„Russland erkennt die beiden selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR als unabhängig an.“ „Russland schickt Truppen in die Separatistengebiete“ – nach diesen Nachrichten am späten Abend des 21. Februar 2022 kündigten die EU und auch die USA umgehend Sanktionen an. Der UN-Sicherheitsrat trat noch in der Nacht zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Auch die Bundesregierung sprach von einem klaren Bruch des Minsker Abkommens, am heutigen Dienstag gab sie bekannt, das Genehmigungsverfahren der Pipeline Nord Stream 2 vorerst zu stoppen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky sagte in seiner Rede an die Nation noch in der Nacht, man setze sich weiter für den diplomatischen Weg ein und erwarte von den Partnern klare Maßnahmen der Unterstützung. „Es ist unser Land und wir haben keine Angst vor niemandem.“
Die Dramaturgie des 21. Februar 2022 begann nachmittags mit einer öffentlich ausgestrahlten außerordentlichen Sitzung des Sicherheitsrats. Dieser tagt sonst hinter verschlossener Tür. Viral in Sozialen Medien ging dabei der Auftritt von SWR-Chef Sergej Naryschkin, der sich stark nervös und eingeschüchtert zeigte und zunächst von einem Beitritt des Donbass in die Russische Föderation sprach – worauf Putin ihn korrigierte, es gehe um die Anerkennung der Unabhängigkeit. Die Mitglieder des nationalen Sicherheitsrats sprachen sich geschlossen für eine Anerkennung der beiden selbst ernannten Volksrepubliken aus. Dort hatte am Freitag vergangener Woche die Evakuierung begonnen, nachdem immer wieder von einem vermeintlichen „Genozid“ die Rede gewesen war.
In einer anschließenden Fernsehansprache erklärte Präsident Putin, die beiden selbst ernannten Volksrepubliken als unabhängig anzuerkennen. In der Rede selbst sprach er dabei nur am Rande vom „Genozid“ und ging vor allem auf die Geschichte und Gegenwart der Ukraine ein, die er – wie schon in seinem Aufsatz aus dem vergangenen Jahr – als einen untrennbaren „Teil unserer Geschichte, unserer Kultur” bezeichnete. Die moderne Ukraine, so behauptete Putin unter anderem, sei „voll und ganz von Russland erschaffen worden, vom kommunistischen, bolschewistischen Russland“. Per Dekret leitete er im Anschluss die Anerkennung der Unabhängigkeit der „DNR“ und „LNR“ ein. Noch in der Nacht entsandte Russland Truppen in Richtung Donbass.
dekoder bringt russische und belarussische Stimmen aus der Debatte.
Tatjana Stanowaja: Der Tag, an dem Putin auf die dunkle Seite der Geschichte wechselte
Die Politikwissenschaftlerin und Analystin Tatjana Stanowaja prognostiziert auf Telegram den Anfang vom Ende der Ära Putin, zumal es in der russischen Gesellschaft keinen allzu großen Rückhalt für einen Krieg gegen die Ukraine gebe:
erschienen am 21.02.2022, Original
Noch vor der Rede Putins hatte Stanowaja – eigentlich bekannt für ihre nüchternen Analysen – auf ihrem Telegram-Kanal mit Blick auf die Ukraine zugleich eine düstere Prognose skizziert:
Außerdem gibt es ein Minimalziel-Szenario – die DNR und LNR einfach anzuerkennen. Doch darin sehe ich keinen Sinn. Als die Anerkennungs-Initiative der KPRF gerade aufgekommen war, schrieb ich einen Post, dass Moskau die DNR und LNR nur dann anerkennen wird, wenn es auch nach einem beträchtlichen Teil der Ukraine greifen wird. Doch im Endeffekt habe ich den Text nicht veröffentlicht – zu diesem Zeitpunkt wirkte es wie Alarmismus, von dem es überall genug gab. Jetzt erscheint mir das mehr als wahrscheinlich.
При этом есть и сценарий минимум - признать просто ДНР и ЛНР, но, как я уже много раз писала, я не вижу в этом никакого смысла. Еще когда только появилась эта инициатива КПРФ с признанием, я написала пост, что Москва признает ДНР и ЛНР только в одном случае - если замахнется на значительную часть Украины. Но в итоге этот текст я так и не опубликовала - на тот момент это казалось искусственным нагнетанием, которого и там было много вокруг. Теперь мне это кажется более чем вероятным.
erschienen am 21.02.2022, Original
Artyom Shraibman: Posttraumatische Belastungsstörung
Der belarussische Journalist Artyom Shraibman sieht im Vorgehen Russlands das Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung einer ehemaligen Großmacht. Er fragt auf Telegram, was das für Belarus bedeuten könnte.
