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„Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

Allein am vergangenen Sonntag, beim Marsch der Volksmacht, hat der Machtapparat von Alexander Lukaschenko über 1000 Menschen festgenommen, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Insgesamt wurden mehr als 18.000 Menschen seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August und der nachfolgenden Proteste in Gewahrsam genommen oder inhaftiert. Die Belarussen demonstrieren seit über drei Monaten gegen die exzessive Gewalt, für ihre Grundrechte und für Neuwahlen.

Auch Jelena Lewtschenko verbrachte 15 Tage im Okrestina Gefängnis von Minsk. Sie wurde für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“ verurteilt. Die 37-Jährige gehört als Basketballerin zu den berühmtesten Sportlerinnen des Landes. Am 30. September war sie am internationalen Flughafen von Minsk festgenommen worden. Wie sie kritisieren mittlerweile auch zahlreiche andere bekannte Sportler und Sportlerinnen die Gewalt gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen und fordern Neuwahlen. Das Regime reagiert darauf nicht nur mit Haft- und Geldstrafen, sondern auch mit Kündigung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele verlieren ihren Platz in den Nationalteams.

Über die alltäglichen Formen der Erniedrigung und der Manipulation in der Haft, darüber, wie sich die Insassen versuchen zu widersetzen, warum Jelena Lewtschenko selbst infolge der Proteste derart politisiert wurde – darüber sprach sie mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza

Источник Meduza

Alexandra Siwzowa: Wo sind Sie zur Zeit?

Jelena Lewtschenko: Vor ein paar Tagen bin ich in Athen angekommen. Ich wollte schon im September hierher fliegen, bin aber am Flughafen verhaftet worden. Ich mache hier eine Reha, und es gibt die Möglichkeit, mit einem Team zu trainieren.

Wie wurden Sie verhaftet?

Ich hatte es noch nicht mal bis zum Check-in geschafft. Ich war gerade dabei, meine Taschen in Folie zu packen – da bemerke ich, wie mir jemand auf die Schulter klopft. Ich sehe zwei Milizionäre. Sie grüßen und sagen, dass sie mich wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen verhaften müssen. Ich hatte das erwartet – aktuell ist es das Gängigste, wofür man in Belarus festgenommen wird.

Haben Sie geahnt, dass man Sie verhaften könnte?

Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich schon frühmorgens festnehmen können, oder auch am Vorabend. Ich habe es also nicht direkt erwartet. Ich war unter Schock, aber ich habe sie angelächelt. Ich habe sofort gebeten, meinen Anwalt und meine Mutter anrufen zu können. Schon als ich auf das Flughafengelände fuhr, war mir ein Auto der Miliz aufgefallen. Es stand entgegen der Fahrtrichtung, so konnten sie beobachten, wer in den Flughafen fuhr. Wie mir später klar wurde, wurde dann weitergegeben, wer das Gelände betrat. Ich fragte mich: „Warum haben die das nicht schon früher gemacht? Damit wenigstens das Gepäck nicht vollends eingewickelt würde.“ Offensichtlich haben sie den letzten Moment abgewartet – die Verhaftung war demonstrativ: Immerhin mussten sie 45 Kilometer zum Flughafen fahren, und dann dieselbe Strecke wieder zurück.

Ich war ja noch nie im Gefängnis –

Gott bewahre, dass das noch mal geschieht

Sie wurden dann sofort in das Gefängnis in der Uliza Okrestina gebracht? 

Nein, zuerst zum RUWD, dem Revier der Miliz im Leninski Rajon. Dort sprach ein Mann namens Iwan Alexandrowitsch Skorochodow mit mir – seine Position ist mir nicht bekannt; aber später stellte sich heraus, dass er Zeuge war in meinem Fall, obwohl er nicht vor Gericht erschien.
Ich bat ihn, meinen Anwalt zu kontaktieren. Er sagte, dass er das noch nicht machen könne. Als ich dann ins Okrestina Gefängnis kam, bot er mir an, den Anwalt anzurufen, wenn ich denn die Tastensperre aufheben, die Nummer wählen und es ihm sofort reichen würde. Ich lehnte ab, weil ich wusste, dass er das Telefon hätte einstecken können – und ich es nicht mehr wiedergesehen hätte. 

Beschreiben Sie Ihren ersten Tag in der Haft.

