Außenpolitische Erwägungen spielen bei der Bundestagswahl für die Wähler traditionell eine, gelinde gesagt, untergeordnete Rolle. So auch bei der aktuellen Wahl, die der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz einen knappen Sieg vor der CDU/CSU beschert hat. Was aber bedeutet eine mögliche neue Regierung unter Scholz, der sich bereits für eine Ampel-Koalition mit den Grünen und mit der FDP ausgesprochen hat, für eine deutsche Außenpolitik in Bezug auf Russland und Belarus? Ist eine Rückkehr zur früheren Ostpolitik denkbar? Was würde eine sogenannte Jamaika-Koalition für die deutsch-russischen Beziehungen bedeuten? Auf diese Fragen und andere antwortet Fabian Burkhardt in einem Bystro.
1. Wer macht in Deutschland überhaupt Russland- und Belarus-Politik: das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt?
Traditionell verbindet man deutsche Außenpolitik mit dem Auswärtigen Amt – unter anderem weil dort in den Fachreferaten die außenpolitische Expertise sitzt und die Diplomaten langjährige Erfahrung haben.
Allerdings verfügt die Bundeskanzlerin über die Richtlinienkompetenz – sie kann entscheidende Akzente in der Außenpolitik setzen. Das Auswärtige Amt ist natürlich an diese Richtlinienkompetenz gebunden, obwohl der Außenminister traditionell aus einer anderen Partei kommt als die Bundeskanzlerin. Wenn man zurückblickt, verbindet man wichtige Weichenstellungen wie Sanktionen nach der Krim-Annexion und Russlands militärischer Intervention in der Ostukraine, das Normandie-Format oder auch die Fertigstellung von Nord Stream 2 mit der Bundeskanzlerin. Andererseits war vor allem Steinmeier als Außenminister prägend, etwa durch die Initiierung der Modernisierungspartnerschaft 2008 oder die sogenannte Steinmeier-Formel zur Beilegung des Ukraine-Konflikts.
In den 16 Jahren Merkel waren vier verschiedene Bundesminister des Auswärtigen tätig: Im Kanzleramt gab es also mehr Konstanz – und somit politisches Gewicht – in außenpolitischen Fragen. Hinzu muss man aber auch bedenken, dass zur Außenpolitik auch Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik sowie andere Politikfelder gehören. Das heißt: Es kommt sehr stark auf die Koordination verschiedener Ministerien an. Da dem Kanzleramt eine Koordinationsfunktion zukommt, kann es in der Außenpolitik Akzente und Prioritäten setzen. Insgesamt sind die wesentlichen Akteure der deutschen Außenpolitik im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt auf bürokratischer Ebene sehr eng miteinander verzahnt: sowohl hinsichtlich der politischen Entscheidungen als auch personell.
2. Wenn es – was eher unwahrscheinlich ist – zu einer Großen Koalition unter Olaf Scholz kommt – würde sich die Russland- und Belarus-Politik der Bundesregierung überhaupt verändern?
Eine Große Koalition mit umgekehrten Vorzeichen könnte für weitestgehende Konstanz in der Außenpolitik stehen. Zwar hat der Kanzlerkandidat Scholz im Wahlkampf eine neue Ostpolitik gefordert, auf die Einzelheiten ging er dabei aber nicht ein. Daher ist es fraglich, mit welchen Inhalten er diese füllen würde. Scholz hat den Weiterbau von Nord Stream 2 mitgetragen, er steht auch ausdrücklich zu den Sanktionen gegenüber Russland und Belarus, als Kanzler würde er sich in seiner Ostpolitik eng mit der EU abstimmen müssen, die Partnerschaft innerhalb der NATO würde wohl ähnlich fortgesetzt wie unter Merkel. Hinzu kommt, dass sich in der SPD in den vergangenen Jahren ein Generationenwandel vollzogen hat: Die Reihen der Vertreter einer klassischen sozialdemokratischen Ostpolitik haben sich merklich gelichtet. Die Jüngeren dagegen sehen Deutschland viel stärker als Teil der EU, deutsche Alleingänge in der Russland- und Belarus-Politik sind da nur schwer denkbar. Obwohl der linke Flügel in der Partei immer noch stark ist, halte ich es aus den genannten Gründen für wenig wahrscheinlich, dass die SPD zu einer traditionellen Ostpolitik im Geiste von Willy Brandt zurückkehrt. Es ist zwar denkbar, dass Initiativen etwa im Bereich der Rüstungskontrolle gestartet werden, insgesamt ist der Handlungsspielraum aber sehr begrenzt.
3. Bei einer Dreier-Koalition: Wie würde ein Außenminister der Grünen oder der FDP die Beziehungen zu Russland prägen?
Die Grünen haben sich in ihrem Wahlprogramm aus Umweltschutzgründen gegen Nord Stream 2 ausgesprochen. Die FDP wollte ein Moratorium, bis der Kreml im Fall Nawalny unabhängige Ermittlungen gewährleistet und sich die Menschenrechtslage in Russland bessert.
Ob die Pipeline überhaupt Einzug in einen Koalitionsvertrag finden wird, ist derzeit aber unklar. Eine Dreierkoalition bedeutet insgesamt einen höheren Aufwand bei der Koordinierung zwischen den Koalitionspartnern. Sie bedeutet außerdem, dass man automatisch zu mehr Kompromissen gezwungen ist.
