Dass Minsk als der weitgehend neutrale Ort erscheinen konnte, an dem einst noch Friedensgespräche geführt und Abkommen zum Krieg in der Ost-Ukraine getroffen wurden, ist 2021 kaum noch vorstellbar. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die Vermittlerrolle spätestens mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in seinem Land verspielt. Die Demonstrationen begannen nach den offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. Sowohl die EU als auch die Ukraine erkennen ihn seither nicht mehr als legitimen Präsidenten an.
Der russische Präsident Wladimir Putin versucht dagegen, Belarus immer stärker an sich zu binden: Der Kreml betrachtet das Nachbarland, mit dem bereits im Jahr 1999 die Bildung eines Unionsstaates vertraglich vereinbart wurde, als seine Einflusssphäre. Bisher war das Vertragspapier geduldig. Teils besteht ohnehin schon eine enge Zusammenarbeit; im militärischen Bereich wurde sie zuletzt vertieft. Wirtschaftlich und finanziell ist das hoch verschuldete Belarus von Russland abhängig. Ob das Anfang November 2021 unterzeichnete Paket mit 28 Programmpunkten zum Unionsstaat tatsächlich den weiteren Weg ebnet, von dem es kündet, ist offen.
Ein weiteres Feld, auf dem sich Lukaschenko jahrelang zurückhielt, ist die Krim-Frage: Seit 2014 hatte er es stets abgelehnt, die durch Russland annektierte ukrainische Halbinsel als russisch zu bezeichnen. Womöglich hatte Lukaschenko Angst, dass ihm und Belarus ein ähnliches Szenario wie der Krim drohen könnte. Allerdings macht Lukaschenko seit einiger Zeit verbale Zugeständnisse an den Verbündeten, stellte Putin Anfang November auch eine Reise zur Krim in Aussicht. In einem Interview mit dem Generaldirektor der Staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, Dimitri Kisseljow, bezeichnete Lukaschenko die Krim nun erstmals auch als „von Rechts wegen russisch“.
Würde Lukaschenko – für ein Treffen mit Wladimir Putin – auf die Krim reisen, so wäre er dort das erste Mal seit der Landnahme durch den Kreml. Ein Schritt, der als offizielle Anerkennung gewertet werden könnte.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat bereits die Äußerungen Lukaschenkos so gedeutet. Hingegen erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zunächst, es komme darauf an, ob Lukaschenkos Worten auch Taten folgen würden – wovor er ausdrücklich warnte.
Was ist von Lukaschenkos Kehrtwende zu halten? Wie sind in diesem Zusammenhang andere scharfe Äußerungen an die Adresse von EU und NATO zu lesen? Und warum rückt der Machthaber damit auch die Lage der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze in den Hintergrund, während er die Krise zuvor als Druckmittel gegen die EU eingesetzt hat?
In einer Analyse für die Online-Plattform Carnegie.ru geht der politische Beobachter Artyom Shraibman diesen Fragen nach. Dabei beleuchtet er auch, wie die kriegsgebeutelte Ukraine auf eine Krim-Reise reagieren könnte.
In dem Interview mit Dimitri Kisseljow ließ Alexander Lukaschenko einiges selbst für ihn Sensationelles verlautbaren. Nach siebeneinhalb Jahren Drahtseilakt in Bezug auf die Krim sprach Lukaschenko endlich deutlich aus: „Die Krim ist de facto russisch. Nach dem Referendum wurde sie dann auch von Rechts wegen russisch“.
Außerdem kündigte er an, dass Minsk nach 25 Jahren Pause wieder um russische Atomwaffen bitten würde, sofern die NATO – wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Aussicht gestellt habe – Atomraketen von Deutschland nach Polen verlegt.
Lukaschenko versprach zudem, im Fall eines Angriffs vonseiten der Ukraine „ökonomisch, rechtlich und politisch“ mit Russland an einem Strang zu ziehen, und kündigte gemeinsame Manöver an der ukrainischen Grenze an.
