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Bidens Bärendienst

Denken Sie, dass Putin ein Killer ist? „Das tue ich“, antwortet Joe Biden, als US-Präsident noch ziemlich frisch im Amt, im ABC-Interview und löst damit eine weltweite Debatte aus: Endlich deutliche Worte? Unverschämte Beleidigung? Oder Zeichen dafür, dass die USA Russland (von Obama als „Regionalmacht“ geschmäht) wieder ernst nehmen, und sei es als Bedrohung – wie es der Historiker Sergej Radtschenko im Interview mit Meduza nahelegt. Insofern legitimiere Bidens Aussage Putin geradezu. 

Der russische Präsident hatte zunächst mit einer Anekdote aus seiner Kindheit im Petersburger Hinterhof gekontert, damals hätte es geheißen: „Wer anderen einen Namen gibt, heißt selbst so.“ Er wünsche Biden Gesundheit, „ohne Ironie“, und bot ihm außerdem ein Gespräch an, online und live. Das Weiße Haus reagierte ausweichend, man werde sicher irgendwann wieder miteinander reden. Unmittelbar nach dem Interview hatte Moskau seinen Botschafter aus Washington zu Beratungen zurückbeordert.

Ganz egal, welche Auswirkungen Bidens Antwort auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben mag: Vor allem spielt Biden der russischen Wir-sind-von-Feinden-umzingelt-Propaganda in die Hände, findet Iwan Dawydow in seinem Kommentar auf Republic.

Источник Republic

Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den russischen Politikern und Propagandisten ein echtes Geschenk gemacht. Noch nie war es so leicht, Loyalität zu demonstrieren. Nach der (übrigens ziemlich unvorsichtigen) Bemerkung von Biden ist ein regelrechter Wettstreit darüber entflammt, wer wohl mutiger zurückschlagen oder sich liebedienerischer beim Führer einschleimen könne. Es lassen sich gar nicht alle zitieren – es gab bereits dutzende Reaktionen, und dieser Karneval wird wohl noch mindestens bis zum Ende der Woche andauern.

Nehmen wir zum Beispiel Andrej Turtschak von der Regierungspartei Einiges Russland (in Journalistenkreisen natürlich vor allem für seine leidenschaftliche Liebe zu Eisenstangen bekannt): „Bidens Aussage ist Triumph des politischen Wahnsinns der USA und der altersbedingten Demenz seines Führers. Eine aus Hilflosigkeit geborene äußerste Stufe der Aggression.“ Was dann folgt ist beinahe poetisch, oder wie soll man es nennen, wenn etwas derart Heiliges berührt wird: „Wir besiegen die Pandemie. Unser Impfstoff ist der beste der Welt – die anderen planen nur. Wir haben die Familie und ihre Werte – die haben Gender und Transgender.“ Und das Wichtigste: „Überhaupt ist es schlicht eine schamlose und widerwärtige Aussage. Es ist eine Kampfansage an unser ganzes Land.“

Oder Wjatscheslaw Wolodin. Der Duma-Vorsitzende verzichtet auf jedwede Sentimentalität und kommt direkt zum Punkt: „Biden hat mit seiner Äußerung die Bürger unseres Landes beleidigt. Aus einer ohnmächtigen Hysterie heraus. Putin ist unser Präsident, Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“

Diese beiden prominenten Vertreter von Einiges Russland sind sehr politikerfahren. Oder, besser gesagt, erfahren in etwas, das in Russland schon seit Langem die Politik ersetzt. Beide spüren genau, was geschehen ist. Und beide setzen ohne zu zögern ein Gleichheitszeichen – und man beachte den feinen Unterschied – nicht zwischen Putin und dem Staat, sondern zwischen Putin und dem Land. Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Anders kann es gar nicht sein. 

Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz

Während sich weise Analytiker fragen, ob wir eine neue Stufe der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten haben (falls das überhaupt möglich ist), wollen wir einen Blick darauf werfen, was uns die Ereignisse über die Struktur des russischen Regimes verraten.

Regimekritiker sprechen oft – und nachdrücklich – von der „internationalen Isolation Russlands“. Die Verteidiger des Regimes weisen diesen Vorwurf zornig zurück und behaupten, die Isolation Russlands sei ein Mythos, wobei sie sich zum Beweis auf irgendein weiteres Abkommen mit Togo über die Nichtverbreitung von Waffen im Weltraum berufen. 

