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Belarus bin ich!

Am heutigen 4. November findet in Minsk die lang erwartete Sitzung des Obersten Staatsrates statt, des höchsten Gremiums des Unionsstaates zwischen Russland und BelarusSeit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Подробнее в нашей гнозе . Dort sollen die 28 Programme unterschrieben werden, die die beiden Länder auf dem Weg zur Integration vereinbart haben. Dabei geht es um bis dato nicht im Detail bekannte „Harmonisierungspläne“ in den Bereichen Währung, Steuern, Finanzmarkt und makroöknomische Rahmenbedingungen. Zudem soll der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus gestärkt werden. 

Aufgrund der drastischen Corona-Situation in beiden Ländern findet die Sitzung im Online-Format statt, sodass auch kein persönliches Treffen von Alexander LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit.   Подробнее в нашей гнозе und Wladimir Putin vorgesehen ist. Zwischen den beiden Autokraten scheint es seit einer langen Zeit der demonstrativen Harmonie wieder einmal zu kriseln, man provoziert sich gegenseitig mit Sticheleien – wie schon häufig in den vergangenen 15 Jahren. So nahm Putin, obwohl dies angekündigt war, nicht an der Sitzung der Eurasischen WirtschaftsunionDie Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ist das jüngste und bisher umfassendste Integrationsprojekt zwischen den großen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Bereits in den 1990er Jahren wurde im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Gemeinschaft Integrierter Staaten, später dann als Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EURASEC) das Ziel einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit verfolgt. Im Vergleich zu diesen Unionsbemühungen ist die EAWU allerdings mit deutlich tiefer greifenden Veränderungen verbunden. Подробнее в нашей гнозе Mitte Oktober in Minsk teil. Im Gegenzug gewährte Lukaschenko dem angereisten russischen Außenminister Sergej LawrowSergej Lawrow (geb. 1950) ist seit mehr als einem halben Jahrhundert im diplomatischen Dienst. Seit zwei Jahrzehnten vertritt er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt mit Fachwissen und Verhandlungsgeschick – und immer öfter auch mit Drohungen und Lügen. Подробнее в нашей гнозе keine persönliche Audienz. Der aber ließ durchblicken, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, wie wichtig Russland das VerfassungsreferendumUnter dem Druck der Proteste vom Sommer 2020 kündigte Alexander Lukaschenko eine potentielle Neuordnung der Machtverhältnisse in Belarus an. Mögliche Vorschläge zu einer entsprechenden Verfassungsreform sollten zunächst bei einer Allbelarussischen Volksversammlung erörtert werden. Seit März 2021 ist eine Verfassungskommission mit Vorschlägen für eine Verfassungsreform befasst, ohne Beteiligung der Oppositionsbewegung. Für die Abstimmung zu den etwaigen Änderungen hat Lukaschenko für den 27. Februar 2022 ein Referendum angekündigt. anscheinend ist, das für das Jahr 2022 in Belarus angekündigt ist. 

