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„Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

„Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.   

Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse. 

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Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai

Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.  

Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.     

Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.  

Zeiten blühender Freundschaft 

Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen. 

Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.      

Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.

Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.  

Verbrannte Erde? Nicht unbedingt 

Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.         

Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht. 

Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.  

Keine Lust auf demokratische Kräfte 

Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.   

Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.   

Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei. 

Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.                     

Angespannte Grenze 

Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen. 

„Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024. 

Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“   

Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.                             

Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen. 

Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

Belarus wurde am 24. Februar 2022 zum Ausgangspunkt für die russische Invasion der Ukraine. Sowohl in seinen Reden als auch mit technisch-logistischer Unterstützung stand der belarussische Staatschef Lukaschenka an der Seite des Kreml. Das ermöglichte russischen Truppen, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw direkt anzugreifen. Für Lukaschenka bedeutete dies einen Bruch mit seiner langjährigen Ukraine-Politik. Denn bis dahin unterhielt er gute Beziehungen zu allen sechs Präsi­denten, die seit 1991 an der Spitze der Ukraine standen. Dem lag eine pragmatische Partnerschaft zugrunde, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen fußte. 

Dabei gab es genug Grund für mögliche Spannungen: Die Revolutionen, die es in der Ukraine gab, lehnte Lukaschenka ab. Russlands Annexion der Krim – hat er lange nicht anerkannt, aber auch nicht verurteilt. Doch gerade dieses Lavieren zwischen Kyjiw und Moskau befähigte Belarus schließlich, während des Kriegs im Donbas eine Vermittlerrolle zu übernehmen. 

Was Lukaschenka auch antrieb, sich mit Kyjiw nicht auseinanderzudividieren, war der Wunsch, sich im Angesicht der zunehmenden Abhängigkeit von Russland Türen offenzuhalten. Nach der gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahl im August 2020 erhielten die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine freilich erste Risse. Der russische Angriffskrieg hat das Verhältnis beider Länder nun in seinen Grundfesten erschüttert.

Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten alle drei Länder – Russland, die Ukraine und Belarus – am 6. Dezember 1991 noch einhellig die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet und damit die Sowjetunion begraben. Mit diesem historischen Schritt verbanden die Führungen von Belarus und der Ukraine allerdings ganz unterschiedliche Erwartungen. 

So stellte die GUS für den ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk lediglich eine zivile Form der Scheidung von der Sowjetunion dar. Dementsprechend wurde die Ukraine nie vollwertiges Mitglied der GUS und beteiligte sich nur an wirtschaftlichen Kooperationsformaten. Bereits Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma erhob die europäische Integration zur außenpolitischen Leitlinie. Belarus sah hingegen in der GUS zunächst einen Ersatz für die Sowjetunion. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung verfolgte der belarussische Staatschef Lukaschenka den Weg einer engen Integration mit Russland. Dieser Weg mündete 1999 in den Plan zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaats.1 

Pragmatische Kooperation

Die unterschiedlichen außenpolitischen Strategien belasteten die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine jedoch nicht. Vielmehr gestalteten sich diese zunächst weitgehend konfliktfrei. Den einzigen Streitpunkt bildete das 1997 geschlossene zwischenstaatliche Grenzabkommen. Denn Belarus weigerte sich, es zu ratifizieren, solange die reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen aus den letzten Jahren der Sowjetunion nicht beglichen seien.2 

Mitte der Nullerjahre nahm die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Belarus und der Ukraine deutlich zu. Das hing von belarussischer Seite wesentlich damit zusammen, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Lukaschenka verlangte, als Gegenleistung für gewährte Energiesubventionen auf einige Souveränitätsrechte für Belarus, wie eine eigene Währung, zu verzichten. Lukaschenka suchte daher die ukrainische Unterstützung, um sich aus seiner Isolation als autokratischer Herrscher in Europa zu befreien. Gleichzeitig gewann der bilaterale Handel für beide Seiten an Bedeutung. 

Revolution in der Ukraine, Repression in Belarus

Die Annäherung beider Länder wurde weder dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass Lukaschenka die Orangene Revolution von 2004 ablehnte, noch durch die Parteinahme des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko für die belarussische Opposition, nach den gescheiterten Protesten gegen die gefälschte belarussische Präsidentschaftswahl von 2006. Bereits in Juschtschenkos erstem Amtsjahr gab es Regierungskontakte auf höchster Ebene, bilaterale Treffen der Präsidenten folgten 2008 und 2009. Das offizielle Kyjiw bot sich dabei als Ausrichtungsort für einen Runden Tisch zwischen den belarussischen Regierungs- und Oppositionslagern an. Gleichzeitig beteiligte sich die Ukraine nicht an den seit 2004 verhängten EU-Sanktionen gegen Lukaschenka. Stattdessen positionierte sich Juschtschenko gegenüber der EU als Türöffner für Belarus.3

Obwohl der vierte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch einen russlandfreundlicheren Kurs verfolgte, ergab sich nach der belarussischen Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 ein ähnlich ambivalentes Bild: Die Ukraine schloss sich den negativen Wahleinschätzungen von EU und OSZE an, jedoch nicht den neu verhängten EU-Sanktionen. Kyjiw plädierte vielmehr für die weitere Beteiligung von Belarus an der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“. Allerdings verzichtete die ukrainische Führung darauf, Lukaschenka im Jahr darauf zur gemeinsam mit der EU organisierten Internationalen Konferenz anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe nach Kyjiw einzuladen. Zudem belasteten diplomatische Skandale und die Verhaftung ukrainischer Aktivist*innen in Minsk4 die bilateralen Beziehungen.

