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Die sprechenden Grabsteine

Im August 2014 hat die Beerdigung mehrerer Soldaten in Pskow für mediales Aufsehen gesorgt: Die Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, die damals von dem dortigen oppositionellen Politiker Lew Schlossberg herausgegeben wurde, berichtete über das Begräbnis zweier Soldaten der Luftlandetruppen. Sie seien in der Ostukraine ums Leben gekommen. Die 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen ist in Pskow stationiert, sie gilt als Eliteeinheit.

Ein Major der Einheit, Vater eines Getöteten, behauptete damals, sein Sohn sei im Kampf bei Luhansk ums Leben gekommen. Auf Anfrage von Lew Schlossberg antwortete die Obermilitärstaatsanwaltschaft schlicht, die Soldaten seien außerhalb des Dienstortes, also außerhalb der Oblast Pskow, ums Leben gekommen. Im Weiteren sollen Verwandte der Getöteten laut unterschiedlichen Medienberichten eingeschüchtert worden sein, einzelne hätten bereits gemachte Aussagen wieder zurückgezogen. Lew Schlossberg wurde nur vier Tage nach der Veröffentlichung in Psowskaja Gubernija brutal zusammengeschlagen, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. 

Vier Jahre später hat Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta die Gräber nun noch einmal besucht. Und nicht schlecht gestaunt.

Источник Novaya Gazeta

Als würde niemand mehr irgendwas verbergen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

Der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow hat sich verändert. Im August 2014 war ich öfter dort. Damals fielen einem die frischen namenlosen Gräber ins Auge, als lägen sie jenseits der Friedhofsmauern (so werden Selbstmörder bestattet). Wortkarge Menschen in Camouflage und blauen Baretts nahmen auf Befehl des Kommandeurs die Schilder mit Namen und Daten von den Kreuzen und rissen die Schleifen von den Kränzen [die zum Teil mit Kondolenzbekundungen der Luftlandetruppen beschriftet waren – dek]. Damit niemand darauf kommt, dass sie unter diesen Sandhügeln heimlich ihre Regimentskameraden begraben. „Wir sind da nicht.“ Und Punkt.

„In unserer Fallschirmjägerbrigade sind alle wohlauf und am Leben“, bestätigte der Kommandierende der Luftlandetruppen und heutige Duma-Abgeordnete General Wladimir Schamanow.

Die Fallschirmjäger knirschten mit den Zähnen, tranken Wodka, aßen dazu Weißbrot und Tomaten, aber führten den Befehl aus – gruben, rissen die Schleifen ab und versteckten die „gesunden und munteren“ erschossenen Freunde.

Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

„Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass die Fallschirmjäger auf dem großen Friedhof in Orlezy feierlich bestattet würden“, erinnert sich der Korrespondent der Pskowskaja Gubernija Alexej Semjonow. „Dort gibt es eine Allee der Fallschirmjäger, in der die Angehörigen der berühmten 6. Kompanie [die im Tschetschenienkrieg gekämpft hatte – dek] begraben wurden. Aber wir bekamen heraus, dass die Bestattung nicht dort stattfinden würde.“

Als würde niemand mehr irgendwas verstecken

Nun sind fast vier Jahre vergangen, und ich komme wieder auf den Friedhof in Wybuty.

An Stelle der einstigen Sandhügel und namenlosen Kreuze stehen monumentale Stelen aus schwarzem Granit mit schwülstiger Gravur: Namen, Daten, Portraits in Lebensgröße, Gedichte, Fallschirmjägersymbolik. Als würde niemand mehr irgendwas verstecken.

Das größte Denkmal steht auf dem Grab von Leonid Kitschatkin.

