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Warum sind so viele Russen für den Krieg?

Vor über einem Monat startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Die ganze Welt verfolgt heute quasi in Echtzeit die Kämpfe um Mariupol und Charkiw, sieht die Morde an der Zivilbevölkerung in Butscha. Und in Russland? Wie nehmen dort die Menschen die Ereignisse wahr – gerade auch angesichts der massiven Propaganda und Zensur? Wie wirkt sich all das auf die Umfragewerte aus?

Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, analysiert auf Riddle aktuelle Umfrageergebnisse, wonach mehr als 80 Prozent den Krieg in der Ukraine befürworten.

Источник Riddle


Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Befragten den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstützt. Dabei ist die Mehrheit – 53 Prozent – „eindeutig dafür“, während 28 Prozent angeben, „eher dafür“ zu sein. Rund 14 Prozent der Russen sind dagegen, weitere sechs Prozent wussten es nicht.

Die Unterstützung ist groß, aber nicht homogen

Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich zur Gruppe der eindeutigen Befürworter zählen – sie zweifeln nicht an der Richtigkeit des Geschehens, weisen Kritik an der russischen Führung sowie den Streitkräften zurück, und die Ereignisse erfüllen sie mit Stolz auf ihr Land. In dieser Gruppe ist die Haltung besonders entschlossen, die Befragten sind am ehesten bereit, das Ganze als einen „Kampf gegen Nationalisten“ zu sehen, als „notgedrungene Maßnahme“, „Präventivschlag“ und „Verteidigung gegen die NATO“. Sie stellen die Berichterstattung der staatlichen Medien praktisch nicht infrage, glauben bereitwillig den Erklärungen von Wladimir Putin, der in dieser Gruppe die größte Unterstützung hat. Die Befragten dieser Kategorie betonen, das Geschehen sei nichts anderes als eine „Spezialoperation“, weil „wir nichts erobern, sondern [die Ukraine – dek] von Nazis und Faschisten befreien“, weil dort sonst „alles dem Erdboden gleichgemacht und niemand überleben würde“ oder „weil Wladimir Wladimirowitsch das so sagt. Und ich glaube ihm.“

Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen

Unter den Befragten, die das Vorgehen des russischen Militärs „eher befürworten“, ist die Unterstützung weniger eindeutig, es gibt gewisse Vorbehalte: Im Vergleich zur ersten Gruppe werden hier doppelt so häufig Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen angesichts der Ereignisse genannt, das Gefühl von Stolz ist deutlich geringer ausgeprägt. Für diese Gruppe ist die „Spezialoperation“ in erster Linie durch den Wunsch motiviert, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Sie verfolgen die Ereignisse nur halb so oft, die Unterstützung für die Regierung ist hier, genau wie das Interesse an Politik insgesamt, geringer. In dieser Kategorie sind Aussagen wie diese typisch: „Ich würde das gerne nicht unterstützen, aber es muss sein, es gibt keinen anderen Ausweg mehr … Acht Jahre lang haben sie Luhansk und Donezk bombardiert … Mir wäre lieber, es gäbe keinen Krieg und die, die das Sagen haben, würden das Problem friedlich lösen … Aber es funktioniert nicht“, kommentierte eine Teilnehmerin bei der Umfrage im März ihre Antwort.

Wie auch bei Wahlforschungen lässt sich auch hier ein großer Teil der Befragten zum sogenannten „Sumpf“ zählen: Typischerweise vertreten sie weniger eindeutige Ansichten und tendieren dazu, sich der vorherrschenden öffentlichen Meinung anzuschließen und der offiziellen Linie. Ein Teil tut das nach dem Motto: „Nicht, dass noch was passiert.“ Aber zu sagen, dass sie alle „in Wirklichkeit“ anders denken, eigentlich in der Opposition sind und nur Angst haben zu antworten, wäre falsch. Sie sind immer noch dafür, wenn auch mit Einschränkungen.

Eine Generationenfrage?