Das zentrale Interesse, das beide Seiten aber weiterhin aneinanderband und an dem sich beide Seiten auch orientierten, war die wirtschaftliche Kooperation: 2012 belief sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten bereits auf 6,2 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutete eine Vervierfachung gegenüber 2008, wobei sich der belarussische Handelsüberschuss auf 2,12 Milliarden US-Dollar belief. Nach Russland war die Ukraine damit der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, wobei die belarussische Handelsbilanz gegenüber Russland ein Minus von etwa 6 Milliarden US-Dollar aufwies. Die Kooperation mit der Ukraine war für Lukaschenka somit von zentraler Bedeutung, um die Abhängigkeit des Landes von Russland zu verringern. 

Lukaschenkas Unterstützung der pro-europäischen Ukraine

Im Juni 2013 beseitigten Belarus und die Ukraine mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden während eines Lukaschenka-Besuchs in Kyjiw schließlich die letzte Hürde für das Inkrafttreten des bilateralen Grenzabkommens aus dem Jahre 1997.5 Für die Ukraine war dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Belarus konnte im Gegenzug seine wirtschaftliche Handelsposition weiter verbessern.

Als Janukowitsch im November 2013 das Ziel der EU-Integration zugunsten eines Abkommens mit Russland aufgab, verurteilte Lukaschenka zwar die Proteste des Euromaidan, die sich daran entzündeten. Für die Revolution machte er jedoch vor allem die Schwäche und die Flucht Janukowitschs verantwortlich. Im Unterschied zum Kreml akzeptierte Lukaschenka den politischen Richtungswechsel in Kyjiw und nahm im Juni 2014 an der Inauguration des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko teil. 

Gleichzeitig erklärte Lukaschenka, dass die Krim de facto zu Russland gehöre, auch wenn dies nicht de jure gelte.6 Bei anderen Gelegenheiten betonte er, Belarus werde Russland stets gegen den Westen unterstützen. Dieses Lavieren ermöglichte es Lukaschenka, für beide Seiten eine unterstützende Positionierung einzunehmen und Minsk zum Ausrichtungsort für die internationalen Vermittlungsversuche und Verhandlungen zur Regulierung des Donbas-Krieges zu machen. Fortan war Lukaschenka daher Gastgeber für die Gespräche des Normandie-Formats. Auf diese Weise konnte er seine Position gegenüber dem Kreml stärken, der den in Belarus längst schon ungeliebten Unionsstaat vorantreiben wollte. Gleichzeitig gelang ihm damit das Kunststück, die Beziehungen zur EU zu normalisieren.7 

Die politische Krise in Belarus von August 2020 als Wendepunkt

Auch zum sechsten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky unterhielt Lukaschenka zunächst gute Beziehungen. Daher war es für ihn ein Schock, als die ukrainische Führung die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 nicht anerkannte und sich im Herbst 2020 erstmals sogar den neuen EU-Sanktionen anschloss. Allerdings beschränkte sich dieses erste Sanktionspaket auf Einreiseverbote und Vermögenssperren. So weit, auch den umfassenden Wirtschaftssanktionen zu folgen, die von der EU nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 in Minsk verhängt wurden, wollte die Ukraine hingegen nicht gehen. Ebenso vermied Selensky im Unterschied zu den meisten westlichen Staatschefs ein Treffen mit Swjatlana Zichanouskaja, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Damit signalisierte Selensky, dass er den offiziellen Kommunikationskanal weiter offen zu halten gedachte. 
Gleichzeitig war die Ukraine bis zur russischen Invasion des ganzen Landes jedoch ein bedeutender Zufluchtsort für zehntausende Belaruss*innen, die vor den staatlichen Repressionen in ihrer Heimat flohen. Hinzu kommt, dass die für beide Länder zentrale wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie rückläufig war.

Die gestiegene Abhängigkeit des international isolierten Lukaschenkas gegenüber Russland und seine zunehmend aggressive antiwestliche Rhetorik wurden in Kyjiw mit wachsender Sorge gesehen. Dennoch sah man es dort nicht als eindeutiges Kriegszeichen, als Ende 2021 ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland für Februar 2022 an der belarussischen Grenze zur Ukraine angekündigt wurde. Denn angesichts der bisherigen Länderbeziehungen, die bereits einiges auszuhalten hatten, und mit Blick auf frühere Äußerungen Lukaschenkas, dass die Belarussen nie mit einem Panzer, sondern höchstens mit einem Traktor in die Ukraine fahren würden, fiel es den Ukrainern bis zum 24. Februar schwer sich vorzustellen, dass ihr Land von Belarus aus angegriffen werden könnte.8 