Am 22. Oktober tauchten in russischen Medien die Ergebnisse einer scheinbar geheimen Umfrage auf, die das russische, im Staatsbesitz befindliche Meinungsforschungsinstitut WZIOMDas Meinungsforschungsinstitut WZIOM veröffentlicht regelmäßig umfangreiche Umfragen zu politischen und sozialen Themen. Im Jahr 2003 wurde es von einem Forschungsinstitut in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die zu 100 Prozent dem Staat gehört. Inwieweit dies und die finanzielle Abhängigkeit von Regierungsaufträgen sich auf die Methoden und Ergebnisse der Studien auswirken, ist umstritten, insgesamt gilt das WZIOM aber als regierungsnah. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob Umfragen im gegenwärtigen politischen Klima überhaupt die Stimmung in der Bevölkerung repräsentativ abbilden können. Подробнее в нашей гнозе in Belarus durchgeführt hat, obwohl es über keine offizielle Lizenz für solche Umfragen im Nachbarland verfügt. Die Ergebnisse sind für Lukaschenko, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Denn 55 Prozent der Befragten geben an, Lukaschenko überhaupt nicht zu vertrauen, während 50 bzw. 48 Prozent der Befragten die inhaftierten Oppositionellen Maria KolesnikowaMaria Kolesnikowa (geb. 1982, blr. Maryja Kalesnіkawa) ist eine belarussische parteilose Oppositionspolitikerin. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 leitete sie das Wahlkampfteam des Kandidaten Viktor Babariko, der im Vorfeld der Wahlen festgenommen wurde. Kolesnikowa wurde am 7. September 2020 von unbekannten Männern in Minsk verschleppt. Offenbar sollte sie gezwungen werden, das Land in Richtung Ukraine zu verlassen. Allerdings verhinderte sie ihre Ausreise, indem sie ihren Pass zerriss. Seitdem befindet sie sich in Untersuchungshaft. Am 16. September 2020 wurde gegen die studierte Flötistin Anklage wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erhoben; am 4. September 2021 wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt. und Viktor BabarikoViktor Babariko (geb. 1963, belarussisch: Viktar Babaryka) ist ein belarussischer Oppositionspolitiker und ehemaliger Bankier. Seit 1995 arbeitete er im belarussischen Banksektor, zuletzt als Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank. Am 18. Juni 2020 wurde er  zusammen mit seinem Sohn unter dem Vorwurf der Korruption festgenommen und sitzt derzeit im Gefängnis. Zu diesem Zeitpunkt galt er als aussichtsreichster Oppositionskandidat. Sein Team hatte nach eigenen Angaben bereits 425.000 Unterschriften gesammelt. 100.000 sind notwendig, um offiziell als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden. als beliebteste Politiker des Landes nennen. Zudem sprechen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine stärkere Integration mit Russland aus. Unbekannt ist, wie die brisanten Ergebnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten und ob die Umfrage möglicherweise ein Fake ist. In jedem Fall sorgte sie in den sozialen Medien für genügend Gesprächsstoff und Spekulationen um die Stoßrichtung eines solchen Manövers. Dabei wurde vielerorts um solcherlei Fragen debattiert: Inwieweit meinen es die beiden Staaten ernst mit der Integration? Inwieweit ist Lukaschenko dem Kreml nützlich, die Integration voranzutreiben? Oder ist die Integration – wie auch andere Schritte, so beispielsweise die Verfassungsreform – eine Strategie, um Lukaschenko von mehreren Seiten unter Druck zu setzen und ihn letzten Endes strukturell soweit einzukreisen, dass er seine Macht aufgeben muss? Dies könnte Russland den Einfluss in Belarus ermöglichen, den es abseits des mitunter launischen und schwer zu kontrollierenden Lukaschenko schon lange sucht. Jedenfalls ermöglichte der Radiosender Echo Moskwy, der sich überwiegend im Besitz der GazpromGazprom ist das international größte Erdgasunternehmen: Auf Gazprom entfallen rund 69 Prozent der russischen und 12 Prozent der weltweiten Gasförderung. Die Aktienmehrheit gehört dem russischen Staat. Das Unternehmen beschäftigt knapp eine halbe Million Menschen und ist der größte Gas-, Strom-, und Wärmelieferant in Russland.  Подробнее в нашей гнозе -Media Holding befindet, am 26. Oktober auch noch ein Interview mit Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Подробнее в нашей гнозе . Darin sagte sie, dass der Kreml ihrer Meinung nach als Mittler bei der Machtübergabe in Belarus infrage käme. 

Die Anspannung vor dem heutigen 4. November ist also groß. Der politische Beobachter Paulyk Bykowski hält es für möglich, dass die Papiere letztlich unterzeichnet werden, aber dass sich Lukaschenko bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht drängen lässt. Denn sein größter Trumpf sei das Versprechen einer Integration, um den Kreml immer wieder zu Krediten und billigem Öl und Gas zu drängen. Eine tatsächliche Integration, mit Strukturen außerhalb seiner Kontrolle, würde Lukaschenko in Gefahr bringen, seine Macht einzubüßen. Wieder andere wie Alexander Klaskowski meinen, dass es durchaus möglich sei, dass es erst gar nicht zu einer Unterzeichnung kommt – wie schon am 8. Dezember 2019, als ebenfalls eine neue Vereinbarung in Sachen Unionsstaat anstand, die Entscheidung aber vertagt wurde. 

Währenddessen verstärkt Lukaschenko in Belarus weiter seine Kontrolle auf unterschiedlichen Ebenen, was der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Stück für das Medium SN Plus vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse analysiert. Dabei hinterfragt er auch die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus, die immer deutlichere Formen annimmt. 