Bleibt das aus, entsteht für die Leader traumatisierter Gesellschaften nach einiger Zeit eine unwiderstehliche Versuchung umzuschalten und nicht mehr die eigenen Fehler zu korrigieren, sondern die erlittenen historischen Ungerechtigkeiten.
Für Belarus weniger wichtig ist der kleine Spatz Donbass, den Putin offensichtlich beschlossen hat zu verschlingen, nachdem er dem Westen die zuvor geforderten Zugeständnisse nicht abringen konnte. Wichtiger ist der Ansatz dieses Mannes und seiner Gefolgschaft, was die Zweitrangigkeit des gegenwärtigen Status quo, seiner Grenzen und „zufällig entstandenen Staaten“ angeht und die Priorität von Traumata und Erniedrigungen, die seine Generation von Sowjetmenschen erlitten hat.
Wir sollten uns die Fehler merken, die seinerzeit in der Aufarbeitung dieser Traumata gemacht wurden, als sie noch heilbar waren. Vielleicht wird unsere Generation einst solche Probleme verhindern müssen bei denen, für die das Ende von Putins Russland und Lukaschenkos Belarus zum Trauma wird.
Речь Путина - это очень четкая демонстрация того, как важно помогать бывшим империям сразу после коллапса выйти из пост-травматического синдрома (или не войти в него).
Если этого не сделать, мы получаем на какой-то дистанции непреодолимый соблазн лидеров травмированного общества переключиться с коррекции себя на коррекцию исторических несправедливостей по отношению к себе.
Для Беларуси не так важен донбасский чижик, которого, кажется, решил съесть Путин, не добившись от Запада затребованных уступок. Важнее сам подход этого человека и его окружения к вторичности современного статус-кво, его границ и «случайных государств» при первичности травм и унижений, которые перенесло его поколение советских людей.
Важно запомнить ошибки работы с этими травмами в то время, пока их можно было лечить. Возможно, нашему поколению придется предотвращать такие же проблемы у тех, чьей травмой будет конец России Путина и Беларуси Лукашенко.
erschienen am 21.02.2022, Original
Gasan Gusejnov: Der kollektive Putin
Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov sieht nicht nur einen, sondern einen „kollektiven Putin“ am Werk – und ruft in einem Post auf Facebook nach der Verantwortung jedes Einzelnen, auch jedes einzelnen Bürgers:
Und dieses Spektakel der Sicherheitsratssitzung am 21. Februar hat in Reinform das anthropologische Experiment gezeigt, an dem wir alle durch Arbeit, Leben und Verirrungen im postsowjetischen Russland beteiligt sind. All diese Männer und eine Frau bildeten einen kollektiven Putin, komplett entledigt von jeglicher politischer Subjekthaftigkeit.
[...]
Die Ukraine hat ihrem deutlich mächtigeren Nachbarn nichts angetan. Sie ist ein Land, das von diesem stärkeren Nachbarn beraubt wurde, obwohl jener 1994 [im Budapester Memorandum – dek] Schutz geschworen hatte (da steht bis heute Lawrows Unterschrift drunter!). Aber das ist nichts Neues für die Leute in Russland.
Was soll man machen, wenn man begreift, dass das Diebesland dein eigenes Vaterland ist? Nicht der Staat, sondern das Land. Ich weiß nicht, auf diese Frage gibt es diverse Antworten.
In der heutigen Sitzung des konstruierten Nawalny-Falls wurde ein Zeuge der Anklage unerwartet zum Zeugen der Verteidigung: Fjodor Goroshanko beschuldigte die Ermittler der Fälschung und Einschüchterung, er bezeichnete den ganzen Prozess als Betrug. Die Sitzung wurde vertagt.
Was ist, wenn Goroshankos Tat ansteckend ist – auch für einige in die Ukraine kommandierte russische Soldaten? Die dieses Land dann womöglich vor ihren eigenen Leuten beschützen wollen?
Зрелище заседания Совета безопасности РФ 21.02.2022 как раз и интересно чистотой антропологического эксперимента над всеми нами - причастными к постсоветской РФ работой, жизнью, заблуждениями. Все эти мужчины и одна женщина - один коллективный Путин, начисто лишенный политической субъектности.