Ich würde gern mal die Begriffe genauer klären:

Alle Probleme in den Beziehungen zu Europa und den USA hat sich Putins Russland selbst geschaffen. Sukzessive, zielstrebig, über mehrere Jahre (dieser Text erscheint übrigens am Jahrestag der Rückkehr einer gewissen Halbinsel in den Heimathafen, herzlichen Glückwunsch, liebe russische Staatsbürger). Das heißt, es ist angemessener, nicht von „Isolation“, sondern von „Selbstisolation“ zu sprechen. Die russische Föderation hat auf internationaler Ebene die Praxis der Selbstisolation eingeführt.

Anfänglich sah es wie eine „Gefechtsaufklärung“ aus, oder sogar, ich bitte um Entschuldigung, wie ein Test: Wenn wir den Westen hier anpieksen, wie wird er reagieren? Und hier? Aber mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer Praxis, die vor allem für den internen Gebrauch notwendig war.
Normale Beziehungen zum „kollektiven Westen“ werden sich nicht mehr herstellen lassen, immer weniger sind die dortigen Politiker bereit, in Putin einen verhandlungsfähigen Partner zu sehen (ich nehme übrigens an, dass Biden etwas Derartiges meinte, falls seine Bemerkung überhaupt irgendeinen Sinn hatte). Denn Putin ist Russland – denken Sie an die oben angeführten Sieger-Zitate im Wettkampf um die Liebe zum Präsidenten. Man kann ihn nicht ausklammern, und man kann auch Russland nicht gänzlich aus dem internationalen Leben streichen – letztendlich ist es zu groß, zu reich an immer noch wichtigen fossilen Brennstoffen und zu gefährlich. Also wird man es zähneknirschend ertragen. Wohin auch mit ihm – der Erdball ist klein.

Und wenn das nunmal so ist, dann kann man dem Westen ganz unverblümt Gopnik-Streiche spielen und jeden seiner Versuche, darauf zu reagieren, zum eigenen Vorteil wenden.

Konflikt als Strategie

Sanktionen erfreuen die russische Führung immer weniger, aber sie bringen sie nicht um (auch künftig nicht, das ist ebenfalls klar). Also ist für die innere Ordnung jede Verschärfung der Beziehungen zur Welt ein Geschenk. Worte sind hier noch willkommener als Taten. Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen! Und zwar hier in Russland, wenn es um die Aufgabe des Machterhalts geht.

Andere Aufgaben gibt es schon lange nicht mehr und seit die Bürger der Verfassungsänderung bei der Abstimmung an frischer Luft auf Baumstümpfen zugestimmt haben, wird nicht einmal mehr sonderlich versucht, diese Tatsache zu verbergen.

Erheben die verdammten Russophoben jenseits des Ozeans etwa ihre Köpfe? Wagen sie es, unseren Wladimir, die Rote Sonne, zu beleidigen? Wie bitte? Auf die unverschämten Machenschaften des Buchhalters Kukuschkind werden wir, die Russen, antworten wie aus einem Mund: Rückt nahe zusammen! Schließt die Reihen! Der Feind steht vor der Tür!

Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen!

Doch der eigentliche Feind des Regimes ist die eigene Bevölkerung. Deren Maß an Geduld ist zwar riesig, aber vermutlich doch nicht grenzenlos. Gegen ihre (hypothetischen) Einmischungsversuche in die Politik gilt es sich zu schützen. Mit einem Regime der Selbstisolation auf internationaler Ebene lässt sich die Notwendigkeit solcher Schutzmaßnahmen wunderbar rechtfertigen:

All die endlosen Kommissionen, die „den Tatbestand ausländischer Einmischung untersuchen“, die Strafgesetze für ausländische Agenten, die Geschichten über eine internationale Verschwörung gegen Russland, das Einimpfen von Hass gegen die Welt über die staatlichen Fernsehsender ist nicht etwa deshalb nötig, weil die derzeitige russische Führung tatsächlich Angst vor einer Bedrohung durch den „kollektiven“ (das heißt fiktiven) Westen hat.

Wobei es natürlich sein kann, dass sie mittlerweile tatsächlich Angst hat. Es spricht viel dafür, dass unsere Politiker, angefangen beim obersten Führer, irgendwann begonnen haben, an ihre eigene Propaganda zu glauben. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Das Entscheidende ist, dass es in einem Regime, das sich in internationaler Selbstisolaton befindet, leicht ist, jeden internen Kritiker zu einem Handlanger des Westens zu erklären, ihm seine Selbstbestimmung abzusprechen und ihn nicht (nur) zum Feind, sondern schlimmer noch, zum Komplizen des Feindes, zum Verräter zu machen. Ein Krieg vereinfacht das Weltbild stark, und ob tatsächlich Krieg herrscht, spielt im Endeffekt keine Rolle.