Источник
SN Plus

SN Plus

Der Staat wird militarisiert

Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates. . Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

Die Personalentscheidungen vom 18. Oktober illustrieren diese Entwicklung auf drastische Weise. Justizminister ist nun nicht mehr ein Jurist, sondern ein Generalmajor der Miliz, nämlich der ehemalige stellvertretende Innenminister Sergej Chomenko. Bei seiner Ernennung erläuterte Lukaschenko den Grund für diesen Wechsel. Die Erklärungen lassen sich wie folgt interpretieren: Vom Justizminister werden Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen verlangt, also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.

Ein noch markanteres Beispiel dafür, wo das Land hinsteuert, ist die Ernennung von Oleg Tschernyschow zum stellvertretenden Präsidiumsvorsitzenden der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ist ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit Alfa beim Komitee für StaatsicherheitDas Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus (russ. Komitet gosudarstwennoi besopasnosti, kurz KGB) ist der belarussische Geheimdienst. Er ging 1991 aus dem gleichnamigen Geheimdienst der Sowjetunion hervor. Formell untersteht der KGB Präsident Lukaschenko, geleitet wird er seit dem 3. September 2020 von Iwan Tertel. Die Behörde spielt im System Lukaschenko eine zentrale Rolle für die politische Machterhaltung und für die Verfolgung von politischen Gegnern. Beobachter werfen dem belarussischen KGB wiederholte Verstöße gegen die Menschenrechte vor. Seit 2006 befanden sich seine Vorsitzenden sowie leitende Offiziere jeweils auf Sanktionslisten der EU. (KGB) und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des KGB, In den unabhängigen Medien wurde jüngst viel darüber geschrieben, dass die Schulen in Kasernen umgewandelt würden und die Miliz dort die Kontrolle übernimmt. Es scheint, als sei nun die Akademie der Wissenschaften an der Reihe. Eine verstärkte Kontrolle des KGB über die Akademie der Wissenschaften bedeutet, dass dem Regime jetzt die politische Loyalität der Mitarbeiter dort wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnisse.

Am 11. März 2021 wurde Wadim SinjawskiWadim Sinjawski (geb. 1970 in Molodetschno, belarussisch: Wadsim Sinjauski) ist ein bedeutender Amtsträger der belarussischen Sicherheitsstrukturen. Er trägt den Rang eines Generalmajors der Milizija. Von 2014 bis 2021 war er Leiter der Abteilung für Angelegenheiten des Oblast Grodno beim Innenministerium. Seit dem 11. März 2021 steht er dem Ministerium für Katastrophenschutz der Republik Belarus vor., General der Miliz, zum Minister für Katastrophenschutz ernannt. Er erklärte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter des Ministeriums, dass das Ministerium im Falle eines Ausnahmezustands die Aufgabe hat, mit der Waffe in der Hand Unruhen im Land zu unterbinden. Schließlich sei ein Offizier des Katastrophenschutzministeriums ein „Vermittler der Ideologie des Staates“. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Bekämpfung von Bränden und Überschwemmungen nur zweitrangig ist.

Die staatlichen Institutionen ändern sich also in ihrer Funktion. Anstatt ihren eigentlichen Pflichten nachzugehen, beschäftigen sie sich immer stärker mit der Bekämpfung von Regimegegnern und der Sicherstellung politischer Loyalität.

Unterstützung für das Regime wird jetzt zur Einstellungsvoraussetzung für eine Arbeit in einer staatlichen Einrichtung. Das soll auch im Arbeitszeugnis vermerkt werden. Berufliche Qualitäten der Mitarbeiter sind da zweitrangig.

Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Der wegen seiner Verschlüsselungstechnologie beliebte Messenger Telegram spielt eine wichtige Rolle bei den Protesten in Belarus. Unabhängige Medien und Journalisten betreiben dort ihre eigenen Kanäle, da ihre Internetseiten durch das Regime blockiert werden. Zudem gibt es Kanäle zum Informationsaustausch, u. a. auch solche, die private Daten wie Adressen, Telefonnummern etc. von Milizionären, OMON- oder KGB-Mitarbeitern sammeln und verbreiten, die an Festnahmen und Misshandlungen beteiligt waren.Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

In einem normalen Land liegt das Recht für Gesetzesinitiativen vor allem beim Parlament. In Belarus wird dies bislang von der Präsidialadministration und der Regierung übernommen. Jetzt tritt die Miliz in den Vordergrund. Symbolisch verdeutlicht es wieder einmal, welche Zeiten in Belarus angebrochen sind.