Unter den Gegnern der „Spezialoperation“ sind überproportional viele junge Menschen (obwohl es nicht nur die junge Generation ist), Menschen, die in Moskau und in anderen Metropolen leben, und solche, die sich über das Internet und Telegram-Kanäle informieren. In dieser Gruppe finden sich deutlich weniger ältere Menschen, Fernsehzuschauer und Putin-Anhänger. Das ist der Teil der russischen Bevölkerung, der weniger abhängig ist vom Staat, eine kritischere Einstellung gegenüber der russischen Regierung vertritt, gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt hat, die Opposition unterstützt und 2021 auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen sind besser in die globale Welt integriert, sie haben Europa bereist und sind dem Westen gegenüber positiver eingestellt. Man kann also sagen, dass in der Haltung zur sogenannten „Spezialoperation“ im Grunde dieselben Widersprüche hervorgetreten sind, die in der russischen Gesellschaft schon lange bemerkbar sind.

Für diejenigen, die nicht einverstanden sind mit den Ereignissen, kommt die Situation in der Ukraine einer Katastrophe gleich: Sie sprechen davon, dass man die menschlichen Opfer, den Tod von Zivilisten und die Zerstörung nicht hinnehmen dürfe; sie verurteilen die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Vor allem junge Respondenten sprechen sich häufig grundsätzlich gegen jedes militärische Vorgehen aus. Den Konflikt mit der Ukraine und dem Westen empfinden sie als Zerstörung von Zukunftsperspektiven, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Landes als Ganzem, als Abgeschnittenwerden von der globalen Welt. Es ist kein Zufall, dass unter den Emigranten der neuen Welle so viele junge, politisch aktive, englischsprachige Russen sind, deren Arbeit nicht an den Staat gebunden war.

Meinungsstabilität

Die verfügbaren Daten zeigen im Verlauf, dass die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ anfangs geringer war: Sie lag etwa bei zwei Drittel (zwischen 65 und 68 Prozent). Bis zu einem Viertel der Befragten gab an, dagegen zu sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Haltungen in ihren Grundzügen bereits Mitte Februar, also noch vor dem Beginn des bewaffneten Konflikts, feststanden. Damals waren drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die USA und die Ukraine für die Eskalation verantwortlich seien, nur ein Drittel äußerte Sympathien für die Ukraine. Die Unterstützung für Wladimir Putin lag laut Umfragen Mitte Februar bei 71 Prozent (Ende März waren es schon 83 Prozent). 

Diese Zahlen spiegeln das Verhältnis der zwei Lager wider, die sich in den Umfragen von Anfang März gezeigt haben: Zwei Drittel waren bereits einverstanden mit der offiziellen Interpretation der Ereignisse und unterstützten die „Spezialoperation“, rund ein Viertel war dagegen. Die Veränderungen in der öffentlichen Meinung innerhalb des letzten Monats sind sichtbar, aber nicht gravierend.

Russland vom Westen umzingelt

Zumindest teilweise erklärt sich diese Meinungsstabilität damit, dass sich die Nachrichten zu den Ereignissen in der Ukraine in ein längst feststehendes Weltbild der Befragten einfügen. Diese Vorstellungen hatten sich über Jahre durch politische Präferenzen, Alltagserfahrungen und die jeweils konsumierten Informationskanäle geformt. So besteht für einen Großteil der Befragten, vor allem innerhalb der älteren Generation, kein Zweifel daran, dass der Westen unter der Führung der USA schon lange versucht, Russland zu schwächen und mit Militärstützpunkten zu umzingeln. Durch das Prisma der russisch-amerikanischen Feindschaft wurden sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch der Ukraine-Konflikt 2014, die Militäroperation in Syrien und jetzt die „Spezialoperation“ betrachtet. Junge Menschen und Großstädter, die das Internet nutzen, vertreten solche Ansichten weitaus seltener.

Nachrichten aus der Ukraine, die sich in das bestehende Weltbild einfügen, werden bereitwillig akzeptiert. Alles, was dem widerspricht – egal, wie schrecklich die Nachrichten sein mögen –, wird kategorisch als Lüge und feindliche Propaganda abgetan. In dem Maße, wie sich der internationale Konflikt verschärft, spitzt sich die Logik von „Freund oder Feind“ in Bezug auf die russischen und die ausländischen Medien zu. 

