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„Als wäre es ein Horrorfilm“

Belarus hat bis heute zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Corona-Pandemie Quarantänemaßnahmen für die eigene Bevölkerung verordnet. Im vergangenen Jahr, als während der ersten Corona-Welle die Regierungen weltweit Massenveranstaltungen untersagten und auch Schulen, Restaurants oder Kneipen schließen mussten, ging das Leben in Belarus seinen vermeintlich normalen Gang, auch in die Fußballstadien durften die Fans, was dem sonst kaum beachteten belarussischen Fußball internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Staatsführer Alexander Lukaschenko verkündete lauthals, dass Wodka, Traktorfahren oder ein Gang in die Banja helfen würden, das Virus zu bekämpfen. Das allerdings  habe er damals im Scherz gesagt, entgegnete Lukaschenko dem Interviewer von CNN Anfang Oktober dieses Jahres und fügte an: „Aber Sie wollen sagen, dass dieser Diktator in Belarus ein Wahnsinniger ist, der die Menschen nicht heilt. Ich bin sogar noch tiefer in die Materie eingetaucht als Sie alle im Westen, als alle Führungskräfte zusammen.“  

Dass der Staat seinen selbstbeschworenen Fürsorgepflichten nicht nachkam und auf die Pandemie lasch reagierte, war auch ein Grund – so sehen es Experten – für die angeheizte Proteststimmung in der Bevölkerung im Jahr 2020. Mittlerweile ist die Situation in Belarus, das ebenfalls mit der vierten Welle zu kämpfen hat, dramatisch. An vier aufeinanderfolgenden Tagen seit dem 12. Oktober übersprangen die Neuinfektionen bei einer Bevölkerungszahl von 9,4 Millionen die 2000er-Marke. Auch die Regionen vermelden überfüllte Krankenhäuser und neue Rekordzahlen. Aufgrund der Überlastung wurde die medizinische Versorgung in ambulanten Gesundheitseinrichtungen teilweise ausgesetzt, wie beispielsweise für ambulante Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oder physiotherapeutische Behandlungen. Seit dem 9. Oktober gilt nun erstmals landesweit eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an öffentlichen Plätzen. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem Ausbruch von Corona 4402 Personen mit oder an dem Virus in Belarus verstorben. Kritiker gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen.

Bei den Impfungen nimmt Belarus einen der hintersten Plätze in Europa ein. 18,6 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben durchgeimpft, 1,75 Millionen Personen. Als Impfstoffe sind in Belarus die russischen Fabrikate Sputnik V und Sputnik light zugelassen, die teilweise auch im Land selbst produziert werden, sowie das chinesische Vero Cells. Seit Monaten lässt die Staatsführung verlautbaren, dass man auch an einem eigenen Impfstoff arbeite. Als Grund für die mangelnde Impfbereitschaft der Belarussen nennt beispielsweise der Arzt Igor Tabolitsch, der bereits im vergangenen Jahr offen das staatliche Fehlverhalten gegenüber den Corona-Maßnahmen kritisierte, an den Protesten teilnahm und schließlich nach Moskau ging, das zerrüttete Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung:  „Propaganda ist ein Spiel gegen den Staat. Alles, was die Behörden jetzt einführen wollen, wird mit Skepsis betrachtet.“  

Das belarussische Online-Medium Reformation widmet sich der aktuellen Corona-Lage in Belarus, indem es Ärzte und anderes medizinisches Personal zu Wort kommen lässt

Источник Reformation

Die vierte Covid-19-Welle hat Belarus fest im Griff. Sogar das Gesundheitsministerium vermeldete jetzt erstmals über 2000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Die Stationen sind überfüllt, Betten stehen auf den Fluren, in jedem Minsker Krankenhaus sterben zehn bis 15 Patienten pro Tag an Corona. Fast keiner der Krankenhauspatienten ist geimpft, und die Epidemie nimmt gerade erst an Fahrt auf. Darüber hat Reform.by mit Medizinern gesprochen, die beim Kampf gegen Covid an vorderster Front stehen. Wir haben mehrere Mitarbeiter verschiedener Minsker Krankenhäuser und zwei Rettungssanitäter aus Minsk und Umgebung interviewt. Um unsere Quellen nicht zu gefährden, nennen wir keine konkreten Krankenhäuser und Bezirke. Die Ärzte betonen jedoch, dass die Situation überall ungefähr gleich schlecht ist.  