[...]
[Украина] не сделала своей куда более мощной соседке ничего плохого, страна, которую эта более сильная соседка ограбила, хотя сама поклялась в 1994 году защищать (там даже подпись Лаврова до сих пор на своем месте!).
Но ведь и тут нет ничего нового для россиян.
Что же делать, когда осознаешь, что страна-грабительница - твое собственное отечество? Не государство, а именно страна. Не знаю: на этот вопрос можно ответить по-всякому.
Сегодня на процессе по сфабрикованному делу Навального один свидетель обвинения - Федор Горожанко - неожиданно стал свидетелем защиты, обвинив следователей в подлоге и запугивании, а весь процесс назвавший фальсификацией. Заседание суда было прервано.
А что если шаг Федора Горожанко окажется заразительным и для некоторых российских военных, брошенных на Украину? И они захотят защитить эту страну от самих себя?
erschienen am 22.02.2022, Original
Sergej Parchomenko: Putins peinliche Niederlage
War die Anerkennung der Separatistengebiete von langer Hand geplant oder war es eher eine spontane Entscheidung? Diese Frage stellen sich derzeit zahlreiche Analysten. Manche haben Putins Eskalationsstrategie als Chicken Game beschrieben – aus ihrer Sicht ist jetzt klar, dass Putin die Mutprobe mit dem Westen verloren hat und nun aus der Kränkung heraus handelt. Auch der Journalist Sergej Parchomenko teilt diese Einschätzung.
Doch jetzt kann man plötzlich sagen: Das war der Plan, so haben wir uns das gedacht, so clever haben wir das alles eingefädelt, haben alle kleingekriegt und an der Nase herumgeführt. Und sogar: „Sie fragen, warum haben wir im Dezember den ganzen Unfug mit den irrsinnigen Ultimaten gestartet? Warum wohl, hahaha? Dachtet ihr etwa, wir würden das ernst meinen?”
Es ist Wahnsinn, dass das Schicksal eines fremden Stückchens Erde, zusammen mit dem Schicksal von vier Millionen Menschen, mit Provokationen und militärischer Aneignung entschieden wird – um öffentlichkeitswirksam die Initiative in einem verlorenen Propagandakrieg an sich zu reißen. Biden hat diesen Krieg in den Zeitungen, auf Websites, bei Briefings und Pressekonferenzen geführt. Putin hat ihn kaltblütig auf lebendige Erde mit lebendigen Menschen verlagert.
Но вот теперь можно будет сказать: так и было задумано, вот как мы хитро все устроили, всех нагнули и вокруг пальца обвели.
И даже - “Вот вы спрашивали, зачем мы устроили эту выходку с безумными ультиматумами в декабре? А вот зачем, ха-ха, а вы думали, мы всерьез, да?..”
Это дикая ситуация, когда судьба куска чужой земли, вместе с судьбами четырех миллионов людей, решается при помощи провокаций и силового захвата с сугубо “информационной” целью, - чтоб перехватить инициативу в проигранной пропагандистской войне. Байден эту войну вел на страницах газет, на сайтах, в залах брифингов и пресс-конференций. Путин хладнокровно ее перенес на живую землю и живых людей.
erschienen am 21.02.2022, Original
Russia in Global Affairs: Die Kriegsgefahr ist kleiner
Auf dem Telegram-Kanal des kremlnahen Magazins Russia in Global Affairs heißt es in einem Beitrag, die Anerkennung und Truppenentsendung bedeute eine offizielle Legitimierung des de facto-Zustands:
Es ist schwierig, die Verlegung von Truppen in den Donbass als Angriff auf die Ukraine zu bezeichnen. Zumal die allgemeine Kriegsgefahr kleiner geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation in der Kontaktzone ist gering, wenn dort die russische Armee ist. Und es gibt derzeit keinen Grund, den Einsatz der russischen Streitkräfte im Donbass als Vorbereitung eines weiteren Brückenkopfes für einen Angriff auf die Ukraine zu betrachten. Der unternommene militärisch-politische Schachzug ist zwar ziemlich gewagt, aber für die Beziehungen zum Westen nicht fatal. Vielmehr wird damit eine Situation legitimiert, die de facto schon vorher bestand.
erschienen am 21.02.2022, Original
Arkadi Babtschenko: Gott schütze Biden
Ähnlich sieht es auch der Journalist Arkadi Babtschenko – allerdings zieht er daraus in seinem Kommentar auf Facebook ganz andere Schlüsse:
Aus diesem de facto ergeben sich nun ein gewisses de jure.