Propaganda und Zensur 

Bezeichnend sind hier Aussagen von Teilnehmern der Fokusgruppen, die die Kampfhandlungen unterstützen: „Wenn man sich die ausländischen Fernsehsender so anschaut – an Stelle des Durchschnittsamerikaners würde ich auch sagen: Was macht Russland da? Ich meine, es gibt so viel Desinformation!“ „Gut, dass sie Echo Moskwy zugemacht haben … Diesen Dreck kann man sich ja nicht anhören … Das ist ja echt  eine Zombiekiste.“ 

Vor dem Hintergrund der „Spezialoperation“ wächst das Vertrauen in die staatlichen Fernsehkanäle, weil „man jetzt wirklich offizielle Informationen braucht“. 2014 war die Situation ganz ähnlich. Unter solchen Bedingungen sind die Meinungen zu den Ereignissen sehr beständig und können sich  wohl kaum schnell ändern. Wenn unabhängige Medien gesperrt und Kritik an den russischen Streitkräften unter Strafe gestellt wird, verändert das nicht so sehr die öffentliche Meinung, sondern zementiert die bereits bestehende (schließlich benutzt ein Viertel der russischen Bevölkerung bereits VPN).

Krim-Effekt 2.0

Im März konsolidierte sich die öffentliche Meinung: Die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ nahm zu, während die Zahl ihrer Kritiker abnahm. Schon zu Jahresbeginn hatten wir erwartet, dass eine Militäraktion zu steigenden Zustimmungswerten für die Staatsorgane führen würde. Die Unterstützung für den Präsidenten, die Regierung, die Duma und die Regierungspartei wuchs (die Umfragewerte der anderen Parteien zeigten keine wesentliche Veränderung). All das ähnelt der Situation von 2014. Rasch wuchsen nach der Krim die Zustimmung für die Staatselite und das Vertrauen in den nächsten Tag sowie das Vertrauen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln würden.

Rally-’round-the-Flag-Effekt

Psychologen erklären, dass in bedrohlichen Situationen von außen, unter Sanktionen und steigendem internationalen Druck Schutzmechanismen aktiviert werden: Das Vertrauen in die Politik steigt, das soziale System wird gerechtfertigt – der sogenannte Rally-’round-the-Flag-Effekt tritt ein, moralische Verantwortung wird abgelehnt, und zwar mithilfe von Enthumanisierung („die Herrscher der anderen Länder sind durchgedreht“), Schuldzuweisung („sie sind selbst schuld“) und Abwälzen der Verantwortung („was können wir denn dafür, wir treffen doch nicht die Entscheidungen“). Unsere Umfragen zeigen, dass die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern des Militäreinsatzes verbreitet ist. Dieses Gefühl erlaubt, das Geschehen nicht an sich heranzulassen, sich an die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich noch weiter ins Privatleben zurückzuziehen und von den Nachrichten über zivile Opfer und die Zerstörung ukrainischer Städte abzuschirmen.

Die Zustimmungswerte waren vor dem Hintergrund der eskalierenden internationalen Spannungen bereits seit Ende letzten Jahres angestiegen. So lag die Zustimmung für den Präsidenten im November noch bei 63 Prozent, Mitte Februar bei 71 Prozent und im März bereits bei 83 Prozent. Dabei ist die Unterstützung des Regimes praktisch deckungsgleich mit der Unterstützung der „Spezialoperation“. Rund 90 Prozent von Wladimir Putins Anhängern befürworten auch die „Spezialoperation“, unter den Kritikern des Präsidenten sind es nur ein Drittel.

„Jetzt müssen wir dahinterstehen“

Die Unterstützung für den Präsidenten ist wiederum, genau wie die Unterstützung der „Spezialoperation“, nicht homogen. So geben rund 45 Prozent an, „absolut einverstanden“ mit dem Vorgehen des Präsidenten zu sein – das sind doppelt so viele wie noch im Januar. Ein fast genauso großer Teil (38 Prozent) ist „eher einverstanden“, wobei die Unterstützung weniger entschlossen ist. Aber der internationale Konflikt zwingt die Menschen dazu, Partei zu ergreifen. Oft hört man Aussagen wie: „Jetzt müssen wir dahinterstehen, in Kriegszeiten darf man nicht dagegen sein!“; „Ich bin nicht mit allem einverstanden … Meine Rente ist klein, unsere Lebensbedingungen sind … Viele Vergünstigungen kommen bei uns nicht an … Aber Putins Politik ist richtig, gegen Russland werden überall Intrigen geschmiedet“; „Im Nachhinein denke ich, dass man die Führung zu Unrecht mit Dreck übergossen hat. Sie haben schließlich ihre Arbeit gemacht. Peskow, Rogosin, Schoigu – alle hat man in den Schmutz gezogen, ständig haben sie ihre Datschen und Häuser gefilmt“ und so weiter. Genau wie vor acht Jahren führen der internationale Konflikt, der zunehmende Druck und die Sanktionen des Westens dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich um die Führung des Landes konsolidiert. Auch wenn es natürlich solche gibt, die ihre Unterstützung deklarieren, um auf Nummer sicher zu gehen.