Die Familie Kitschatkin hätte ein Symbol für den Wahnsinn werden können, den die Regierung vor vier Jahren um den Tod der Fallschirmjäger gestartet hat. Und den Alptraum, den ihre Familien durchleben mussten.
Von der Beerdigung ihres Mannes schrieb Oxana Kitschatkina damals auf ihrer Social-Media-Profilseite. Sie nannte das Datum, den Ort und ihre Telefonnummer. Den Post machte sie am 23. August 2014. Und schon am nächsten Tag antwortete mir unter Oxanas Nummer eine laut lachende Frauenstimme: „Leonid Juritsch lebt, neben mir sitzt er und trinkt Kaffee. Zum Mittag gibt's Buletten mit Kartoffelpüree. Wir feiern die Taufe unserer Tochter. Meine Seite wurde gehackt.“
Ohne aufzuhören fröhlich zu lachen, gab „Oxana“ den Hörer freudig weiter an „ihren Mann“. Eine nicht mehr ganz nüchterne Männerstimme bestätigte, ja er sei Ljonja Kitschatkin, gesund und munter und am Leben …

Zwei Tage später stand ich auf dem Friedhof in Wybuty, wo sie noch nicht geschafft hatten, die Schilder zu entfernen, und schaute auf das Todesdatum von Kitschatkin: der 20. August.

Oxana Kitschatkina hat in den letzten vier Jahren ihre Telefonnummer nicht geändert. Nur antwortete mir jetzt eine völlig andere Stimme. Tief, leicht brüchig.

„Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen“, sagte Oxana langsam und legte auf.

Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen

Sie hat vor vier Jahren nicht gelogen oder sich verstellt. Da haben ihr einfach Leute das Telefon abgenommen, damit statt der Witwe eine kreuzfidele Frau mit ihrem betrunkenen Mann den Anruf entgegennehmen konnte.

Laut der Pskower Abteilung für Kriegsopfer wurde der Grabstein, der inzwischen auf dem Grab ihres Mannes steht, vom Verteidigungsministerium bezahlt. Erstattet werden den Familien ehemaliger Soldaten gewöhnlich nicht mehr als 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] , doch eine solche Riesenwand mit Gravuren von beiden Seiten kostet laut den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts ungefähr 100.000 Rubel [etwa 1360 Euro – dek].

Aber eines bestätigt die Beteiligung des Verteidigungsministeriums indirekt auf jeden Fall: Leonid Kitschatkin, gefallen im August 2014, ist von der Behörde als „einer von ihnen“ anerkannt. Denn Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu. Kitschatkin ist 1984 geboren. An welchen Kampfhandlungen er auf Befehl des Vaterlandes teilnehmen konnte, das kann man nur raten.

Ein Himmel mit Fallschirmen

Auch auf den Gräbern von Alexander Ossipow und Sergej Wolkow, die in Wybuty neben Leonid Kitschatkin begraben liegen, stehen keine namenlosen Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit. Mit Portraits, auf denen akkurat ihre Dienstabzeichen eingraviert sind.

Auf den Gräbern stehen keine namenlose Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

Ossipows Todesdatum ist das gleiche wie Kitschatkins: der 20. August 2014. Er war 20 Jahre alt. Auf dem Porträt ist er ebenfalls in Fallschirmjäger-Uniform vor einem Himmel mit Fallschirmen. Auf einem Steinbrocken liegt das blaue Barett.

An welchen Kampfhandlungen, wenn nicht im Donbass, hätte dieser Junge beteiligt sein können, sodass seine Familie eine Entschädigung vom Verteidigungsministerium erhielt?

Sowohl in Wybuty als auch auf dem Krestowski-Friedhof sind inzwischen neue Soldatengräber aufgetaucht: Wsewolod Smirnow starb im Dezember 2016, er war 26 Jahre alt. Auf dem Foto ist er in Camouflage vor einem dunkelblauen Meer. Und was ist im Januar 2017 mit Wladimir Stezenko passiert? Es gibt vorerst nur ein Foto des Soldaten, in einer Klarsichthülle und mit blauen Reißzwecken an ein Holzkreuz gepinnt.