„Die Menschen entwickeln begleitende Psychosen“
Alexandra (Name geändert), Rettungssanitäterin in der Oblast Minsk:

„Viele sind infiziert. In der Stadt gibt es abgesehen von einem reinen Infektionskrankenhaus, das sowieso schon für Covid-Patienten reserviert war, noch zwei weitere: Eines wurde für alles andere als Corona bereits komplett geschlossen, das zweite teilweise. Oft reicht der Platz nicht aus. Sehr häufig kommt es vor, dass Leute aus anderen, aus Nicht-Covid-Stationen entlassen werden, und nach ein paar Tagen werden sie positiv auf das Virus getestet.
Das Personal ist erschöpft, wir hatten ja im Grunde keine Pause. Aber sie strengen sich an, übernehmen Zusatzfunktionen, machen Überstunden. Wie groß der Personalmangel ist, kann ich nicht genau sagen, aber dass alle mehr als Vollzeit arbeiten, weiß ich ganz bestimmt. Die Krankenschwestern und -pfleger infizieren sich selbst, ihre Kinder auch ...
Im Vergleich fühlt sich diese Welle stärker an. Die Komplikationen treten sehr schnell ein. Man bekommt Fieber, und nach ein paar Tagen hat man schon Lungenentzündung, 45 Prozent erleiden Lungenschäden. Noch dazu haben viele Leute begleitende Psychosen. Oft wirst du zu einem Covid-Patienten gerufen und siehst, dass er auch psychisch leidet. Todesangst, Panik, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Depressionen – die Ausformungen sind unterschiedlich. 

Ein paar Mal wurden wir nach Sputnik-Impfungen gerufen: Die Leute klagten über Schwäche, Fieber, Husten. Unter den Covid-Infizierten gibt es zwar auch Geimpfte, aber wir haben es dann höchstens mit mittelschweren Fällen zu tun, von schweren Verläufen ist mir nichts bekannt. Was die Zahl der Toten betrifft, kann ich nichts sagen. Es heißt immer, in unserem Bezirk sterben viele, aber dazu wird nicht viel berichtet.“

„Statt drei Ärzten ist oft nur einer auf der Station“
Nikolaj (Name geändert), Notarzt, Minsk:

„Die Situation in den Krankenhäusern selbst kenne ich nicht gut. Aber ich weiß, dass vor den Notaufnahmen, wo wir die Patienten hinbringen, lange Schlangen sind. Ich weiß, dass Leute auch schon fünf Stunden gewartet haben und ohne Untersuchung wieder gegangen sind. Also ja, wahrscheinlich gibt es ein Platzproblem.
Das Personal bei uns in den Rettungswagen kommt mit der Situation ganz gut zurecht. Ja, im letzten Monat gab es mehr Notrufe, mehr Patienten mit Fieber. Aber im Herbst und Winter sind es immer mehr als sonst.  
Natürlich ist auch das Personal krank, nicht alle Brigaden sind voll besetzt, manchmal ist auf einer Dienststelle nur ein Arzt statt drei. Das war auch vor einem Jahr so, während der zweiten Welle.
Ich hatte selbst vor Kurzem Covid, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, und wieder fast symptomlos, nur ein paar Tage Halsschmerzen und um die 37 Grad, diesmal war nicht einmal mein Geruchssinn beeinträchtigt. Im Frühling habe ich mich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen.“

„Bei uns auf der Intensivstation gab es überhaupt keine geimpften Patienten“
Jekaterina (Name geändert), Anästhesistin in einem Minsker Krankenhaus, das teilweise zum Covid-Krankenhaus umgerüstet wurde:

„Die Infektionszahlen steigen, das sieht man nicht nur an den Intensivstationen, sondern auch an den Inneren Abteilungen. Vor ein paar Tagen waren die Zimmer überfüllt und die Patienten lagen ohne Sauerstoffgeräte auf dem Flur. Wir haben versucht, das irgendwie zu lösen, und entließen die stabileren Patienten. Der Platz ist sehr knapp, wir haben höchstens ein oder zwei freie Betten pro Tag.   