Am ersten Tag [im Revier] kam ich in eine Zelle für zwei Personen. Es war bereits eine Frau dort. In der Zelle stand ein Etagenbett, Matratzen gab es nicht, dafür bekam ich Bettwäsche. Man sagte, dass ich wahrscheinlich einen Tag hierbleiben würde, ich würde eine Geldstrafe zahlen müssen und würde dann entlassen. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie das allen sagen. Der Prozess fand am selben Tag statt. Als ich so dalag und auf den Beginn der Verhandlung wartete, hörte ich plötzlich, wie Frauen in anderen Zellen begannen, Grai und Kupalinka zu singen. Ich stimmte ein und weinte natürlich augenblicklich los. Es war so berührend, ich hatte das Gefühl, dass wir – sogar im Gefängnis – alle zusammen sind. 
Als wir zu Ende gesungen hatten, klatschten alle los. Das werde ich nie vergessen. Dann kam der Prozess, ich bekam 15 Tage, und am nächsten Tag wurde ich in die Haftanstalt [in der Okrestina Straße] verlegt – in eine Vierer-Zelle, wo ich zwei Wochen verbrachte.

Wie haben die 15 Tage Sie geprägt?

Ich konnte mich nochmals vergewissern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich sehe, wie grausam diese Menschen sind. Demütigung ist ihre Spezialität. Das Okrestina ist ein schwarzer Fleck, viele Tränen, viel Schmerz. Alles, was dort in den Tagen nach der Wahl passiert ist, ist irrsinnig. Jetzt gibt es dort nicht mehr so viel physische Misshandlung, nicht so viele Schläge, aber alles, was dort jetzt geschieht, bezeichne ich als psychische Gewalt und moralischen Druck. Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.

Wie waren die Haftbedingungen?

Wir waren zu dritt in einer Zelle. In der ersten Nacht hatten wir Matratzen, Wasser, die Klospülung funktionierte. Doch am 2. Oktober ging es los. Nach dem Frühstück kam ein Mann herein und befahl uns, die Matratzen zusammenzurollen. Wir rollten sie ein; wir dachten, wir hätten vielleicht etwas falsch gemacht. Über die Regeln in der Haft hatte man uns nicht aufgeklärt. Ich war ja noch nie im Gefängnis – Gott bewahre, dass das noch mal geschieht. Doch wenn es Regeln gibt, muss man auch sagen, welche – aber nichts da. Es gab lediglich ein Papier, auf dem stand, dass man täglich 13,50 Rubel [etwa 4,50 Euro – dek] für die Verpflegung zahlen muss.

Wann haben Sie die Matratzen zurückbekommen?

Zunächst dachten wir, man habe sie eingesammelt, um sie zu säubern, um Läuse und Bettwanzen zu entfernen. Aber wir haben sie gar nicht zurückbekommen.

Haben Sie denn versucht, sie zurückzubekommen?

Ja, noch am selben Tag. In der Zelle gab es einen Knopf für Notfälle – den drückten und drückten wir. Lange hat niemand reagiert; dann kam ein wütender Wächter. Er öffnete die Zelle, packte die Frau, die ihm am nächsten stand, und führte sie heraus. Fünf Minuten später kam sie zurück. Er hatte ihr gesagt: „Sag den alten Schachteln, dass sie sich beruhigen sollen, Matratzen gibts nicht.“ 
Am selben Tag wurde uns das warme Wasser abgestellt und auch die Spülung, dann wurden zwei weitere Personen zu uns in die Zelle gesteckt – in einer Vierer-Zelle waren wir dann zu fünft. 
Wir wussten nicht, wie man so schlafen soll. Also haben wir Zeitungen und Kleidung ausgebreitet. Als Größte habe ich mich auf eine Bank gelegt, eine andere Frau auf den Tisch. Zwei lagen zusammen im Bett, denn es war sehr kalt, die Heizung wurde nicht warm.

Innerhalb von 15 Tagen durften wir

nur fünfmal an die frische Luft

Was bekamen Sie als Antwort, als Sie darum baten, das Warmwasser und die Heizung einzuschalten? 

Die Antworten waren immer dieselben: „Wir wissen nichts, wir entscheiden nichts, ihr müsst die Leitung fragen, das hängt nicht von uns ab.“ Oder wir wurden einfach ignoriert.

Wie lange ging das im Endeffekt so?

Die ganze Zeit, die ich dort war. Keine Matratzen, warmes Wasser gab es erst am vorletzten Tag. Wir baten um eine Waschmöglichkeit, aber in den 15 Tagen konnten wir nicht ein einziges Mal duschen. Innerhalb von 15 Tagen durften wir nur fünfmal an die frische Luft.

