliebtheit ausgelöst wurden, mit der ich unser ganzes Zimmer nervte. Ich denke, irgendetwas in ihr war schon vorher in Gang gekommen.

Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen

Mir fällt zum Beispiel ein, dass sie von Jahr zu Jahr mehr über die Arbeit klagte. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, sie könne bei dem Radiosender, bei dem sie arbeitete, eine Art Fortschrittsmotor werden. Sie sprach von Reformen, träumte davon, den schwerfälligen Koloss von Staatsorgan Schritt für Schritt in Richtung einer besonnenen Effizienz zu manövrieren. Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Arbeitete Wohltätigkeitsprojekte aus. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen. „Ich verstehe nicht“, sagte sie dann, „ich verstehe nicht, warum die sich nicht verändern wollen. So würde es doch allen besser gehen.“

Immer häufiger schickte sie mir Meldungen, über die sie sich aufregte. Sie redete von der Schwäche der russischen Wirtschaft, der Erdölabhängigkeit, der Ineffizienz der Staatsmacht, der schlechten Qualität der Ausbildung. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihre Einbürgerung und ihren ersten russischen Pass gefeiert hätten.

Nachdem wir den Bachelor abgeschlossen hatten (sie - mit Rotem Diplom, ich - mit Mühe und Not), begannen wir gemeinsam den Master. Ihre Uni-Verdrossenheit nahm rasant zu. Sie begann Vorlesungen zu schwänzen, lieferte schlechte Klausuren ab. Und verkündete kurz vor den Sommerprüfungen, sie werde das Studium schmeißen. In ihrer üblichen schroffen Art erklärte sie, das Masterstudium habe ihre Erwartungen nicht erfüllt und es gebe außer dem Studieren noch so viel anderes Wertvolles im Leben. Eines Tages packte sie ihre Sachen und weg war sie.

Latyschkas Entschluss erschütterte mich. Mehre Tage war ich vollkommen in Aufruhr. Latyschkas leeres Bett mit der meerwellenfarbenen Synthetikdecke darauf versetze mich in größte Unruhe. Nachts bog sich das Metallfedernetz ihres Bettes nicht mehr durch, es blieb ganz still. Da oben war niemand mehr.

Mir grauste.

Ich überlebte mit Mühe und Not die Prüfungen, aber noch im selben Sommer wurde mir klar, dass ich das zweite Masterjahr nicht mehr weitermachen würde. Ohne Latyschka hatte das Studium vollkommen seinen Sinn verloren – mir war mein Bezugspunkt abhandengekommen.

Die nächsten beiden Jahre trafen wir uns hin und wieder, blieben in Kontakt.

Sie machte weiter Karriere und bekam immer wieder neue Stellen. Doch bereits damals sagte sie mir bei jedem unserer Treffen, sie sehe keine Perspektive. Fühle sich oft kraftlos und apathisch. Sie war genervt von ihren Chefs und der Zensur. Nach der Verkündung der Präsidenten-Rochade im September 2011 hörte ich Latyschka zum ersten Mal etwas murmeln wie „Zeit die Zelte hier abzubrechen“.

Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt haben sie Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan gehört. Das war eine ganz schön subversive Aktion.‘ Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an

Sie legte sich Hobbys zu, die man keinesfalls von ihr erwartet hätte - Fengshui, Psychologie, Horoskope. Sie probierte verschiedene Extremsportarten aus und hatte sich einen merkwürdigen Typen angelacht, der, wie sie behauptete, mit bloßem Blick Schlösser knacken konnte. Dann fing sie an, sich mit östlichen Praktiken zu beschäftigen und liebäugelte mit verschiedenen Religionen. Sie machte Urlaub in Tibet und als sie zurückkam, tötete sie keine Mücken mehr.

Ihr Interesse an der uns umgebenden Wirklichkeit flackerte auf in der Zeit der Proteste 2011/2012. Sie stürzte sich aufs Neue kopfüber in ihre Arbeit. Nur dass sie dieses Mal diejenige sein wollte, die alles von innen heraus ins Wanken bringt. Sie triumphierte jedes Mal, wenn es ihr gelang, in einer Nachrichtenmeldung inoffizielle Zahlen zur Anzahl der Kundgebungsteilnehmer einzuschleusen, wenn sie Zitate von den Protestanführern oder auch einfachen Teilnehmern unterbringen konnte. Doch mit der Zeit wurden die Protestnachrichten abgelöst durch eine regelrechte Welle von Verhaftungsmeldungen, später waren es Berichte von den Gerichtsverfahren. Latyschkas Enthusiasmus erlosch. Ihre letzte Heldentat war eine Rede Alexej Nawalnys nach einer seiner Verurteilungen, die sie persönlich auf Sendung schaltete.

„Mann, du bist echt cool“, sagte ich damals zu ihr.

