„Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens“, nachdem die Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers nachgewiesen war, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem öffentlichen Statement ungewöhnlich deutliche Worte. Und fügte hinzu: Die Bundesregierung verurteile dies aufs Allerschärfste und erwarte, dass die russische Regierung sich erklärt. Die reagierte Mitte September, indem sie den deutschen Botschafter in Moskau einbestellte. Sie sprach von „unbegründeten Anschuldigungen und Ultimaten an die Adresse Russlands“, was eine „Diskreditierung unseres Landes in der internationalen Arena“ bedeute. Es wurde gefordert, dass Deutschland diese „Hysterie“ unverzüglich einstelle.
Der Dialog mit Russland geriet in letzter Zeit, etwa nach dem Abschuss der Boeing MH17, der Angliederung der Krim, dem Krieg in Syrien, immer wieder auf den Prüfstand – liegt er nun endgültig auf Eis? Ja – und das ist gut so, meint Maxim Mironow, Wirtschaftswissenschaftler an der privaten IE Business School in Madrid. In seinem Blogbeitrag, den auch Echo Moskwy veröffentlichte, vergleicht er Putin mit einem Gopnik: Mit einem solchen „Hinterhof-Intellektuellen“ könne man keinen Dialog führen – denn er wird jeden in einen Endlosmonolog hineinziehen, aus dem nur er selbst als Sieger hervorgehen kann.
Ich bin in einem ziemlich proletarischen Stadtteil von Nowosibirsk aufgewachsen, mit Gopniki bekam ich es schon als Kind zu tun.
„Zu tun bekommen“ ist nicht ganz das richtige Wort, eher waren die Gopniki die dortige Elite und gaben im Kiez den Ton an. Wenn dich eine Gruppe von Gopniki anquatschte, dann endete die Sache meist damit, dass sie dir Geld abknöpften. Das konnte ganz unterschiedlich ablaufen. Eine klassische Szene sah so aus:
„Hast du Geld?“
Was erwidert man auf so eine Frage? Wenn man nein sagt, kommt sofort:
„Und wenn wir welches finden?“
Diese Frage ist schon heikler. Wenn man nämlich sagt, „dann sucht halt“, und sie finden welches, muss man das Geld abdrücken, denn man hat ja dreist gelogen und muss für seine Dreistigkeit büßen. Verweigert man die Durchsuchung aber, dann ist das noch schlimmer, weil man damit ja quasi zugibt, dass man gelogen hat (sonst hätte man ja kein Problem damit, sich durchsuchen zu lassen). Also sagt man vielleicht lieber gleich die Wahrheit und antwortet auf die Frage nach dem Geld ehrlich „ja, hab ich“. Dann folgt die Aufforderung:
„Leih mir bis morgen x Rubel, ich brauch Zigaretten.“
Ablehnen geht nicht, sonst beleidigst du den guten Kerl. Und klar ist, dass „leihen“ in dem Fall nicht heißt, dass jemand vorhat, dir das Geld zurückzugeben. Kurz, egal, was man auf diese Frage antwortet – das Geld ist man los.
Ein paarmal wurde ich ordentlich verdroschen
Viele meiner Bekannten dachten, man müsse nur lernen, mit den Gopniki po ponjatijam zu sprechen – dann könne man negative Konsequenzen vermeiden, wenn sie dich zum Dialog auffordern. Aber diese Hoffnung war vergebens: Da halfen keine Fertigkeiten. Denn wenn sie dich erst am Wickel hatten, dann konnten sie dir auch erfolgreich erklären, warum du ihnen dein Geld geben musst. Das Ziel war ja nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Ziel dieser Dialoge war ausschließlich, dir zu erklären, dass du ihnen Geld geben musst.
So hattest du schon verloren, wenn du dich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen hast. Das hatte ich relativ bald kapiert und versuchte, ihnen auszuweichen. Möglichst ruhig und neutral, etwa: „Keine Zeit, Mann, muss zur Schule“, und dann schnell weg, bevor ihnen darauf eine Antwort einfällt. Wenn ich nicht schnell wegkam, dann war es am besten, gleich auf Konfrontation zu gehen, zum Beispiel: „Was interessiert dich das?“ Ich kam natürlich nicht drumherum und wurde ein paarmal ordentlich verdroschen. Dafür hörten sie danach aber auch auf, mir Geld abzuknöpfen (obwohl ich immer welches dabeihatte).
Jede Schlägerei ruiniert das Image der „Edelmänner“
Was ich auch schon als Kind verstand: Gopniki wollen keine offenen Konflikte. Sie vermöbeln dich vielleicht ein Mal, zur Abschreckung. Aber wenn das nicht wirkt, lassen sie dich wahrscheinlich in Ruhe und widmen sich anderen, mit denen sie es leichter haben.