Das mit den Atomwaffen gehört natürlich in die Kategorie Hirngespinste. Die NATO hat bisher nicht vor, Atomraketen in Polen zu stationieren (Stoltenberg sprach über hypothetische Szenarien), und die Bereitschaft der Ukraine zu einem Angriff auf Russland hält sich in Grenzen. Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements sowie die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt.
Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements und die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt
Seit 2014 war Minsk dank Lukaschenkos uneindeutiger Position in der Frage „Wem gehört die Krim?“ nicht nur Verhandlungsort im Ukrainekonflikt, sondern gefiel mit seinem neuen, friedensstiftenden Gesicht auch dem Westen, vor allem mit dem gefährlichen Moskau im Hintergrund.
Doch diese Tauwetterzeiten sind vorbei. Die politische Krise seit den Wahlen 2020 das Flugverbot für europäische Flugzeuge im belarussischen Luftraum und Lukaschenkos prorussische Schlagseite machten Minsk als Verhandlungsort ungeeignet.
Die Errungenschaften aus den fünf Jahren, in denen Belarus aktiv eine multivektorale Außenpolitik (2014 bis 2019) betrieb, haben ihren Wert verloren. Die Vorteile, die die Distanzierung zu Russland brachte, gibt es nicht mehr. Und es wird sie angesichts des neuen Aufregers – der aktuellen Menschenrechtskrise – auch in absehbarer Zeit nicht geben. Erst recht mit Blick auf die Wucht, die er für den Westen entfaltet. Dafür besteht die Gefahr, Moskau zu verärgern, wenn man in der aktuellen Situation noch Neutralität vorschützt.
Heute hängt es vor allem vom guten Willen und den Spendierhosen des Kreml ab, wie friedlich Lukaschenkos verbleibende Jahre im Amt und der anschließende Machttransfer verlaufen werden. Somit hat es jetzt für Minsk Priorität, Moskaus Gunst zu erwerben, auch wenn man dabei ein Minimum an Souveränität preisgibt.
Lukaschenko will diese Gunst auf zwei Arten erwerben. Mit starken symbolischen Gesten wie der Anerkennung der Krim und indem er Russland noch tiefer in eine geopolitische Konfrontation mit dem Westen hineinzieht. Für eine belarussische Festung, die stolz den Feinden den Weg nach Moskau versperrt, wird viel lieber Geld gegeben als einem ewig schwankenden Bündnispartner, der einfach nur gut leben, nicht aber seine Wirtschaft reformieren will.
Daher achtet Lukaschenko darauf, dass seine Konfrontation mit dem Westen von Moskau nicht einfach nur als Gezanke zwischen kleinen osteuropäischen Staaten wahrgenommen wird, sondern als Teil eines großen Kreuzzugs der NATO gegen Russland und seine Freunde. Das ist der Grund, warum Lukaschenko jetzt so oft verbal mit russischen Säbeln rasselt und versucht, Moskau in seine Streitereien mit den Nachbarn zu involvieren.
Zuerst erbittet (und bekommt) er ein S-400 Boden-Luft-Raketensystem an der polnischen Grenze, dann bittet er entlang dieser Grenze um regelmäßige Flugmanöver mit russischen Kampfjets – als Reaktion auf den Einsatz polnischer Soldaten an den Hotspots der Migrationskrise. Und schließlich droht er mit russischen Kernwaffen und einem gemeinsamen Krieg gegen die Ukraine, wenn diese zuerst angreift.
Es gibt zwei Erklärungen, warum sich solche Äußerungen gerade jetzt häufen und Lukaschenko zu Konzessionen bezüglich der Krim bereit ist. Erstens laufen Verhandlungen über einen neuen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit für Minsk bei der Eurasischen Entwicklungsbank, die von Moskau kontrolliert wird.