Das grundlegendste: Die Minsker Vereinbarungen [...] existieren endlich nicht mehr. Gott sei Dank. [...]
Die Minsker Vereinbarungen wurden einzig und allein zu dem Zweck getroffen, den Vormarsch der russischen Panzerkolonnen zu stoppen: Diesen konnte die Ukraine zu diesem Zeitpunkt nicht physisch aufhalten, wohl aber mit diesem Stück Papier, das nie jemand wirklich umsetzen wollte. [...]
Jede Truppenverlegung in das ORDLO-Gebiet [...] bedeutet für die ganze Welt und insbesondere für das Völkerrecht EINMARSCH RUSSISCHER TRUPPEN IN DAS GEBIET DER UKRAINE.
Niemand wird das anders interpretieren.
Das heißt – eine Invasion.
Genau die „kleine Invasion“, von der Biden gesprochen hat. Wisst ihr noch, wie alle über ihn gelacht haben? Guten Morgen. Gott schütze den Alten.
де-факто не изменилось ничего. Вообще ничего. Российские войска как были там, так и есть. ОРДЛО как было ордлом, так и осталось. Украина как не контролировала эти территории, так и не стала. Война как шла, так и будет. Единственное изменение - русские надели шевроны. Наконец-то.
А вот из этого де-факта вытекает уже несколько де-юре.
Самое базисное: Минские договоренности, [...] наконец прекратили свое существование. Слава те, господи. [...]
Минские и так были созданы с одной единственной целью - остановить продвижение русских танковых колонн, которые Украина остановить тогда не могла физически, но смогла при помощи этой бумажки, филькиной грамоты, которую выполнять никто и не собирался. [...]
любой ввод войск на территорию ОРДЛО [...] для всего мира и для международно права в частности означает ВВОД РОССИЙСКИХ ВОЙСК НА ТЕРРИТОРИЮ УКРАИНЫ.
И никак иначе это интерпретироваться не будет.
То есть - вторжение.
То самое «небольшое вторжение», о котором говорил Байден. Помните, как над ним все хихикали? Доброе утро. Боже, храни деда.
erschienen am 22.02.2022, Original
Kirill Rogow: Putin ist eine Bedrohung für das eigene Land
Für den russischen Politologen und Journalisten Kirill Rogow steht das, wofür Putin lange seinen politischen Kurs gerechtfertigt hat – die versprochene Stabilität Russlands – mehr denn je zur Debatte:
Niemand darf länger als acht Jahre den Präsidentenposten bekleiden, sonst wird er zur Bedrohung für das eigene Land.
Нельзя никому находиться на президентском месте более 8 лет, иначе он превращается в угрозу для собственной страны.
erschienen am 21.02.2022, Original
Jegor Lebedok: Lukaschenko rechnet den Preis aus
In Belarus sind seit dem jüngsten gemeinsamen Militärmanöver mit Russland mehrere zehntausend russische Soldaten präsent. Lukaschenko stand in den von belarussischen Staatsmedien verbreiteten Bildern der Raketentests fest an der Seite Putins. Wird der belarussische Machthaber eine Unabhängigkeit der selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR ebenfalls anerkennen? Das fragt sich der belarussische Politikexperte Jegor Lebedok.
erschienen am 22.02.2022, Original
Viktor Tereschtschenko: Belarus wird zusehends militarisiert
Der belarussische Politiker und Präsidentschaftskandidat des Jahres 2010 Viktor Tereschtschenko geht darauf ein, was der Verbleib der russischen Truppen in Belarus, im Zusammenhang mit der aktuellen Zuspitzung der Lage, heißen könnte. Er zeigt sich überzeugt, dass die Truppen ein Instrument für Lukaschenko sind, die eigene Macht sichern zu können. Gleichzeitig helfe es Putin, das Drohszenario gegenüber den NATO-Staaten aufrecht zu erhalten
erschienen am 22.02.2022, Original
Irina Prochorowa: Eine Schande
Die Publizistin und Philologin Irina Prochorowa, eine der wichtigsten russischen Intellektuellen, braucht auf Facebook nur wenig Worte:
erschienen am 21.02.2022, Original