Latyschka wirkte nicht glücklich.

„Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt hat man Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan hören können. Das war eine ganz schön subversive Aktion.“

Ich bin aber bis heute der Meinung, dass sie damals mutig gehandelt hat.

Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert

Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an. Ich dachte, dieses Hobby würde ebenso schnell wieder verschwinden wie die übrigen. Doch kaum hatte Latyschka einen Kurs absolviert, fing sie schon den nächsten an. Und dann noch einen. Bald knetete sie mir und meinen Freunden regelmäßig den Rücken durch. Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert.

„Weißt du, das ist … das ist so ein Glück, wenn deine Arbeit darin besteht, jemandem etwas Gutes zu tun“, erklärte mir Latyschka. „Darüber habe ich früher nie nachgedacht. Ich wusste nicht, wie wichtig das ist – nicht einfach nur nichts Böses, sondern etwas Gutes zu tun, etwas Richtiges und Notwendiges.“

Sie nahm sich alles sehr zu Herzen. Als klar war, es würde darauf hinauslaufen, dass sie die Arbeit beim Sender aufgab, brach bei ihr eine offensichtliche Krise aus. Ihr Job war gut bezahlt, sie hatte eine gute Wohnung, einen hohen Posten. Und schließlich war da ihre Mutter in Lettland, so stolz, dass ihre Tochter in die „historische Heimat“ zurückgekehrt und dort so erfolgreich war.

„Wie kann ich das alles aufgeben, Beschlej? Was sage ich meiner Mutter? Und was werden all die anderen Leute sagen? Unsere Kommilitonen? Meine Kollegen?“

Und ich, die ich ihr mehr als irgendjemand sonst sagen konnte und wollte, gab zur Antwort:

„Weißt du was, die können dich alle mal. Na gut, alle bis auf deine Mutter.“

Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können

Beim Sender kündigte sie kurz nach den Krim-Ereignissen von 2014. Und machte dann eine Pilgertour auf dem Jakobsweg, bis nach Santiago de Compostela.

Ihre Reiseberichte schickte sie an die Zeitschrift, bei der ich damals arbeitete. Ich redigierte ihre Texte, las grollend von dem WEG, den „jeder für sich finden sollte“, während ich ihre Fotos betrachtete, die so farbenfroh waren und so surreal in meinem staubigen Büro.

„Okay“, dachte ich, „früher oder später wird sie ja zurückkommen.“

VII.

Latyschka ging zurück nach Lettland.

Der Umzug zog sich quälend lange hin. Immer wieder hatte sie irgendwelche Sachen vergessen, derentwegen sie noch einmal wiederkam. Wir hatten uns bestimmt schon dreimal verabschiedet.

Im Februar endlich war es so weit.

Sie hat sich in Riga eine Wohnung gemietet. Ihr eigenes Geschäft angemeldet. Sie massiert jetzt legal, zahlt Steuern. In Moskau war das aus irgendwelchen Gründen äußerst schwierig und vollkommen unrentabel gewesen.

Der Käse sei in Lettland jetzt viel besser als damals, als sie wegging, schrieb sie.

Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Universität ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können.

Ich denke oft daran, wie ich ihr eines Nachts, kurz vor den Abschlussprüfungen, meinen Gedanken vorstellte, dass irgendwo schon jetzt die Zeit und der Raum existieren, wo alles, was jetzt ist, bereits hinter uns liegt:

„Nehmen wir mal an, es sind zum Beispiel fünf Jahre vergangen. Es ist Nacht wie jetzt. Du liegst im Bett. Wo liegst du da?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, es wird nicht allzu weit bis zum Meer sein. Ich vermisse das Meer. Und du, Beschlej?“

„Ich weiß es auch nicht. Aber ich hoffe, ich habe dann eine gute Matratze.“

Eine gute Matratze habe ich.

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Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde mit der Auflösung der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 gegründet und umfasste zunächst alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Ausnahme des Baltikums. Die GUS ist ein loser Staatenverbund, der trotz breiter Kooperationsziele kaum wirkliche Integration geschaffen hat. Wichtiger wurden im Laufe der Zeit andere Projekte, wie etwa die Eurasische Wirtschaftsunion.

„Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ – dieser Ausdruck, der in den 1990er Jahren in aller Munde war, hört man noch immer gelegentlich. Ursprünglich angetreten mit umfassenden Kooperationszielen, stellte sich das Bündnis aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bald weitgehend als Papiertiger heraus: Zahllose Gremien tagten, wurden jedoch kaum eingesetzt, um echte Probleme zu lösen, die Kooperation zu vertiefen oder die Staaten rechtlich zu integrieren. Die GUS ist nicht mehr als ein loser Staatenverbund – dient allerdings als Basis für ernsthaftere Integrationsprojekte im post-sowjetischen Raum.