Minimale Kontakte im Krieg 

Der Krieg hat die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene tiefgreifend verändert. Eine erneute belarussische Vermittlungsrolle lehnte die ukrainische Führung sehr schnell ab, da sie Belarus als faktische Kriegspartei betrachtete. Kurz nach Beginn der Invasion kam es zwar zu zwei (erfolglosen) Verhandlungsrunden zwischen Delegationen aus Russland und der Ukraine, die im belarussischen Grenzgebiet abgehalten wurden. In der Folgezeit kamen jedoch andere Staaten in die Vermittlerrolle, insbesondere die Türkei. 
Dass die russische Armee damit gescheitert ist, die Hauptstadt Kyjiw zu erobern, hat etwas Druck aus den angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine genommen. So beließ Selensky seinen Botschafter in Minsk. Ebenso verzichtete die ukrainische Führung zunächst auf weitere Sanktionen. Dies änderte sich, als Belarus und Russland im Oktober 2022 die Bildung einer gemeinsamen Militäreinheit ankündigten - und damit die Gefahr der direkten Beteiligung belarussischer Soldaten am Krieg stieg. Der ukrainische Sicherheitsrat reagierte hierauf mit neuen Sanktionen und beschloss erstmals auch Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Unternehmen. Lukaschenka befindet sich allerdings nach wie vor nicht auf der ukrainischen Sanktionsliste.

Gleichzeitig blieb das offizielle Kyjiw weiterhin auf Distanz zu den von Swjatlana Zichanouskaja koordinierten belarussischen Oppositionskräften im Exil. Die Eröffnung eines eigenen Büros in Kyjiw durch Zichanouskaja im Mai 2022 wurde in der Ukraine skeptisch als PR-Maßnahme betrachtet9 – zumal in der Ukraine unvergessen ist, wie sehr Zichanouskaja sich 2020 um die Unterstützung des Kremls für die belarussische Opposition bemüht hatte. Auch insgesamt stieg das Misstrauen: Seit Kriegsbeginn waren etliche Belaruss*innen in der Ukraine mit Einreiseverboten, Kontensperrungen, verweigerten Aufenthaltsgenehmigungen und anderen Restriktionen konfrontiert.
Allerdings würdigte die ukrainische Führung Formen des aktiven Widerstands, darunter Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, mit denen auf belarussischer Seite versucht wird, den Nachschub für die russische Armee zu erschweren. Ebenso begrüßte man in der Ukraine die Bereitschaft von Freiwilligen, gegen Russland an die Front zu gehen, darunter beim Kalinouski-Regiment. Gleichwohl fällt der belarussische Widerstand aus ukrainischer Sicht insgesamt zu schwach aus - auch wenn wahrgenommen wird, dass es in der belarussischen Gesellschaft im Unterschied zu russischen nur wenige Kriegsbefürworter gibt.

Die Wiederannäherung beider Länder wird nach diesem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Lukaschenka die rote Linie womöglich doch noch überschreitet, und eigene belarussische Truppen in den Krieg schickt. 


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Sahm, Astrid (2001): Integration, Kooperation oder Isolation? Die Ukraine und Belarus' im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Osteuropa, 2001, S. 1391-1404 
2.Melyantsou, Dzianis/Kazakevich, Andrej (2008): Belarus' relations with Ukraine and Lithuania before and after the 2006 presidential elections, in: Lithuanian foreign policy review, 2008, 20, S. 47-78 
3.Siehe die Ukraine-Kapitel im Belarusian Yearbook 2011 und Belarusian Yearbook 2012 
4.So wurden mehrere Femen-Aktivistinnen verhaftet, die am ersten Jahrestag der Präsidentschaftswahl von 2010 in Minsk demonstrierten, vgl. Radio Liberty: Ukrainian Activists Allegedly Kidnapped, Terrorized In Belarus Found und vgl. Der Spiegel: Geheimdienst hat offenbar Demonstrantinnen entführt 
5.Die Ratifizierung des Abkommens durch Belarus war bereits 2009 während der Präsidentschaft Juschtschenkos erfolgt, nachdem dieser die von Belarus reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen in Höhe von 134 Mrd. US-Dollar anerkannt und getilgt hatte, vgl. Boguzkij, Oleg (2013): Belarus-Ukraine, Belarusian Yearbook 2013, S. 96-106 
6.vgl. Shraibman, Artyom: The Lukashenko Formula: Belarus’s Crimea Flip-Flops 
7.Sahm, Astrid (2014): Verhaltene Reaktionen in Belarus auf die Ukraine-Krise, in: SWP-Aktuell 46, Juni 2014 
8.vgl. Reform.by: Belarus' – Ukraina: Ot „priechat' na traktore“ do „jasno, na č'ej storone“ 
9.So wurde beispielsweise Valeri Kavaleuski, dem Repräsentanten von Zichanouskaja in der Ukraine, im August 2022 zwischenzeitlich die Einreise verweigert, vgl. Globsec: Policy Brief: Ukraine-Belarus Relations: Going Beyond the War; vgl. Nasha Niva: Valerija Kovalevskogo ne pustili v Ukrainu 
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