Dissidententum in Sachen Corona

Am 19. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zur epidemiologischen Lage im Land ab. Der Schwerpunkt seiner Rede bestand darin, dass zur Eindämmung von Corona-Infektionen keine außerordentlichen Einschränkungen vonnöten sind. Er verbat der Miliz, die Maskenpflicht zu kontrollieren und diejenigen zu bestrafen, die im öffentlichen Raum keine Maske tragen.

Lukaschenko ließ eine sehr eigenartige Einstellung zum Impfen erkennen:

„Ich kann nicht verbieten, dass Menschen geimpft werden, aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben.“

Und der wichtigste Hinweis an die Adresse der höheren Beamtenschaft: „Wem spielt ihr denn damit in die Hände?“ Ein kleiner Wink, dass es eben Feinde sind, die strenge Einschränkungen vorschlagen.

Daraufhin hob das Gesundheitsministerium am 22. Oktober die Maskenpflicht im Land auf. Sie hatte nur 13 Tage bestanden. Und das vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen.

Dieses eigenartige Dissidententum ist eine Fortsetzung der Politik, die die belarussische Regierung 2020 verfolgt hatte. Also ein Kleinreden der Gefahr und die Weigerung, wie in anderen Ländern Einschränkungen zu erlassen.

Der Starrsinn Lukaschenkos hat den gleichen Ursprung wie seine Anstrengungen, in der Konfrontation mit der protestierenden Bevölkerung zu beweisen, dass er Recht hat. Nach dem Motto: Ich habe die PräsidentschaftswahlAm 9. August 2020 fand die Präsidentschaftswahl in Belarus statt. Bereits im Vorfeld zu Beginn der Wahlkampagne waren aussichtsreiche Kandidaten inhaftiert worden. An der Wahl, die Alexander Lukaschenko nach offiziellen Angaben mit 80,23 Prozent der Stimmen gewonnen haben soll, gab es vehemente Kritik von der Oppositionsbewegung und von der internationalen Staatenwelt. Die Vorwürfe: Wahlbetrug und -manipulation. Bereits am Abend des 9. August gingen zehntausende Belarussen in vielen Städten und Orten auf die Straße. Die Machthaber antworteten mit massiver Gewalt und Repressionen. Bis zum 13. August gab es 6000 Festnahmen. wirklich mit 80 Prozent gewonnen, und alle, die anderer Meinung sind, sind vom Westen gekaufte Banditen, Extremisten und Terroristen.

Ganz ähnlich ist Lukaschenkos Covid-Dissidententum gelagert. Er gibt selbst zu, dass seine Haltung zu Covid-19 einer der Gründe für den massenhaften Unmut in der Gesellschaft war. Umso schlimmer für die Menschen: Der Führer des Volkes, kann nicht irren. Niemals und nirgendwo. Selbst wenn man sich dafür der ganzen Welt entgegenstellen und einen sehr hohen Preis bezahlen muss.

Lukaschenkos Argument, die ganze Welt habe erkannt, dass der belarussische Ansatz zur Bekämpfung des Virus richtig sei, und er werde deshalb keinen weiteren Lockdown einführen, hält keiner Kritik stand. Schließlich ist in den europäischen Ländern die Bevölkerungsmehrheit bereits geimpft oder ist auf dem Weg dorthin.

Doch es gibt hier noch eine weitere Erklärung. In anderen Staaten, selbst in denen mit einer liberalen Ideologie, übernahmen die Regierungen während der Zuspitzung der Coronakrise die Aufgabe, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Und das war der Grund für die strengen Maßnahmen, die die Kontakte zwischen den Menschen auf ein Minimum reduzieren sollten.

In Belarus hingegen enthebt Lukaschenko den Staat eines Teils seiner Aufgabe, die ja darin besteht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Er bürdet diese Verantwortung den Bürgern auf: „Jeder soll über seine Geschicke so bestimmen, wie er es für nötig hält … Keinerlei Druck auf die Leute … Alles freiwillig … Masken, Schutzmaßnahmen und Impfungen sind ganz allein eine freiwillige Angelegenheit eines jeden einzelnen“.

Das heißt, der Staat befreit sich teilweise von Pflichten, wie auch in anderen Bereichen, entledigt sich einer weiteren Aufgabe. Als ob die Aufgabe der Behörden lediglich sei, die Menschen im Krankheitsfall zu behandeln. Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Kontakte? Das ist nicht unsere Aufgabe.