Wer saß zusammen mit Ihnen ein?

Die meisten im Okrestina Gefängnis hatten an den friedlichen Protesten teilgenommen. Ein Mädchen war aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko. Es gab eine Belarussin, die in der Schweiz lebt – sie war nach Belarus gekommen, weil sie nicht gleichgültig zusehen konnte, was hier vor sich geht. 
Mittlerweile ist mir klar, dass die Bedingungen, unter denen wir inhaftiert waren, dass das alles Absicht war.

In den Zellen herrschten also unterschiedliche Bedingungen?

Gegenüber von uns gab es eine Zelle mit jungen Männern. Wenn das Essen gebracht wurde, ließen die [Wachen] manchmal die Klappe auf und wir konnten einander zuwinken. Ich dachte, dies sei eine gute Gelegenheit, sie nach dem Wasser zu fragen. Mit großen Buchstaben schrieb ich diese Frage auf: „Habt ihr warmes Wasser?“, dann schob ich den Zettel rüber. Die Jungs haben es zuerst nicht gesehen; und als ich es noch einmal versuchte, sahen sie es schließlich und nickten. Da wussten wir Frauen, dass irgendetwas nicht stimmt.

Haben Sie am Ende herausgefunden, warum es in Ihrer Zelle diese Bedingungen gab?

Ja. Einen Abend durften wir rauf in einen tollen Raum mit Stühlen, Tischen und einem Fernseher. Irgendwann sahen wir einen Mann in Uniform – es war der Leiter der Haftanstalt, Jewgeni Schapetiko. Er stellte sich vor und sagte, dass wir die Polizei vielleicht nicht mögen, dass es für die Polizisten aber auch schwer sei. Dann wurde ein Film eingeschaltet. Später haben mir die Mädels erzählt, dass ihnen ein Kerl in Sturmhaube aufgefallen sei. Der hatte mit dem Telefon gefilmt, wie wir den Film anschauen.

Was war das für ein Film?

Ein regierungsfreundlicher Film aus dem belarussischen Fernsehen. Darin wurden verschiedene Bilder gezeigt – von Leuten, die Telefonnummern von Milizbeamten an Telegramkanäle schickten. Davon, wie jemand einen alten Mann angriff. Dann gab es Filmmaterial aus dem [Zweiten] Weltkrieg und wie die Großväter gekämpft haben. Dann noch von Kundgebungen und wie wir faschistische Flaggen tragen. Die Zielrichtung der Propaganda: Wir [Demonstranten] würden uns nur für unsere Handys interessieren, aber nicht fürs Kinderkriegen.
Dann war der Film vorbei. Der Chef der Haftanstalt sagte, er werde so etwas in seiner Stadt nicht zulassen. Dann fing er an, über Gesetze zu reden. 

Was hat er gesagt?

Er sei hier für die Haftbedingungen verantwortlich: „Es läuft alles so, dass ihr nie wieder herwollt.“ 
Er fragte: „Wie habt ihr euch das denn vorgestellt?“ Die jungen Männer entgegneten geschickt, dass sie sich das so vorgestellt haben, wie es in unserem belarussischen Fernsehen gezeigt wird. Kurz zuvor hatte der Sender CTV einen Beitrag gebracht, wie schön und gut doch alles in der Okrestina sei.

Waren denn bei denen, die den Mund aufgemacht haben, die Bedingungen ähnlich schlecht?

Eine Frau aus meiner Zelle hat den anderen nach dem Film diese Frage gestellt. Die Jungs verneinten. Dann hielten wir Schapetiko vor, dass man in der Okrestina offensichtlich Menschenrechte verletzen würde. Der Leiter der Haftanstalt entgegnete nur, dass er über diese Sache nachdenken werde, dann ging er zum Ausgang, und es änderte sich nichts.

Die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben,

kann ich nicht verzeihen

Hat Sie im Gefängnis jemand erkannt?

Die Milizionäre haben mich erkannt. Einmal kamen wir von einem Spaziergang zurück, und der Wächter fragte: „Lewtschenko, rauchst Du etwa? Hast ja sehr um den Spaziergang gebettelt.“ Und ich fragte zurück: „Darf man nicht spazierengehen wollen?“ 
Meinen Nachnamen kannten sie. Wenn eine neue Frau in die Zelle kam, war es immer amüsant: „Und Sie sind wirklich Jelena Lewtschenko? Sind Sie Jelena Lewtschenko? Du bist tatsächlich Jelena? Ich hätte nie gedacht, dass ich dich in der Okrestina treffe.“ Nun, was soll ich darauf antworten? So was passiert eben. Machen wir uns also bekannt!