Auf einem dritten Kreuz ist die Aufschrift zur Hälfte verblichen, auch wenn diese ganz frisch ist: „Grigorow Nikolaj Michailowitsch, 10.01.1985–06.03.2018“. Und wieder ein Foto des Fallschirmjägers, oben drauf wieder ein blaues Barett.

Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen?

Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Am Grab lehnen Kränze mit Wappen, Sternen und schwarzen Bändern. Auf einem steht: „Fähnrich Grigorow Nikolaj Michailowitsch, heldenhaft gestorben beim Flugzeugunglück vom 6. März 2018“. An diesem Tag stürzte der Frachter An-26 über der russischen Militärbasis in Hmeimim in Syrien ab. 39 Menschen kamen ums Leben.

Doch im August 2015 gab es noch keine russischen Soldaten in Syrien. Jedenfalls offiziell nicht. Auf dem Grab von Roman Michailow [Todesdatum 15.08.2015 – dek] ist ein Gedicht eingraviert: „Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“

„Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.“ / Foto © Irina Tumakowa/Novaya Gazeta

Im Forum für Einberufene findet sich Michailow als Befehlshaber des zweiten Sturmlandungsbataillons der Luftlandetruppen. Er war 38 Jahre alt.

Tod unter falschem Namen

Leonid Kitschatkin, Sergej Wolkow, Alexander Ossipow, Wassili Gerassimtschuk und andere Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen vom Verteidigungsministerium. Aber über die, die danach im Donbass umgekommen sind, können wir gar nichts in Erfahrung bringen. Ihre Angehörigen erhalten selbst die „Beerdigungs“-Summe von 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – dek] nicht.

Ab Herbst 2014 änderte die Regierung ihre Taktik: Aus offiziellen Militärangehörigen wurden sogenannte DNR- und LNR-Streitkräfte und Kosakeneinheiten gebildet, die Noworossija verteidigten. Russland ist diesen Menschen und ihren Familien nichts schuldig, formal sind sie Freiwillige und unterstehen nicht dem Verteidigungsministerium.

Der Jabloko-Abgeordnete Lew Schlossberg ist fast der Einzige in dieser militärpatriotischen Stadt, der versucht, für die Rechte der Familien von Verstorbenen einzutreten. „Die Verträge mit militärischem Personal wurden auf unterschiedliche Weise, entweder bei Ablauf ihrer Laufzeit oder vorfristig ausgesetzt“, erzählt Lew Schlossberg. „Das war alles gesetzeskonform. Aber im Weiteren überschritten die Militärs gleichzeitig die Landes-  und die Gesetzesgrenzen und begannen, sich an Kampfhandlungen außerhalb der Russischen Föderation zu beteiligen. Das heißt, sie verübten Verbrechen, das nach dem Strafrechtsparagraphen zum Söldnerdienst geahndet wird.“

Um mehr Sicherheit und Geheimhaltung zu erreichen, mussten die Identitäten dieser Soldaten geschreddert werden.

Identitäten geschreddert

„Verträge wurden unter Pseudonymen geschlossen, die Namen dieser Menschen waren fiktiv“, erklärt Schlossberg. „Der einzige materielle Beweis der Identität des Menschen war seine Erkennungsmarke. Der echte Name des Menschen, der mit der Erkennungsmarke verbunden ist – das ist Verschlusssache, die sich in den Händen der wirklichen Truppenführung befindet. Das heißt, dieser Mensch hat eine Erkennungsmarke und zwei Namen: einen echten und einen fiktiven.“

Unter den fiktiven Namen ließen sich diese Menschen in Militärkrankenhäusern behandeln, sowohl in Sankt Petersburg als auch in Rostow am Don. Wenn sich jemand plötzlich für die Verzeichnisse von den Militärangehörigen interessierte, die in Behandlung waren in konkreten Militärkrankenhäusern, dann findet er dort keine Namen von echten Bürgern der Russischen Föderation. Er findet dort das Geburtsdatum und die Art der Verletzung, die man nicht verheimlichen kann. Der Mensch selbst ist in diesem Verzeichnis aber ein Phantom.



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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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