Militärische Zusammenarbeit mit Russland

Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.

Der russische Verteidigungsminister Sergej SchoiguSergej Schoigu (geb. 1955) ist ein russischer Politiker und Armeegeneral. Von 2012 bis 2024 war er Verteidigungsminister. Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine soll er bei Putin in Ungnade gefallen sein. Im Mai 2024 entließ Putin den Minister und ernannte ihn zum Sekretär des Sicherheitsrates – ein Gremium, das bisher aus den wichtigsten Politikern und Funktionären des Landes bestand.  verkündete, dass Belarus und Russland als Antwort auf die Bedrohung durch den Westen eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates verabschieden würden. Das Dokument solle demnächst auf einer Sitzung des Hohen Rates des Unionsstaates beschlossen werden, die um den 4. November herum angesetzt wird.

Diese Neuigkeit ist allerdings drei Jahre alt. In Wirklichkeit ist die Militärdoktrin keineswegs neu: Das Dokument lag schon vor drei Jahren vor und sollte am 13. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Ministerrates des Unionsstaats verabschiedet werden. Minsk hatte jedoch die Unterzeichnung der Doktrin blockiert, als Zeichen des Protests gegen ein „Ultimatum“ des russischen PremierministersDer Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich. Подробнее в нашей гнозе Dimitri MedwedewDimitri Medwedew ist seit Januar 2020 stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Er war von 2012 bis 2020 Premierminister und bekleidete von 2008 bis 2012 das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Medwedew gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Putin und nimmt, nicht zuletzt als Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, eine wichtige Rolle im politischen Systems Russlands ein. Подробнее в нашей гнозе , der eine Politik des „Zwangs zur Integration“ verkündet hatte. Am 19. Dezember 2018 hat Wladimir Putin die Doktrin dann einseitig verabschiedet. Minsk sabotiert den Vorgang bis heute.

Desweiteren, so Schoigu, hätten die Verteidigungsminister von Russland und Belarus Dokumente unterzeichnet, die den Betrieb zweier russischer Militärobjekte in Belarus verlängern. Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wileika.

Doch es fehlen jegliche Einzelheiten zu diesen Papieren: Unter welchen Bedingungen werden diese Objekte weiterbetrieben? Um welchen Zeitraum wurde verlängert?

Interessant ist auch, dass Informationen über die Unterzeichnung allein von russischer Seite verbreitet wurden. Auf der Internetseite des belarussischen Verkehrsministeriums heißt es, die Minister hätten eine Verlängerung des Abkommens lediglich „erörtert“, was die Einrichtung der Radarstation bei Baranowitschi und des Fernmeldezentrums Wileika „zu den bestehenden Bedingungen angeht“(!).

Und das bedeutet, dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist. Die Unterzeichnung ist für die Sitzung des Hohen Rates am 4. November vorgesehen.