Warum aber wollen Gopniki keine offenen Konflikte? Das hat zwei Gründe: Erstens kann durch offene Konflikte ein für sie unangenehmer Tumult entstehen. Einmal, als sie mit meinem Kopf in der Schule eine Fensterscheibe zertrümmert haben, wurden der Notarzt und die Polizei gerufen, und diese „Schulelite“ und ihre Eltern über mehrere Tage verhört. Jede Gewaltanwendung kann außer Kontrolle geraten und die unerwünschte Aufmerksamkeit Dritter erregen. Im Fall einer freiwilligen Spende sinkt dieses Risiko gegen Null.
Zweitens – und das ist entscheidender – ruiniert jede Schlägerei das Image der „Edelmänner“. Ihr ganzes Geldbeschaffungskonzept beruht darauf, dass sie höflich sind und leise und ruhig mit dir reden. Jedes Mal, wenn sie sich das Geld mit Gewalt nehmen, stellt sie das auf eine Stufe mit ganz banalen Räubern. Aber die Gopniki sind sehr bedacht auf ihr Image als Hinterhof-Intellektuelle.
Meine Erlebnisse vor 30 Jahren haben viel mit dem zu tun, was Putin mit Merkel veranstaltet
Warum fällt mir das jetzt ein, und warum erzähle ich das so lang und breit? Weil das, was ich da vor 30 Jahren erlebt habe, viel zu tun hat mit dem, wie Putin Merkel an der Nase herumführt. Putin versucht, sie in einen endlosen Dialog zu verwickeln, in dem, egal, wie man es dreht und wendet, Putin als Sieger hervorgeht. Dieser Dialog sieht derzeit so aus:
20. August. Peskow erklärt, in Russland werde es Ermittlungen geben, falls sich der Verdacht auf eine Vergiftung Nawalnys erhärtet.
24. August. Die deutsche Klinik Charité erklärt, Nawalny sei vergiftet worden. Man sollte meinen, die Bedingung, die Peskow am 20. August gestellt hat, sei nun erfüllt. Die Ermittlungen müssten beginnen. Doch am nächsten Tag stellt der Kreml eine neue Bedingung:
25. August. Peskow zufolge gibt es bisher keinen Anlass zu Ermittlungen, da nicht bekannt sei, welcher Substanz Nawalny ausgesetzt war.
Welchen Schluss zieht daraus wohl ein normaler Mensch? Aus irgendeinem Grund muss vor Beginn der Ermittlungen die Substanz identifiziert werden. Sobald klar ist, womit Nawalny vergiftet wurde, wird mit den Ermittlungen begonnen.
2. September. Die deutschen Behörden erklären, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden, wobei dies auf höchster Ebene verkündet wurde – von der Bundeskanzlerin persönlich. Beginnt nun der Kreml seine Untersuchungen, wie Peskow am 25. August versprochen hat? Fehlanzeige. Es folgen lauter neue Forderungen und Ausreden: Ein gemeinsames Gremium mit russischen Ärzten soll her, Deutschland habe Russland die Daten nicht weitergeleitet, wenn Nawalny vergiftet wurde, dann in Deutschland und nicht in Russland, die Ermittler des Innenministeriums sollen Zugang zu Nawalny bekommen.
Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt
Wir sehen: Die Forderungen des Kreml wachsen wie die Häupter der Hydra. Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt. Das ist ein Endlosspiel, das Merkel nicht gewinnen kann, wenn sie sich an Putins Regeln hält. Angenommen, Deutschland lässt zu, dass sich russische Spezialisten selbst davon überzeugen, dass es Nowitschok war. Zeigt man ihnen einfach die Befunde, dann werden sie wahrscheinlich sagen: „Wir glauben euch das nicht, zeigt uns, wie ihr es gefunden habt.“ Wenn Deutschland das macht (womit unsere Chemiewaffenentwickler an die wertvolle Information kommen würden, an welcher Stelle sie versagt haben), können sie immer noch sagen: „Ja, Nowitschok ist nachweisbar. Aber wer sagt, dass es bei uns produziert wurde, das Rezept haben ja auch die Länder der NATO.“ Wie kann man beweisen, dass das Nowitschok aus Russland kommt? Rein theoretisch könnten deutsche Experten nach Russland fahren und alle Orte untersuchen, an denen Nawalny an jenem Morgen gewesen ist. Und da gibt es dann zwei Szenarien.
