Belarus hat bis heute zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Corona-Pandemie Quarantänemaßnahmen für die eigene Bevölkerung verordnet. Im vergangenen Jahr, als während der ersten Corona-Welle die Regierungen weltweit Massenveranstaltungen untersagten und auch Schulen, Restaurants oder Kneipen schließen mussten, ging das Leben in Belarus seinen vermeintlich normalen Gang, auch in die Fußballstadien durften die Fans, was dem sonst kaum beachteten belarussischen Fußball internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Staatsführer Alexander Lukaschenko verkündete lauthals, dass Wodka, Traktorfahren oder ein Gang in die Banja helfen würden, das Virus zu bekämpfen. Das allerdings habe er damals im Scherz gesagt, entgegnete Lukaschenko dem Interviewer von CNN Anfang Oktober dieses Jahres und fügte an: „Aber Sie wollen sagen, dass dieser Diktator in Belarus ein Wahnsinniger ist, der die Menschen nicht heilt. Ich bin sogar noch tiefer in die Materie eingetaucht als Sie alle im Westen, als alle Führungskräfte zusammen.“
Dass der Staat seinen selbstbeschworenen Fürsorgepflichten nicht nachkam und auf die Pandemie lasch reagierte, war auch ein Grund – so sehen es Experten – für die angeheizte Proteststimmung in der Bevölkerung im Jahr 2020. Mittlerweile ist die Situation in Belarus, das ebenfalls mit der vierten Welle zu kämpfen hat, dramatisch. An vier aufeinanderfolgenden Tagen seit dem 12. Oktober übersprangen die Neuinfektionen bei einer Bevölkerungszahl von 9,4 Millionen die 2000er-Marke. Auch die Regionen vermelden überfüllte Krankenhäuser und neue Rekordzahlen. Aufgrund der Überlastung wurde die medizinische Versorgung in ambulanten Gesundheitseinrichtungen teilweise ausgesetzt, wie beispielsweise für ambulante Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oder physiotherapeutische Behandlungen. Seit dem 9. Oktober gilt nun erstmals landesweit eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an öffentlichen Plätzen. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem Ausbruch von Corona 4402 Personen mit oder an dem Virus in Belarus verstorben. Kritiker gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen.
Bei den Impfungen nimmt Belarus einen der hintersten Plätze in Europa ein. 18,6 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben durchgeimpft, 1,75 Millionen Personen. Als Impfstoffe sind in Belarus die russischen Fabrikate Sputnik V und Sputnik light zugelassen, die teilweise auch im Land selbst produziert werden, sowie das chinesische Vero Cells. Seit Monaten lässt die Staatsführung verlautbaren, dass man auch an einem eigenen Impfstoff arbeite. Als Grund für die mangelnde Impfbereitschaft der Belarussen nennt beispielsweise der Arzt Igor Tabolitsch, der bereits im vergangenen Jahr offen das staatliche Fehlverhalten gegenüber den Corona-Maßnahmen kritisierte, an den Protesten teilnahm und schließlich nach Moskau ging, das zerrüttete Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung: „Propaganda ist ein Spiel gegen den Staat. Alles, was die Behörden jetzt einführen wollen, wird mit Skepsis betrachtet.“
Das belarussische Online-Medium Reformation widmet sich der aktuellen Corona-Lage in Belarus, indem es Ärzte und anderes medizinisches Personal zu Wort kommen lässt
Die vierte Covid-19-Welle hat Belarus fest im Griff. Sogar das Gesundheitsministerium vermeldete jetzt erstmals über 2000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Die Stationen sind überfüllt, Betten stehen auf den Fluren, in jedem Minsker Krankenhaus sterben zehn bis 15 Patienten pro Tag an Corona. Fast keiner der Krankenhauspatienten ist geimpft, und die Epidemie nimmt gerade erst an Fahrt auf. Darüber hat Reform.by mit Medizinern gesprochen, die beim Kampf gegen Covid an vorderster Front stehen. Wir haben mehrere Mitarbeiter verschiedener Minsker Krankenhäuser und zwei Rettungssanitäter aus Minsk und Umgebung interviewt. Um unsere Quellen nicht zu gefährden, nennen wir keine konkreten Krankenhäuser und Bezirke. Die Ärzte betonen jedoch, dass die Situation überall ungefähr gleich schlecht ist.