Zweitens empfahl Putin kürzlich bei einer Rede im russischen Außenministerium der belarussischen Staatsmacht überraschend, einen Dialog mit der Opposition zu führen, nicht ohne hinzuzufügen, dass es im Land nach wie vor Probleme gebe, auch wenn sich die Lage äußerlich stabilisiert habe. Lukaschenko reagierte genervt und meinte, solle doch Putin zuerst mit Nawalny verhandeln.
Ähnlich wie viele Analysten verstand wohl auch die belarussische Staatsführung Putins Rat als Signal eines gewissen Unmuts. Der vielleicht darin wurzelt, dass Minsk versucht, die sich hinziehende, aber Moskau versprochene Verfassungsreform in einen Hebel zu verwandeln, der Lukaschenko den Machterhalt auf einem neuen Posten sichert.
Russland mit irgendetwas unzufrieden sein zu lassen, wäre jedenfalls nicht die beste Idee – jetzt, wo Kredite verhandelt werden und der Westen neue Sanktionspakete verhängt, die man mithilfe des Bündnispartners umgehen will.
Hätte Lukaschenko die Krim vor 2020 als russisch anerkannt, hätte das bei den westlichen Staaten noch Befremden und bei der Ukraine Zorn hervorgerufen. Mittlerweile hat er in diesen Ländern ohnehin den Ruf eines verzweifelten und illegitimen Despoten erlangt, der im Kampf ums Überleben zu allem bereit ist. In dieser Logik des Abwärtsstrudels der Selbstisolierung war die Anerkennung der Krim unausweichlich.
Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen
Bei den Nachbarländern von Belarus – Litauen, Polen und Ukraine – gilt Minsk längst nicht mehr als eigenständiger Player. Aus deren Perspektive waren Lukaschenkos Äußerungen nur eine formale Anpassung des belarussischen Regimes an seine prorussische, marionettenhafte Haltung. Aufgrund der geringen Erwartungen fielen die Reaktionen auf Lukaschenkos Äußerungen auch sonst ziemlich mau aus. Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen. Stattdessen waren alle mit der Vorbereitung und Verabschiedung neuer Sanktionen als Reaktion auf das Organisieren dieser Migrationskrise beschäftigt.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba antwortete leicht scherzend, es sei sinnlos, auf Lukaschenkos Bewusstseinsstrom zu reagieren, man solle nach Taten urteilen. Offenbar bereitet sich Kiew auf einen diplomatisch deutlichen Einspruch vor, sobald Lukaschenko seine Versprechen hält und gegen ukrainische Gesetze verstoßend auf die Krim fährt.
Konsequenzen wird es zwar geben, aber man darf keinen Abbruch der ukrainisch-belarussischen Beziehungen erwarten. Es ist durchaus möglich, dass Kiew seine Vertretung in Minsk zahlenmäßig herunterfährt, seinen Botschafter zurückruft und den belarussischen nach Hause schickt. Möglich sind auch neue personenbezogene Sanktionen für Reisen auf die Halbinsel und Handelskriege, doch auf den wichtigsten belarussischen Exportartikel für den ukrainischen Markt – Erdölerzeugnisse – wird Kiew nicht verzichten können.
Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder auf dem Erdölsektor besteht seit vielen Jahren. Die belarussischen Raffinerien exportieren rund 40 Prozent ihrer Erdölprodukte – Benzin, Diesel und Bitumen – in das südliche Nachbarland. Im Jahr 2021 übersteigt die Exportsumme zwei Milliarden Dollar.
Ersatz ist für die Ukraine derzeit nicht in Sicht. Die eigene erdölverarbeitende Industrie wird gerade erst wieder auf die Beine gestellt. Eine Steigerung des russischen Imports anstelle des belarussischen wäre irrwitzig, wo es doch um die Krim geht. Und Erdölprodukte aus Polen wären zu teuer.