Die Einlösung von Wahlversprechen ist bei Nord Stream 2 deshalb genauso schwierig wie bei anderen Fragestellungen der Russland-Politik. Möglicherweise könnten die Grünen und die FDP darauf drängen, dass die Pipeline nicht den EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt entspricht. Vielleicht wird Nord Stream 2 aber wie geplant in Betrieb gehen: Vieles hängt von der Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner ab. Hinzu kommt, dass es etwa in der FDP verschiedene Kräfte gibt – solche, die für liberale Werte und Menschenrechte eintreten, und andere – denen wirtschaftliche Aspekte und solche wichtiger sind, die der sozialdemokratischen Ostpolitik nahestehen. Bei den Grünen gibt es möglicherweise verstärktes Interesse, mit Russland in einen Dialog über den Klimawandel einzutreten. Neben den Dynamiken zwischen den drei Koalitionspartnern werden also auch die Eigendynamiken innerhalb der Parteien selbst eine Rolle in der Russland-Politik spielen. In Bezug auf Belarus scheint eindeutig, dass sowohl Grüne als auch die FDP das Sanktionsregime gegen das System Lukaschenko weiter mittragen werden oder dieses (möglicherweise auch gegen Russland) verschärfen würden, wenn es zu einer erneuten Repressionswelle oder Eskalation kommt.
4. Welche Rolle spielt der Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft in der Russland- und Belarus-Politik?
Das 2003 von der rot-grünen Bundesregierung geschaffene Amt hieß zunächst Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Nach der Krim-Annexion bekam es eine neue Bezeichnung – und eine weitere Ausrichtung hin zu den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasiens. Die letzten beiden Koordinatoren – Dirk Wiese und Johann Saathoff (beide SPD) – waren nur wenig profiliert in der Region, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den erfahrenen Außenpolitikern Gernot Erler (SPD) und Andreas Schockenhoff (CDU). Wiese hat versucht, eigene Akzente zu setzen, vor allem in Fragen der Jugend- und Visa-Politik. Der Handlungsspielraum des Koordinators ist allerdings sehr eng bemessen und wird noch begrenzter durch den zunehmend repressiven Kurs der belarussischen und russischen Regierung gegen die jeweilige Zivilgesellschaft. Dass die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit immer schwieriger wird – das hat das Beispiel der NGOs Deutsch-Russischer Austausch (DRA), Libmod und Forum der russischsprachigen Europäer gezeigt, die Ende Mai in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt wurden. Damit ist das Amt des Koordinators derzeit eine extrem schwierige Position, und es ist fraglich, ob es in den nächsten Jahren nennenswerte Gestaltungsfreiräume haben wird. Gefragt sind deswegen Kreativität und neue Ansätze in der Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften und der Diaspora.
5. 16 Jahre Angela Merkel – bedeutet dies 16 Jahre Kontinuität in der deutschen Russland-Politik?
Für die vergangenen 16 Jahre lassen sich viel Wandel und viele Brüche feststellen, von der in den optimistischen 2000er Jahren ausgerufenen Modernisierungspartnerschaft bis hin zu immer schärferen Sanktionen. Immer wenn man nach 2014 gedacht hat, die Beziehungen können eigentlich gar nicht mehr schlechter werden, wurde man leider eines Besseren belehrt. Kontinuität lässt sich vor diesem Hintergrund demgegenüber am Beispiel Nord Stream 2 feststellen: Egal wie schlecht die Beziehungen waren, Merkel hat immer am Weiterbau der Pipeline festgehalten. Kontinuität gab es auch hinsichtlich der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine: Merkel ist nie von der Position abgerückt, dass die Annexion völkerrechtswidrig sei, und dass Russland deshalb sanktioniert werden müsse. Gleichzeitig bemühte sie sich im Normandie-Format um die Konfliktbeilegung. Schließlich hat es auch eine Kontinuität bei Menschenrechten gegeben: Im Fall Nawalny blieb sie standfest, und der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften war für sie immer ein wichtiger Pfeiler der Russland-Politik. Insgesamt lässt sich Merkels Erbe auf die Formel bringen: Sie hat stets versucht Russland in verschiedene Kooperationsformate einzubinden, gleichzeitig war sie aber auch eine treibende Kraft in der Sanktionspolitik.
6. Wird Merkels Nachfolger diese Linie fortsetzen?
Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem teils widersprüchlichen Erbe der Russland- und Belaruspolitik von Merkel konfrontiert sehen. Sie wird wohl weiterhin versuchen, begrenzte Kooperationsangebote zu schaffen, wo sich die Interessen von Russland und Deutschland überschneiden. Gleichzeitig wird sie eine in die EU eingebettete Sanktionspolitik betreiben und versuchen, die EU resilienter gegenüber Russland zu gestalten.
Unabhängig davon, wie die endgültige Regierung dann aussehen wird – es gibt gewisse strukturelle Elemente, die die bilateralen Beziehungen zu Russland in den nächsten Jahren prägen werden: Dazu gehören etwa die transatlantischen Beziehungen zu den USA, aber auch die Beziehungen der EU, der USA aber auch Russlands zu China. Wie wird sich die Politik innerhalb der EU selbst gestalten? Auch diese Frage ist entscheidend für die deutsche Russland- und Belarus-Politik. Schließlich wird auch die Klimapolitik eine Rolle spielen: Je schneller die Energiewende in Europa vollzogen wird, desto schneller wird die europäische Abhängigkeit von den Importen fossiler russischer Energieträger sinken – was für Russland gravierende Folgen haben könnte.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Fabian Burkhardt
Veröffentlicht am: 27. September 2021