Die Euphorie von 2014 bleibt aus

Aber es gibt auch Unterschiede zu 2014. Die wachsende Zustimmung wird nicht von Euphorie begleitet. So wurde die russische Gesellschaft angesichts der Krim von einer ganzen Reihe positiver Gefühle erfasst: Stolz, Freude und das Gefühl, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Lediglich drei Prozent sprachen von Besorgnis und Angst. Heute sind die Gefühle deutlich gemischter: Im März überwog unter den Befragten zwar der „Stolz auf das Land“, besonders in der Gruppe der absoluten Befürworter, rund ein Drittel der Befragten äußerte aber auch „Angst und Sorge“, und zwar nicht nur unter den Gegnern (wenn auch dort in höherem Ausmaß). Begeisterung und Freude angesichts der Ereignisse in der Ukraine empfinden nur marginale Gruppen. Aber auf das Ausmaß der Unterstützung insgesamt wirken sich diese Stimmungen nicht aus.

Kann man diesen Zahlen trauen?

Die hohen Zustimmungswerte für die sogenannte „Spezialoperation“ und die russische Regierung sorgten bereits für Streit, inwiefern man diesen Zahlen überhaupt glauben kann. Kritiker der Umfragen sprechen davon, dass die Angst und der Unwille zur Teilnahme an Umfragen unter dem Druck auf Andersdenkende, durch die Androhungen von Strafen für die Diskreditierung der Streitkräfte und andere repressive Maßnahmen innerhalb der letzten Wochen stark zugenommen hätten. Unsere Erhebungen konnten das bisher nicht belegen.

Ein wichtiger Faktor für die Qualität von Meinungsumfragen ist die Erreichbarkeit bzw. der Anteil der erfolgreich durchgeführten Interviews. Um diesen Faktor zu bestimmen, greifen wir in unseren Umfragen auf die Methode der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) zurück. Unseren Erhebungen zufolge hat sich dieser Faktor in den letzten Monaten weder bei Haustür- noch Telefonumfragen verändert. Die Situation der Feldforschung ist zum Teil angespannt, vereinzelt kommt es sogar zu Konflikten zwischen Befragten und Interviewern (vor allem, wenn sie unterschiedliche Positionen vertreten), aber die Arbeit geht weiter.

Unsere Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, an die ganz junge Generation heranzutreten, bei Telefonumfragen gibt es da eine zusätzliche Quote. Aber auch das ist kein neues Phänomen, und mithilfe einer Auswertung der Umfrageergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund lässt sich die Unterrepräsentation der Meinung von Jugendlichen ausgleichen. Von einem plötzlichen Anstieg der Angst unter den Befragten kann man zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sprechen. Man muss die Situation weiterhin genau beobachten.

Umfragen spiegeln nur das Bild wieder, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind

Interessant sind die Versuche, die Aufrichtigkeit der Befragten mithilfe von Umfrageexperimenten zu messen. Aber mit der Interpretation der Ergebnisse muss man vorsichtig sein, es braucht weitere Untersuchungen. Auf den ersten Blick decken sich die Zahlen, die man mithilfe solcher Versuchsanordnungen erhält, mit denen der uneingeschränkten Unterstützung der Kampfhandlungen. Aber das bedeutet nicht, dass die „Unterstützung mit Einschränkungen“ auf Falschaussagen der Befragten beruht. Wie weiter oben geschildert, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die die Menschen dazu bringen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Alles auf die Angst zu schieben, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Abgesehen davon sollte man in Umfragen nicht die Antwort darauf suchen, was die Menschen „wirklich denken“. Meinungsumfragen erfassen nur das, was die Befragten bereit sind, dem Interviewer mitzuteilen – das heißt, sie spiegeln nur das Bild wider, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind.   