Wegen der Krim-Episode wird es höchstwahrscheinlich auch keine extra Sanktionen des Westens geben. Minsk spielt da bereits in einer anderen Liga – Sanktionen werden für die Gefährdung der regionalen Stabilität verhängt, etwa für die Entführung der Ryanair-Maschine oder die Situation mit den Flüchtlingen. Vor diesem Hintergrund sind Lukaschenkos Worte in Bezug auf Russlands Territorialstreitigkeiten mit den Nachbarn zweitrangig.
... eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig
Vielleicht hat Lukaschenko gerade wegen der Erkenntnis, dass er gegenüber dem Westen und der Ukraine im Grunde nichts zu verlieren hat, den Mut aufgebracht, endlich diese vom großmachtsgläubigen Teil der russischen Elite so lang ersehnte Geste zu erbringen.
Im heutigen Kontext werden Lukaschenkos Äußerungen auch in der Beziehung zum Kreml kaum zu einem Durchbruch führen.
Die Unterstützung der russischen Position in Bezug auf die Krim wäre dann entsprechend gewürdigt worden, wenn sie zu einer Zeit gekommen wäre, in der sie Minsk etwas gekostet hätte. Aber eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig.
Moskau freut sich natürlich über jede Krise zwischen Minsk und Kiew. Das macht ein abgestimmtes Handeln der beiden Transitländer in der Zukunft unwahrscheinlicher und verengt den Spielraum für Minsker Manöver, die Chance, wieder zu einer Art Multivektorialität zurückzukehren.
Bei Lukaschenkos Äußerung zur Krim gibt es, genauso wie bei ein paar weiteren Verbindlichkeiten, die er eingeht, noch ein anderes Problem – nämlich ihre Haltbarkeit nach einem Regierungswechsel.
Lukaschenkos Legitimitätskrise bedeutet, dass die morgige oder übermorgige Staatsmacht versucht sein wird, sich von manchen Versprechen oder Schritten des vorangegangenen Regimes zu distanzieren. Immer mit Verweis darauf, dass sie ein Usurpator in seinem eigenen Namen unternommen hat.
Das ist schon heute aus der Rhetorik der belarussischen Opposition herauszuhören: Von den Verpflichtungen, die Lukaschenko nach August 2020 eingegangen ist, werden wir nur jene erfüllen, die sich für das belarussische Volk lohnen.
Und während man wegen der Kredite an Janukowitsch immerhin vor Gericht ziehen kann, so ist das mit einem politischen (und nicht völkerrechtskonformen) Akt wie der Anerkennung der Krim als russisch unmöglich.
Es wird sich zeigen, ob diese Geste aus Minsk Moskau zu finanzieller Freigebigkeit anspornen wird. Dem belarussischen Staat stehen im nächsten Jahr Rückzahlungen in Höhe von 3,4 Milliarden Dollar bevor, 2023 werden es über vier Milliarden Dollar sein. Bedenkt man die Auswirkungen der westlichen Sanktionen und den Stand der Währungsreserven, so wird man ohne neuerliche russische Darlehen nicht auskommen.
Im September hat Putin versprochen, Lukaschenko bis Ende 2022 eine Summe von 630 Millionen Dollar zu leihen, was ganz offensichtlich nicht genug ist. Mit Lukaschenkos Krim-Diplomatie und vor allem Putins Scheu davor, seinen Bündnispartner in Bankrott und Chaos zu stürzen, kann Minsk sich daher erlauben, auf mehr zu hoffen.
Das Problem ist, dass Lukaschenko Moskau immer wieder seine Loyalität wird beteuern müssen, und nach der Anerkennung der Krim als russisches Territorium bleibt an rhetorischen und symbolischen Konzessionen nicht mehr viel übrig.
Als nächstes wird er entweder etwas ihm Heiliges opfern müssen – sei es Staatseigentum oder Teile der Souveränität. Oder er muss mit seinen Nachbarländern dermaßen eskalieren, dass der Kreml sich nicht mehr raushalten kann. Derzeit sieht es ganz danach aus, als tendiere Lukaschenko zu Letzterem, und das ist heute die größte Gefahrenquelle für die Region.