Wie dem auch sei, die militärische Zusammenarbeit von Belarus und Russland ist jedenfalls intensiver als die IntegrationsprozesseNachdem die Umsetzung des Russisch-Belarusischen Unionsvertrags von 1999 für einige Jahre in den Hintergrund gerückt war, wurde sie 2019 mit der Ausarbeitung von 31 politischen Handlungsplänen, den sogenannten Roadmaps, fortgesetzt. Die Pläne sollen konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung des Vertrages erarbeiten. Zentrale Gegenstände der Roadmaps sind die verschiedenen Wirtschaftssektoren, die Bankenaufsicht, die Vereinheitlichung von Zoll- und Steuergesetzen sowie Regulierung der gemeinsamen Märkte für Öl und Gas. in anderen Bereichen des Unionsstaates. Die militärische Präsenz Russlands auf belarussischem Territorium wird stärker. Mit allen negativen Folgen für die Souveränität von Belarus. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer KolchoseDas Wort bezeichnete in der Sowjetunion eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Es setzt sich zusammen aus den Anfängen der Wörter „kollektiv“ (kollektiwny) und „Wirtschaft/Haushalt“ (chosjaistwo). Seit 1929 wurde die Landwirtschaft mit Zwangskollektivierungen in Kolchosen organisiert. Die Betriebe waren formal selbstverwaltet, die Produktionsmittel gehörten dem Kollektiv. Die Leiter der Kolchosen wurden allerdings von der Partei eingesetzt, und der Boden gehörte dem Staat., hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander FedutaAlexander Feduta (geb. 1964, belarussisch: Aljaxandr Fjaduta) ist ein belarussischer Philologe, Publizist und Politiker. Sowohl in der Sowjetunion als auch in der Republik Belarus hatte er leitende Funktionen in staatlichen Jugendorganisationen inne. Feduta war 1994 Teil von Lukaschenkos Wahlkampfteam und später in der Präsidialadministration tätig. Ab 1995 arbeitete er als freier Journalist und Publizist. Nach den Präsidentschaftswahlen 2010 wurde er als Mitarbeiter des Kandidaten Wladimir Nekljajew verhaftet und 2011 schließlich zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nach einem erneuten Prozess wegen eines angeblich von ihm geplanten Staatsstreichs wurde er am 5. September 2022 zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Seit  April 2021 war er in Untersuchungshaft, nachdem er in Moskau festgenommen worden war. Beim Prozess erklärte er sich teils für schuldig. Das Urteil gilt als politisch motiviert., nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstrukAls bajstruk wird im Belarussischen jemand bezeichnet, dessen Vaterschaft nicht geklärt ist. In den Statuten des Großfürstentum Litauens wurden bajstruki dem Stand der Leibeigenen zugeordnet, die in den Städten beispielsweise als Mülllwerker, Henker oder Krankenpfleger arbeiteten..“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Подробнее в нашей гнозе , mit GlasnostGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. 
 
und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-SowchoseSchklou (russ. Schklow) ist eine Kleinstadt im Nordosten von Belarus. Berühmtheit erlangte die Gemeinde, die urkundlich erstmals im Jahr 1535 erwähnt wurde und die heute mehr als 20.000 Einwohner hat, weil der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko in den 1980ern die im Rajon Schklou ansässige Sowchose Udarnik als stellvertretender Vorsitzender mit leitete.  zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Подробнее в нашей гнозе . Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der SowjetunionDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Подробнее в нашей гнозе wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996Als Minsker Frühling werden eine Reihe von Protesten im Frühjahr 1996 und 1997 bezeichnet, an denen zehntausende Belarussen teilnahmen. Auslöser waren die Unterzeichnung der ersten Integrationsabkommen zwischen Belarus und Russland im April 1996, der zehnte Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe sowie ein Referendum vom November 1996, welches eine Verfassungsänderung zugunsten des Präsidenten nach sich zog und das Parlament entmachtete. Bei den Protesten kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Staatsgewalt und den Demonstranten. verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der FührerIm Original: woshd (dt. Führer). Der Autor benutzt den Begriff offenbar polemisch zur Zuspitzung. Als woshdism wird im Russischen oft eine absolute und personalisierte Herrschaftsform bezeichnet. Die sowjetische Propaganda der 1920er bis 1940er Jahre nannte Stalin nicht selten woshd. hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und LeninNach der Februarrevolution fixierte sich Lenin auf den gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung. Die bolschewistische Partei wurde zum Anziehungspunkt für alle unzufriedenen, radikalen und anarchistischen Elemente. Nach dem misslungenen Juliaufstand nutzte Lenin das Machtvakuum aus, um seine Strategie des bewaffneten Aufstandes im Oktober 1917 zu verwirklichen. Подробнее в нашей гнозе und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und FahneDie rot-grüne Flagge, die zudem ein belarussisches Ornament ziert, ist seit 1995 die Staatsflagge der Republik Belarus. Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 2012. Die Flagge, eingeführt durch ein umstrittenes Referendum unter Alexander Lukaschenko, ist weitgehend identisch mit der Flagge der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR), die im Jahr 1951 eingeführt wurde. Bis dahin war die Flagge rot wie die der Sowjetunion.  der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Подробнее в нашей гнозе in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGBDas Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus (russ. Komitet gosudarstwennoi besopasnosti, kurz KGB) ist der belarussische Geheimdienst. Er ging 1991 aus dem gleichnamigen Geheimdienst der Sowjetunion hervor. Formell untersteht der KGB Präsident Lukaschenko, geleitet wird er seit dem 3. September 2020 von Iwan Tertel. Die Behörde spielt im System Lukaschenko eine zentrale Rolle für die politische Machterhaltung und für die Verfolgung von politischen Gegnern. Beobachter werfen dem belarussischen KGB wiederholte Verstöße gegen die Menschenrechte vor. Seit 2006 befanden sich seine Vorsitzenden sowie leitende Offiziere jeweils auf Sanktionslisten der EU. noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische SpracheIn den vergangenen 200 Jahren hinderten unterschiedliche Herrschaftsbereiche und politische Systeme die moderne belarussische Sprache daran, sich durchzusetzen. Sie wurde unterdrückt und an den Rand gedrängt. Heute ist sie eine der beiden Amtssprachen der Republik Belarus und hat einen hohen Symbolwert. Подробнее в нашей гнозе an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das WappenDas Wappen Pahonja ist ein bedeutendes Wappen aus Belarus. Der Ursprung des Reiters auf Pferd, der ein Schild mit einem Doppelkreuz trägt, geht bis in das 14. Jahrhundert zurück. Es ist fast identisch mit dem heutigen Staatswappen von Litauen, was auf die gemeinsame Geschichte der beiden Länder zurückzuführen ist. Das Pahonja, was sich als Verfolgung übersetzen lässt, wurde nach dem Ende der Sowjetunion 1991 zum Staatswappen der Republik Belarus bestimmt. Nach einem umstrittenen Referendum im Jahr 1995 wurde es von Alexander Lukaschenko durch das heutige Wappen ersetzt, das sich an dem der Belarussischen Sowjetrepublik orientiert. Seitdem ist das Wappen, wie auch die weiß-rot-weiße Fahne, zum Symbol der Oppositionsbewegung avanciert.
 