Auf der Intensivstation haben wir heute fast zweieinhalbmal so viele Patienten wie Betten (es geht hier um ein paar Dutzend Menschen, die genauen Zahlen wurden zur Sicherheit der Auskunftsperson entfernt – Anm. Reform.by). Sie liegen in Zusatzbetten. In Dreibettzimmern liegen zum Beispiel vier Personen, in Einzelzimmern zwei. Außerdem wird derzeit in den OPs nicht operiert, sondern sie sind zur Behandlung von Intensivpatienten umfunktioniert.“

Gelingt es unter solchen Bedingungen, die nötige Hilfe zu leisten?

„Natürlich nicht. Wir bemühen uns aus Leibeskräften, aber es ist körperlich sehr schwer. Sie haben gefragt, ob das medizinische Personal ausreicht. Im Prinzip arbeiten wir vorschriftsmäßig nach Protokoll. Ein Facharzt für Intensivmedizin ist zum Beispiel für sechs Patienten zuständig, eine Krankenschwester auf der Intensivstation muss drei Patienten versorgen – und so ist es auch ungefähr. Aber wenn man bedenkt, wie schwer die Fälle sind … Manchmal sind es auch acht Patienten, manchmal noch mehr, aber auch wenn es sechs sind, ist es für einen allein körperlich sehr anstrengend, sich um sie zu kümmern. Weil sich ihr Zustand alle fünf Minuten ändern kann. Auch für die Krankenschwestern ist es schwer. Während der Arzt noch gewisse Pausen hat, in denen er die Zone verlassen kann, sind die Krankenschwestern rund um die Uhr auf der Intensivstation.    
Es kommt auch vor, dass nicht genügend Medikamente da sind oder Einwegprodukte für Geräte fehlen. Elementare Dinge wie Infusionsschläuche, Katheter … Nichts von höchster Priorität, aber wenn zum Beispiel ein Patient bessere Antibiotika braucht, und man muss sie erst bestellen – das kostet Zeit, dabei bräuchten wir sie hier und jetzt. So etwas passiert jetzt leider manchmal. Auch die Beatmungsgeräte, die seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz sind, gehen manchmal kaputt, noch dazu in den unpassendsten Momenten. 
Im Vergleich zu den vorherigen Wellen sind die Symptome der Krankheit im Grunde dieselben. Nur die Patienten werden merklich jünger. Während es in der ersten Welle 70- bis 80-Jährige waren und in der zweiten 60+, sind es jetzt viele Junge, 40- bis 50-Jährige. Die schweren Fälle, wohlgemerkt. Generell erkranken alle Altersgruppen, aber wie ich auf der Intensivstation sehe, trifft es jetzt gerade die Jungen besonders hart. 

Wie viele Leute sterben, ist jeden Tag anders. Manchmal an einem Tag keiner, manchmal fünf oder sechs Personen. Im Durchschnitt sterben bei uns im Krankenhaus zwei bis drei Menschen pro Tag.     
Was Geimpfte betrifft, die werden auch krank, aber sehr selten. Ich habe Bekannte und Verwandte, die geimpft sind, manche von ihnen wurden krank, aber nur leicht. Dass so jemand ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation kommt – nein, Geimpfte trifft man dort äußerst selten an.“

Hatten Sie auf der Intensivstation geimpfte Patienten?

„Nein, bei uns gar nicht.“

Und was sagen Ihre Patienten zur Impfung, bereuen sie es, nicht geimpft zu sein?

„Verschieden, die meisten verstehen nicht, dass sie das hätte retten können. Sie glauben, nachdem man auch mit Impfung krank werden kann, ist sie unwirksam. Ein Mann war bei uns, der sagte: Uns hat auf der Arbeit ein Kollege angesteckt, obwohl er geimpft war. Aber Fakt ist, dass dieser geimpfte Kollege jetzt gesund und munter ist, während der Mann künstlich beatmet werden muss.“

„In einer Schicht habe ich sechs Leichen abtransportiert“
Wladimir (Name geändert), technischer Arbeiter an einem anderen Minsker Krankenhaus: 

„Vor ein paar Wochen wurden wir wieder auf Covid umgestellt. Kürzlich habe ich in einer Schicht fünf Leichen abtransportiert, in einer anderen sechs. Zum Vergleich, in der vorigen Welle, im Winter, sind in unserer Abteilung ein bis zwei Menschen pro Tag gestorben und im ganzen Krankenhaus fünf bis sechs. Jetzt sind es insgesamt 15 bis 16 Menschen pro Tag. Im Leichenhaus wird der Platz knapp, manchmal bahren wir die Toten vorübergehend draußen auf, bis ein Platz frei wird.  
Die Patienten sind jünger als früher. Derzeit liegt auf der Intensivstation eine 24-Jährige mit schlechten Chancen, außerdem ein kräftiger, brutaler Kerl, 34 Jahre alt. Auf dieser Intensivstation rechnet man nicht mit Entlassung, man geht davon aus, dass diese Leute sterben. Mit manchen ist es schon nach ein oder zwei Tagen vorbei.