„Die Menschen entwickeln begleitende Psychosen“
Alexandra (Name geändert), Rettungssanitäterin in der Oblast Minsk:
„Viele sind infiziert. In der Stadt gibt es abgesehen von einem reinen Infektionskrankenhaus, das sowieso schon für Covid-Patienten reserviert war, noch zwei weitere: Eines wurde für alles andere als Corona bereits komplett geschlossen, das zweite teilweise. Oft reicht der Platz nicht aus. Sehr häufig kommt es vor, dass Leute aus anderen, aus Nicht-Covid-Stationen entlassen werden, und nach ein paar Tagen werden sie positiv auf das Virus getestet.
Das Personal ist erschöpft, wir hatten ja im Grunde keine Pause. Aber sie strengen sich an, übernehmen Zusatzfunktionen, machen Überstunden. Wie groß der Personalmangel ist, kann ich nicht genau sagen, aber dass alle mehr als Vollzeit arbeiten, weiß ich ganz bestimmt. Die Krankenschwestern und -pfleger infizieren sich selbst, ihre Kinder auch ...
Im Vergleich fühlt sich diese Welle stärker an. Die Komplikationen treten sehr schnell ein. Man bekommt Fieber, und nach ein paar Tagen hat man schon Lungenentzündung, 45 Prozent erleiden Lungenschäden. Noch dazu haben viele Leute begleitende Psychosen. Oft wirst du zu einem Covid-Patienten gerufen und siehst, dass er auch psychisch leidet. Todesangst, Panik, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Depressionen – die Ausformungen sind unterschiedlich.
Ein paar Mal wurden wir nach Sputnik-Impfungen gerufen: Die Leute klagten über Schwäche, Fieber, Husten. Unter den Covid-Infizierten gibt es zwar auch Geimpfte, aber wir haben es dann höchstens mit mittelschweren Fällen zu tun, von schweren Verläufen ist mir nichts bekannt. Was die Zahl der Toten betrifft, kann ich nichts sagen. Es heißt immer, in unserem Bezirk sterben viele, aber dazu wird nicht viel berichtet.“
„Statt drei Ärzten ist oft nur einer auf der Station“
Nikolaj (Name geändert), Notarzt, Minsk:
„Die Situation in den Krankenhäusern selbst kenne ich nicht gut. Aber ich weiß, dass vor den Notaufnahmen, wo wir die Patienten hinbringen, lange Schlangen sind. Ich weiß, dass Leute auch schon fünf Stunden gewartet haben und ohne Untersuchung wieder gegangen sind. Also ja, wahrscheinlich gibt es ein Platzproblem.
Das Personal bei uns in den Rettungswagen kommt mit der Situation ganz gut zurecht. Ja, im letzten Monat gab es mehr Notrufe, mehr Patienten mit Fieber. Aber im Herbst und Winter sind es immer mehr als sonst.
Natürlich ist auch das Personal krank, nicht alle Brigaden sind voll besetzt, manchmal ist auf einer Dienststelle nur ein Arzt statt drei. Das war auch vor einem Jahr so, während der zweiten Welle.
Ich hatte selbst vor Kurzem Covid, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, und wieder fast symptomlos, nur ein paar Tage Halsschmerzen und um die 37 Grad, diesmal war nicht einmal mein Geruchssinn beeinträchtigt. Im Frühling habe ich mich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen.“
„Bei uns auf der Intensivstation gab es überhaupt keine geimpften Patienten“
Jekaterina (Name geändert), Anästhesistin in einem Minsker Krankenhaus, das teilweise zum Covid-Krankenhaus umgerüstet wurde:
„Die Infektionszahlen steigen, das sieht man nicht nur an den Intensivstationen, sondern auch an den Inneren Abteilungen. Vor ein paar Tagen waren die Zimmer überfüllt und die Patienten lagen ohne Sauerstoffgeräte auf dem Flur. Wir haben versucht, das irgendwie zu lösen, und entließen die stabileren Patienten. Der Platz ist sehr knapp, wir haben höchstens ein oder zwei freie Betten pro Tag.