in Folge eines weiteren umstrittenen ReferendumsAm 14. Mai 1995 fand in Belarus parallel zu den Parlamentswahlen ein Referendum statt, bei dem die wahlberechtigten Belarus über vier Fragen abstimmten. Letztlich entschied das Referendum, das Russische neben dem Belarussischen zur Staatssprache zu erheben, weiterhin wurde das 1991 eingeführte Wappen und die Nationalflagge durch neue Staatssymbole ersetzt, die sich an denen der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) orientierten, und Alexander Lukaschenko erhielt den Auftrag, die wirtschaftliche Integration mit Russland voranzutreiben, sowie die Macht, das Parlament vorzeitig auflösen zu können. Das Referendum wurde von der Opposition scharf kritisiert. Es löste massive Proteste, vor allem in Minsk, aus. aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki MirDas Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten.  Подробнее в нашей гнозе , mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit RusslandSeit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Подробнее в нашей гнозе und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates. . Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWDDie Inneren Truppen (russ. Wnutrennije woiska MWD Respubliki Belarus) sind paramilitärische Einheiten des belarussischen Innenministeriums. Sie kommen zum Einsatz, um lokale Miliz- und Polizeieinheiten zu unterstützen, so vor allem bei Massenveranstaltungen wie bei den Protesten gegen Alexander Lukaschenko im Jahr 2020, aber auch wenn es zu bewaffneten internen Konflikten kommt. Es dienen 12.000 Mann bei den Inneren Truppen in Belarus.11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische GesellschaftsmodellAls belarussischer Sonderweg wird die spezifische Verbindung von planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung und dem neopatrimonialen politischen System von Präsident Alexander Lukaschenko bezeichnet. Подробнее в нашей гнозе nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris JelzinBoris Jelzin (1931–2007) war der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands. Er regierte von 1991 bis 1999, seine Amtszeit war durch tiefgreifende politische und ökonomische Krisen geprägt. Jelzin setzte massive Reformen in Gang: unter anderem ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum und ein folgenschweres Programm zur Umgestaltung der politischen Kultur. Letzteres bezeichnen viele Wissenschaftler als „Entsowjetisierungs-Programm”., den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Подробнее в нашей гнозе jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim SnakMaxim Snak (geb. 1981) ist ein belarussischer Oppositioneller. Er gehörte dem Mitte August 2020 gegründeten Koordinationsrat der belarussischen Opposition an. Snak war zudem Anwalt des Bankiers und Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, dem jedoch die Teilnahme an der Wahl 2020 verboten wurde. Nach Babarikos Festnahme unterstützte Snak Maria Kolesnikowa und war auch ihr Anwalt. Am 9. September 2020 wurde Snak festgenommen und zusammen mit Maria Kolesnikowa wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ angeklagt; am 4. September 2021 wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt. und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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