Was haben Sie in der Zelle so gemacht?

Jemand, der vor uns gesessen hatte, hatte ein Damespiel auf ein Blatt gezeichnet. Wir haben uns aus Weiß- und Schwarzbrot Figuren gebastelt und gespielt. Wir haben uns bemüht, Witze zu machen, haben Lieder gesungen und uns unterhalten. Und jetzt, wo ich durch die Sozialen Netzwerke surfe, sehe ich tatsächlich Nachrichten von den Jungs, die in der Zelle nebenan waren. Die schreiben da: „Wir haben gehört, wie ihr gesungen habt, wir haben euch applaudiert.“ Irgendwo in einer anderen Zelle gab es eine Frau, die jeden Abend sehr schön sang. Richtige Konzerte gibt es in der Okrestina.

Nach 15 Tagen Haft wurden Sie erneut festgenommen – wiederum wegen der Teilnahme an Protesten. Aber dann bekamen Sie eine Geldstrafe und wurden entlassen. Warum?

Ich denke, dass das alles eine große zusammenhängende Geschichte ist, „ein demonstrativer Vorgang“ sozusagen. Anderen Sportlern und Menschen sollte Angst gemacht werden, man wollte so demonstrieren, dass es jeden erwischen kann. Aber ich habe gar nicht erwartet, dass man mich gehen lässt, ich habe keine Gnade von denen erwartet. Eine Geldstrafe – bedeutet das in deren Verständnis nicht sogar Gnade? Doch die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben, kann ich nicht verzeihen.

Was für eine Grausamkeit?

Ich habe erst am Vorabend erfahren, dass ich am nächsten Morgen einen weiteren Prozess haben würde. Was bedeutete, dass man mich nicht entlassen würde. Aber darüber wurden meine Familie und Freunde nicht informiert. Sie brachten meine Mama und meinen Vater dazu, um sechs in der Früh zur Okrestina zu kommen und auf mich zu warten. Das Foto, das durch alle Medien ging, werde ich nie vergessen: wie Mama an Papas Schulter weint.

Haben Sie keine Angst davor, sich zu äußern?

Wenn die mir an den Kragen wollen, werden sie das sowieso tun. Wir sind in keiner Weise geschützt. Seien wir ehrlich: Ich habe keine Gesetze gebrochen oder Verbrechen begangen. Aber das spielt heute in Belarus keine Rolle, denn menschliches Leben hat keinen Wert. Das ist der rechtliche Normalzustand, und der ist das Einzige, was aktuell in Belarus zählt. Deshalb ist alles, was wir tun können, die Wahrheit zu sagen und davon zu berichten, was wir erleben.

Unterhalten Sie sich mit Sportlern aus Belarus?

Jeden Tag.

Wie reagieren die auf die Proteste?

Weltklasse-Athleten schweigen leider und kommentieren die Situation überhaupt nicht. Manchmal posten sie etwas, was sich gegen Gewalt richtet, aber Gewalt ist ja nur die Folge. Über den eigentlichen Grund sprechen sie nicht.

Was halten Sie von Menschen, die in der aktuellen Situation nicht den Mund aufmachen?

Es scheint, als säßen die im Gefängnis, und wir sind – im Gegenteil dazu – frei. Anfänglich war ich schon empört: Ich wollte, dass die Athleten reden – vor allem die berühmten. Doch darauf darf man sich nicht versteifen. Das soll jeder machen, wie er will. Hauptsache, es geht weiter. Wir sind viele. Bis heute haben bereits 998 Athleten einen offenen Brief mit Forderungen an die Machthaber unterschrieben.

Sie waren bis 2020 ein unpolitischer Mensch, richtig?

Ja, ich war unpolitisch – im Jahr 2020 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gewählt. Die Belarussen sind wirklich aufgewacht! Früher waren wir überzeugt, dass sich nichts ändern würde, wenn wir [gegen Lukaschenko] stimmen. Es war Teil der Mentalität. Man wird vergiftet – man tut so, als sei alles in Ordnung. Alles, was man tun kann, ist, alles runterzuschlucken. Das ist nicht nur mit der Politik so. Das betrifft alles.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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