Das Personal ist derzeit überwiegend gesund, alle, die ich kenne, arbeiten. Alle sind geimpft, das wurde von den Mitarbeitern auch verlangt. Kann sein, dass auch jemand verweigert hat, aber davon wüsste ich nichts. Voriges Jahr, als es noch keine Impfung gab, sind circa 80 Prozent des Personals erkrankt.“

„Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreichen würden. Die Sache nimmt grad erst an Fahrt auf“
Tatjana (Name geändert), Internistin an einem Minsker Krankenhaus:

„Unser Krankenhaus ist jetzt fast zur Gänze ein Covid-Krankenhaus, kürzlich wurden noch ein paar Abteilungen umfunktioniert, andere gibt es fast gar keine mehr. Die Aufnahmen werden seit ein paar Wochen immer mehr. Pro Tag kommen mindestens 130 bis 150 Menschen in die Aufnahme, insgesamt haben wir über 800 Covid-Patienten. Der Platz reicht nicht für alle. Es ist schon vorgekommen, dass Betten auf den Flur gestellt wurden, dementsprechend gab es für diese Patienten keinen Sauerstoff. Dann schieben wir sie die nächsten Stunden durch die Station, tauschen Plätze – je nachdem, wer den Sauerstoff gerade dringender braucht. Wer ohne Sauerstoff auskommt, wird – wenn er nicht sonstwie in einer lebensbedrohlichen Lage ist – nach Hause geschickt. 
Die Intensivstation ist sowieso immer voll … Viele Patienten, die laut Anordnung des Gesundheitsministeriums und aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Zustands auf der Intensivstation liegen sollten, werden in normalen Abteilungen behandelt. Und du rennst hin und drehst sie auf den Bauch und überlegst, wie sie mehr Sauerstoff kriegen können.       
Der Unterschied zu den vorherigen Wellen: viele Patienten, schwere Verläufe, kurze Krankheitsdauer, viele junge Menschen. An einem Tag sterben im Krankenhaus im Schnitt zehn bis 15 Patienten. Regelmäßig wird in den Abteilungen für Begräbnisse gesammelt, weil Eltern und Partner von Mitarbeitern sterben. 
Der Anteil der geimpften Patienten ist schwer auszumachen, von allen stationär aufgenommenen vielleicht maximal zehn bis 20 Prozent. Aber sie sind viel weniger schwer krank, kommen nur vereinzelt auf die Intensivstation. Normalerweise sind das jene, die nur die erste Teilimpfung haben und dann das Virus noch irgendwo aufschnappen. 
Ärzte und Krankenschwestern gibt es an sich noch genug, doch bei uns arbeitet niemand mehr nur die vertraglich festgelegten Stunden. Aber wir kommen zurecht. Manchmal gibt es Ausfälle bei Medikamenten, aber nach ein, zwei Wochen ist die Apotheke wieder aufgefüllt. Derzeit gibt es vorübergehend nicht genug Schutzanzüge, wir flicken ständig an unseren herum.  
Alle Ärzte sind im Dauerstress, weil wir nicht wissen, wann das vorbei ist … Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreicht hätten, die Zahlen sind grad erst im Aufschwung. Die Kollegen aus den Polikliniken sind auch recht gut darin, uns Steine in den Weg zu legen: Sie raten den Leuten vom Impfen ab, mit dem Argument, dass sie zu viele chronische Krankheiten hätten. Dabei kommt eben das heraus, was wir jetzt haben.
Es ist ein Krieg. Wenn einem beim Einkaufen jemand mit der Maske am Kinn zu nahe kommt, zuckt man zurück. Möchte ihm am liebsten eine reinhauen und ihn anschreien: ‚Setz deine Maske ordentlich auf!‘ Dann fährt man mit dem Auto, alles ist ruhig, man geht spazieren, alles wie immer … Aber kaum kommst du zur Arbeit, ist Krieg. Als ob das alles nicht bei uns wäre, als wäre es ein Horrorfilm.“     

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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