Auf der Intensivstation haben wir heute fast zweieinhalbmal so viele Patienten wie Betten (es geht hier um ein paar Dutzend Menschen, die genauen Zahlen wurden zur Sicherheit der Auskunftsperson entfernt – Anm. Reform.by). Sie liegen in Zusatzbetten. In Dreibettzimmern liegen zum Beispiel vier Personen, in Einzelzimmern zwei. Außerdem wird derzeit in den OPs nicht operiert, sondern sie sind zur Behandlung von Intensivpatienten umfunktioniert.“
Gelingt es unter solchen Bedingungen, die nötige Hilfe zu leisten?
„Natürlich nicht. Wir bemühen uns aus Leibeskräften, aber es ist körperlich sehr schwer. Sie haben gefragt, ob das medizinische Personal ausreicht. Im Prinzip arbeiten wir vorschriftsmäßig nach Protokoll. Ein Facharzt für Intensivmedizin ist zum Beispiel für sechs Patienten zuständig, eine Krankenschwester auf der Intensivstation muss drei Patienten versorgen – und so ist es auch ungefähr. Aber wenn man bedenkt, wie schwer die Fälle sind … Manchmal sind es auch acht Patienten, manchmal noch mehr, aber auch wenn es sechs sind, ist es für einen allein körperlich sehr anstrengend, sich um sie zu kümmern. Weil sich ihr Zustand alle fünf Minuten ändern kann. Auch für die Krankenschwestern ist es schwer. Während der Arzt noch gewisse Pausen hat, in denen er die Zone verlassen kann, sind die Krankenschwestern rund um die Uhr auf der Intensivstation.
Es kommt auch vor, dass nicht genügend Medikamente da sind oder Einwegprodukte für Geräte fehlen. Elementare Dinge wie Infusionsschläuche, Katheter … Nichts von höchster Priorität, aber wenn zum Beispiel ein Patient bessere Antibiotika braucht, und man muss sie erst bestellen – das kostet Zeit, dabei bräuchten wir sie hier und jetzt. So etwas passiert jetzt leider manchmal. Auch die Beatmungsgeräte, die seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz sind, gehen manchmal kaputt, noch dazu in den unpassendsten Momenten.
Im Vergleich zu den vorherigen Wellen sind die Symptome der Krankheit im Grunde dieselben. Nur die Patienten werden merklich jünger. Während es in der ersten Welle 70- bis 80-Jährige waren und in der zweiten 60+, sind es jetzt viele Junge, 40- bis 50-Jährige. Die schweren Fälle, wohlgemerkt. Generell erkranken alle Altersgruppen, aber wie ich auf der Intensivstation sehe, trifft es jetzt gerade die Jungen besonders hart.
Wie viele Leute sterben, ist jeden Tag anders. Manchmal an einem Tag keiner, manchmal fünf oder sechs Personen. Im Durchschnitt sterben bei uns im Krankenhaus zwei bis drei Menschen pro Tag.
Was Geimpfte betrifft, die werden auch krank, aber sehr selten. Ich habe Bekannte und Verwandte, die geimpft sind, manche von ihnen wurden krank, aber nur leicht. Dass so jemand ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation kommt – nein, Geimpfte trifft man dort äußerst selten an.“
Hatten Sie auf der Intensivstation geimpfte Patienten?
„Nein, bei uns gar nicht.“
Und was sagen Ihre Patienten zur Impfung, bereuen sie es, nicht geimpft zu sein?
„Verschieden, die meisten verstehen nicht, dass sie das hätte retten können. Sie glauben, nachdem man auch mit Impfung krank werden kann, ist sie unwirksam. Ein Mann war bei uns, der sagte: Uns hat auf der Arbeit ein Kollege angesteckt, obwohl er geimpft war. Aber Fakt ist, dass dieser geimpfte Kollege jetzt gesund und munter ist, während der Mann künstlich beatmet werden muss.“
„In einer Schicht habe ich sechs Leichen abtransportiert“
Wladimir (Name geändert), technischer Arbeiter an einem anderen Minsker Krankenhaus:
„Vor ein paar Wochen wurden wir wieder auf Covid umgestellt. Kürzlich habe ich in einer Schicht fünf Leichen abtransportiert, in einer anderen sechs. Zum Vergleich, in der vorigen Welle, im Winter, sind in unserer Abteilung ein bis zwei Menschen pro Tag gestorben und im ganzen Krankenhaus fünf bis sechs. Jetzt sind es insgesamt 15 bis 16 Menschen pro Tag. Im Leichenhaus wird der Platz knapp, manchmal bahren wir die Toten vorübergehend draußen auf, bis ein Platz frei wird.