Die Gründung der GUS ist das Spiegelbild der Auflösung der Sowjetunion: Die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Belarus’ unterzeichnen am 8. Dezember 1991 die Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha, die das Ende der UdSSR besiegelt und mit demselben Federstrich die GUS als Nachfolgeorganisation einsetzt. Bis zum Ende des Jahres treten ihr alle ehemaligen Teilrepubliken bei – bis auf die baltischen Staaten, die sich sofort in Richtung EU orientieren, und bis auf Georgien, das erst 1993 dazukommt.

Wie ist diese Gemeinschaft konzipiert? Ihre Charta von 1993 stellt klar: Alle beteiligten Staaten sind souverän, die GUS hat – im Gegensatz zur EU – „keine supranationalen Kompetenzen“.1 Die Staaten verpflichten sich zu Kooperation in Wirtschaft, Umweltschutz, Menschenrechten und Sicherheitspolitik und etablieren zahlreiche Gremien, deren Vereinbarungen jedoch nie in nationales Recht umgesetzt werden.2 Auch um die gelegentlichen Handelskriege zu schlichten, ist die Organisation kein effektives Forum. Ein Grund dafür liegt in Russlands Außenpolitik, die bis in die 2000er hinein klar nach Westen ausgerichtet war. Russland setzte oft nur dann auf Integration mit den post-sowjetischen Nachbarn, wenn das gegenüber der EU oder dem Baltikum von strategischem Nutzen war.3 Zudem sind die einzelnen GUS-Mitgliedsstaaten für Russland von höchst unterschiedlicher Wichtigkeit – klar, dass Russland stärker auf bilaterale Vereinbarungen und kleinere Verbünde setzt, wie etwa die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Gründung 2002) oder die Zollunion mit Belarus und Kasachstan (Gründung 2010).4

Die GUS hat jedoch durchaus Effekte, wenn auch vor allem psychologische: Zum einen dämpft das Bekenntnis zur Kontinuität die Zerfallsdynamik der ehemaligen UdSSR. Der offiziell kundgegebene Wille zur Integration vereinfacht auch die transnationale Zusammenarbeit unter den Staaten, die sich ohnehin noch immer eine gemeinsame Infrastruktur teilen, eine Sprache sprechen und kulturell und sozial stark miteinander verbunden sind.5 Auch für die jeweiligen Staatschefs spielt die GUS eine stabilisierende Rolle: So erklärt die Wahlbeobachtungsorganisation der GUS auch heute noch regelmäßig Wahlen in der Region für frei und fair – insbesondere dort, wo die OSZE Probleme sieht (wie z. B. 2005 in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan und 2011 in Russland).

Der größte formale Erfolg der GUS ist sicher die Errichtung einer Freihandelszone im Jahr 2011 – die Erfüllung eines seit Anbeginn anvisierten Ziels. Allerdings umfasst das Abkommen nicht alle ursprünglichen GUS-Staaten: Georgien ist bereits 2008 nach dem Russisch-Georgischen Krieg aus der GUS ausgetreten. Auch Aserbaidschan und Turkmenistan sind, obwohl GUS-Mitglieder, nicht Teil der Freihandelszone. Und die Ukraine, die Teil des Abkommens war, wird von Russlands Präsident Putin persönlich Anfang Dezember 2015 ausgeschlossen – wegen ihrer wirtschaftlichen Assoziation mit der EU.6

Die GUS als solche, so zeigt sich, hat nie die Integrationskraft entfaltet, die ihre Gründer in der Charta festgelegt hatten. Zu unterschiedlich sind die Interessen der beteiligten Staaten, zu asymmetrisch die Beziehungen. Auf Basis des lockeren Verbundes etablieren sich jedoch viele andere Integrationsprojekte kleineren Umfangs, mit deren Hilfe die beteiligten Staaten – allen voran der regionale Hegemon Russland – ihre Interessen effektiver wahrnehmen können. Das wichtigste Projekt dieser Art ist bislang ohne Zweifel die Eurasische Zollunion, die 2015 mit zwei neuen Mitgliedern in die Eurasische Wirtschaftsunion übergeht.


1.dipublico.org: Charter Establishing the Commonwealth of Independent States (CIS)
2.Libman, Alexander (2007): Regionalisation and regionalism in the post-Soviet space: Current status and implications for institutional development, in: Europe-Asia Studies, 59(3), S. 401-430, hier S. 403
3.Lo, Bobo (2002): Russian foreign policy in the post-Soviet era, Hampshire, S. 72-96
4.Zu diesen Projekten siehe z. B. Meister, Stefan (2011): Ein neues Etikett für Russlands Politik im GUS-Raum, Russlandanalysen Nr. 237
5.Libman (2007), S. 415-17
6.The Moscow Times: Russia Suspends Free Trade Agreement with Ukraine
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