Wenn du aber daran zweifelst, dass Krieg herrscht, heißt das, du bist ein feindlicher Agent.

Der Leere entgegen

Sinnvoller als darüber nachzudenken, wie sich Bidens kurze Bemerkung auf die russisch-amerikanischen Beziehungen auswirken werden, scheint es daher, sich Gedanken zu machen, was das Regime in seiner Selbstisolation auf internationaler Bühne der einfachen russischen Bevölkerung bereits (ein)gebracht hat und noch einbringen wird.

Und hier liegen die Dinge sehr einfach. Es bedeutet, dass ein Russe, der von einem Polizisten zusammengeschlagen wurde (weil er Parolen gerufen hat, einen falschen Gesichtsausdruck hatte oder dem Polizisten zufällig seine Brieftasche gefiel) sich vom Vorsitzenden des Rats für Menschenrechte eine erbauliche Rede darüber anhören darf, wie wichtig es ist, unsere Sicherheitsbeamten zu unterstützen, die uns vor Terroristen und Verschwörern schützen. Das ist alles, was er zu hören bekommt, denn die wirklichen Menschenrechtsverteidiger haben immer weniger Raum zu überleben.

Es bedeutet, dass es keine unabhängigen NGOs mehr geben wird, die die Wahlen verfolgen, Diabetikern helfen oder sich um obdachlose Katzen kümmern. Und es wird auch keine unabhängigen Aufklärungskampagnen mehr geben (die sowieso schon faktisch verboten sind).

Es wird auch keine unabhängigen Medien mehr geben. Wenn sogar die Verfassung auf Bitten der Werktätigen hin geändert werden kann, warum sollte dann nicht auch eine Zeitung auf den Wunsch der Männer des Achmat-Kadyrow-Regiments geschlossen werden können? Und so wird es weitergehen.

Für den Streit der Herren, die die Welt regieren, muss immer der Knecht seinen Kopf hinhalten.

PS: Die Praxis der Selbstisolation ist durchaus wirksam, wir sind leider Zeugen davon. Ganz ohne Makel ist sie jedoch nicht: Unweigerlich wird der Moment kommen, da der Verweis auf die Machenschaften ausländischer Feinde und ihrer hiesigen Mitläufer nicht mehr als Antwort auf jede beliebige Frage ausreichen wird, schon gar nicht auf die einfachen. Also nicht die Fragen zu Wahlen und anderen komplizierten Angelegenheiten, sondern nach den Preisen in den Läden.

Die Zerstörung jeglicher wirklicher Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft ist kein Weg zur Stabilität, sondern zu einer Explosion. Aber erstens kann es ein langer Weg sein und zweitens gibt es keine Garantie, dass nach der Explosion auf den Trümmern der Autokratie von selbst ein wunderschönes Russland der Zukunft erwächst. Nach einer Explosion ist da normalerweise erstmal ein Krater. Ein Loch.

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Im Zuge der Angliederung der Krim hat sich in Russland eine euphorische Stimmung verbreitet, die mit kaum einem zweiten Begriff so eng assoziiert wird wie Krim nasch – die Krim gehört uns. Der Ausdruck wird inzwischen nicht nur aktiv im Sprachgebrauch verwendet, sondern ziert auch zahlreiche beliebte Merchandise-Artikel.  

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Sergej Lawrow

Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.

Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.

Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation. 

Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.

Selfmade Tschinownik

Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.

Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild. 

Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die  Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten. 

Perestroika

Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.

Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 

Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2 

Neustart 

Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu. 

Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.

Antiwestliche Wende

Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz. 

Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“ 

Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie 

Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4 

Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen

Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.

Außenminister Lawrow (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während des Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg im Juni 2023 / Foto © Yevgeny Biyatov/POOL/IMAGO/ITAR-TASS

Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:

1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg).
2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy).
3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“).
4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel.
5. Wir haben die Atombombe. 

Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.

Überarbeitet am 8. März 2024


1.cyberleninka.ru: Igra s pogrusheniem v kosmos 
2.zit. nach: forbes.ru: Andrej Kozyrev: nastojaščij kamikadze 
3.The Standard: His women, war lies and life as a world stage pariah – who is Sergey Lavrov? 
4.yandex.com: search "lavrov vysmejal" 
5. gazeta.ru: Lavrovu lestno sravnenie s glavoi MID SSSR Gromyko 
6.apnews.com: For Russian diplomats, disinformation is part of the job 
7.kommersant.ru: Mnogopoljarnoe rasstroistvo 
8.dorsch.hogrefe.com: Feindbilder 
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