Die Patienten sind jünger als früher. Derzeit liegt auf der Intensivstation eine 24-Jährige mit schlechten Chancen, außerdem ein kräftiger, brutaler Kerl, 34 Jahre alt. Auf dieser Intensivstation rechnet man nicht mit Entlassung, man geht davon aus, dass diese Leute sterben. Mit manchen ist es schon nach ein oder zwei Tagen vorbei.
Das Personal ist derzeit überwiegend gesund, alle, die ich kenne, arbeiten. Alle sind geimpft, das wurde von den Mitarbeitern auch verlangt. Kann sein, dass auch jemand verweigert hat, aber davon wüsste ich nichts. Voriges Jahr, als es noch keine Impfung gab, sind circa 80 Prozent des Personals erkrankt.“
„Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreichen würden. Die Sache nimmt grad erst an Fahrt auf“
Tatjana (Name geändert), Internistin an einem Minsker Krankenhaus:
„Unser Krankenhaus ist jetzt fast zur Gänze ein Covid-Krankenhaus, kürzlich wurden noch ein paar Abteilungen umfunktioniert, andere gibt es fast gar keine mehr. Die Aufnahmen werden seit ein paar Wochen immer mehr. Pro Tag kommen mindestens 130 bis 150 Menschen in die Aufnahme, insgesamt haben wir über 800 Covid-Patienten. Der Platz reicht nicht für alle. Es ist schon vorgekommen, dass Betten auf den Flur gestellt wurden, dementsprechend gab es für diese Patienten keinen Sauerstoff. Dann schieben wir sie die nächsten Stunden durch die Station, tauschen Plätze – je nachdem, wer den Sauerstoff gerade dringender braucht. Wer ohne Sauerstoff auskommt, wird – wenn er nicht sonstwie in einer lebensbedrohlichen Lage ist – nach Hause geschickt.
Die Intensivstation ist sowieso immer voll … Viele Patienten, die laut Anordnung des Gesundheitsministeriums und aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Zustands auf der Intensivstation liegen sollten, werden in normalen Abteilungen behandelt. Und du rennst hin und drehst sie auf den Bauch und überlegst, wie sie mehr Sauerstoff kriegen können.
Der Unterschied zu den vorherigen Wellen: viele Patienten, schwere Verläufe, kurze Krankheitsdauer, viele junge Menschen. An einem Tag sterben im Krankenhaus im Schnitt zehn bis 15 Patienten. Regelmäßig wird in den Abteilungen für Begräbnisse gesammelt, weil Eltern und Partner von Mitarbeitern sterben.
Der Anteil der geimpften Patienten ist schwer auszumachen, von allen stationär aufgenommenen vielleicht maximal zehn bis 20 Prozent. Aber sie sind viel weniger schwer krank, kommen nur vereinzelt auf die Intensivstation. Normalerweise sind das jene, die nur die erste Teilimpfung haben und dann das Virus noch irgendwo aufschnappen.
Ärzte und Krankenschwestern gibt es an sich noch genug, doch bei uns arbeitet niemand mehr nur die vertraglich festgelegten Stunden. Aber wir kommen zurecht. Manchmal gibt es Ausfälle bei Medikamenten, aber nach ein, zwei Wochen ist die Apotheke wieder aufgefüllt. Derzeit gibt es vorübergehend nicht genug Schutzanzüge, wir flicken ständig an unseren herum.
Alle Ärzte sind im Dauerstress, weil wir nicht wissen, wann das vorbei ist … Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreicht hätten, die Zahlen sind grad erst im Aufschwung. Die Kollegen aus den Polikliniken sind auch recht gut darin, uns Steine in den Weg zu legen: Sie raten den Leuten vom Impfen ab, mit dem Argument, dass sie zu viele chronische Krankheiten hätten. Dabei kommt eben das heraus, was wir jetzt haben.
Es ist ein Krieg. Wenn einem beim Einkaufen jemand mit der Maske am Kinn zu nahe kommt, zuckt man zurück. Möchte ihm am liebsten eine reinhauen und ihn anschreien: ‚Setz deine Maske ordentlich auf!‘ Dann fährt man mit dem Auto, alles ist ruhig, man geht spazieren, alles wie immer … Aber kaum kommst du zur Arbeit, ist Krieg. Als ob das alles nicht bei uns wäre, als wäre es ein Horrorfilm.“