Der Gopnik Putin zieht Merkel in einen Endlosmonolog, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann
Wenn sie nichts finden (der Geheimdienst hatte ja drei Wochen Zeit, die Spuren zu beseitigen), dann heißt es im Kreml: „Aha, seht ihr, bei uns wurde nichts gefunden, also habt ihr ihn vergiftet.“ Und wenn die deutschen Experten doch etwas finden, dann kommt wieder die alte Leier: „Und wer garantiert, dass ihr das nicht mitgebracht habt, es wissen doch alle, dass Nowitschok in den NATO-Ländern hergestellt wird.“
Wenn die Deutschen aber gar nicht nach Russland fahren (etwa aus Sorge um die eigene Sicherheit), dann sagen sie im Kreml: „Aha, seht ihr, sie wollen nicht kommen, obwohl wir sie einladen. Das beweist, dass sie es waren.“ Wenn Deutschland unsere Experten nicht hereinlässt: „Seht ihr, sie lassen unsere Experten nicht rein, wollen keine Kontrolle – also haben sie was zu verbergen.“ Und wenn Deutschland auf die sinnlosen Forderungen nicht reagiert: „Seht ihr, sie antworten nicht mal auf unsere Fragen, wie sollen wir da ein Verfahren einleiten?“
Der Gopnik Putin versucht, Merkel in einen Endlosmonolog hineinzuziehen, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann. Je weiter er in diesem Dialog kommt, desto mehr Asse hat er im Ärmel. Zu jeder Antwort aus Deutschland kann man zehn neue Fragen stellen (zum Thema und am Thema vorbei), zu jeder Tatsache zehn alternative Erklärungen vorbringen und zu jeder Schlussfolgerung zehn Zweifel säen. Einen Gopnik kann man weder von irgendetwas überzeugen noch kann man ihm etwas beweisen. Er ist Kläger und Richter in einer Person. Den Überzeugungsgrad Ihres Arguments wird der Gopnik beurteilen, nicht Sie, so überzeugend Ihnen das Argument auch vorkommen mag. Dabei ist sein Ziel nicht, die Wahrheit zu finden, denn die kennt er bereits.
Einen Gopnik kann man nicht überzeugen: Er ist Kläger und Richter in einer Person
Putin fährt diese Taktik – den Partner in einen Endlosmonolog zu verstricken und lauter Zweifel zu säen – nicht zum ersten Mal. So war es im Fall der malaysischen Boeing, bei der Vergiftung der Skripals und bei Litwinenko. Aber es ist das erste Mal, dass Merkel sich nicht auf diese Gopnik-Spielchen einlässt. Nach zwei Runden Schlagabtausch („beweisen Sie, dass er vergiftet wurde“ und „dann sagen Sie, womit“), hat Deutschland einfach beschlossen, Putin zu ignorieren und alle Untersuchungsergebnisse an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sowie seine G-7-Partner weiterzugeben. Offenbar hat niemand mehr Lust, seine Zeit mit endlosen Gesprächen zu vergeuden, bei denen man am Ende auch noch selbst schuld ist.
Warum windet Putin sich wie ein Aal?
Zu guter Letzt noch die wichtigste Frage: Warum windet Putin sich wie ein Aal, anstatt dem Beispiel der Saudis zu folgen, die nach der misslungenen Beseitigung eines unliebsamen Journalisten acht Schuldige gefunden und verurteilt haben?
Dafür gibt es zwei Erklärungen: Erstens, Putin „verrät seine Leute nicht“. Es ist klar, dass das Attentat auf Befehl Putins verübt wurde. Liefert er die Täter aus, würde das seine Autorität innerhalb der mafiösen Sicherheitsstrukturen untergraben.
Zweitens mögen die Gopniki, wie ich bereits erwähnte, keinen Aufruhr und erledigen ihre Arbeit lieber still und in Ruhe. Daher auch die Taktik mit den „höflichen Menschen“ bei der Krim-Annexion, ohne einen einzigen Schuss – nach dem Motto, die haben uns die Krim doch freiwillig gegeben. Daher der langjährige Prozess der Machtmonopolisierung, der im Großen und Ganzen ruhig und ohne offene Konflikte abgelaufen ist. Daher auch der langjährige Druck auf Nawalny. Alles im Rahmen des „Gesetzes“. Und wenn es kein passendes Gesetz gibt, erfindet man eben eins.
Wenn Putin zugibt, dass einer von seinen Silowiki versucht hat, Nawalny zu ermorden, dann würde er de facto eingestehen, dass er mit seinen „intellektuellen Gopnik-Gesprächen“ nichts bei ihm ausrichten konnte und anfangen muss, wie ein Hinterhof-Gangster zu handeln – mit roher Gewalt. Aber Putin schätzt sein eigenes Image als Hinterhof-Intellektueller sehr, der „seit Mahatma Gandhis Tod keinen ordentlichen Gesprächspartner mehr hat“.