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Lewada-Zentrum

In der Sowjetunion gab es keine soziologische Meinungsforschung. Erst mit der Gründung des Zentrums für Studien der Öffentlichen Meinung (WZIOM) im Jahr 1987 begann man, wissenschaftlich fundierte Bevölkerungsumfragen durchzuführen und Meinungsbilder zu erstellen. 1988 kam der Professor für Soziologie Juri Lewada an das Institut, unter dessen Leitung es ab 1992 zum führenden Meinungsforschungsinstitut Russlands wurde. Nach einer staatlichen Einmischung in die Zusammensetzung des Direktoriums verließ die gesamte Belegschaft 2003 das WZIOM und gründete das Analytische Zentrum Juri Lewada, kurz Lewada-Zentrum, mit Hauptsitz in Moskau. Dass auch das neue Institut regelmäßig die politischen Fehlentwicklungen in Russland kritisierte, sorgte für Unmut bei staatlichen Behörden. Bereits 2013 wurde es aufgefordert, sich freiwillig als ausländischer Agent zu registrieren. Das Institut wehrte sich, im September 2016 hat das Justizministerium es jedoch in das Agenten-Register aufgenommen. Damit befindet sich das Zentrum nun unter circa 140 stigmatisierten Organisationen. Wie vielen von ihnen droht nun auch dem Lewada-Zentrum das Ende.

Neben Umfrageergebnissen veröffentlicht das Lewada-Zentrum regelmäßig Analysen und Dossiers zum Zustand der russischen Gesellschaft. Zu den zentralen Publikationen zählt das Jahrbuch Öffentliche Meinung, das über längere Zeiträume Umfragedaten zu den Bereichen Politik, Wahlen und Wirtschaft, aber auch zu kulturellen und sozialen Themen erfasst. Für die Soziologie ist das Jahrbuch das Standardwerk zur öffentlichen Meinung.

Im Gegensatz zu den anderen großen russischen Meinungsforschungsinstituten, dem WZIOM und der Stiftung Öffentliche Meinung (FOM), gilt das Lewada-Zentrum nicht nur als unabhängig1, sondern auch als höchst professionell. Juri Lewada zählte zu den Begründern der modernen Soziologie Russlands, das Institut führt sein wissenschaftliches Vermächtnis soziologisch-sattelfest fort und bietet weitgehend ausgewogene und gut recherchierte Erkenntnisse über den Staat und die Gesellschaft Russlands.

Vor allem der langjährige Leiter des Zentrums Lew Gudkow kritisiert regelmäßig und in einer sehr pointierten Weise die politischen und gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen in Russland.2 Dies brachte dem Institut in jüngerer Vergangenheit Probleme mit staatlichen Behörden ein. Da das Lewada-Zentrum auch für ausländische Auftraggeber Studien durchführt und dafür Honorare erhält, wurde es im Mai 2013 vom Justizministerium aufgefordert, sich in das Register ausländischer Agenten einzutragen. Das Zentrum lehnte dies mit der Begründung ab, es gehe keiner politischen Tätigkeit nach, sondern erforsche lediglich die öffentliche Meinung.

Aufgrund der Befürchtung, das Lewada-Zentrum könnte geschlossen werden, kam es im Sommer 2013 zu einer internationalen Protestwelle zahlreicher namhafter Wissenschaftler, die sich mit dem Institut solidarisierten. Ihr Druck konnte nicht lange aufrechterhalten werden: Kurz vor der Dumawahl verkündete das Justizministerium am 5. September 2016 in einem Fünfzeiler den Eintrag des Instituts in das Agenten-Register.4

Der damalige Leiter des Zentrums Lew Gudkow nahm die Nachricht mit einer Mischung aus „Verstimmung und Wut“ auf. Die Entscheidung bedeute das Ende unabhängiger soziologischer Forschung in Russland, so Gudkow. Das Zentrum habe nämlich keine anderen Möglichkeiten, als sich aus ausländischen Marktforschungsaufträgen zu finanzieren.5

Derzeit ist die Zukunft des Instituts komplett offen.


1.taz: Opposition in Russland. Kreml will Soziologen kaltstellen. Siehe auch Sputnik: Ungenehme Umfragen: Lewada-Zentrum vor dem Aus  
2.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Leiter des Lewada-Zentrums.„Russland bewegt sich in Richtung Diktatur“  
3.Bundeszentrale für politische Bildung: Dokumentation: Die "Verwarnung" an das Lewada-Zentrum  
4.Ministerstvo Justicii Rossijskoj Federacii: Avtonomnaja nekommerčeskaja organisacija «Analitičeskij Centr Jurija Levady» vključena v reestr nekommerčeskich organisacij, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta  
5.Novaja Gazeta: Lev Gudkov – o priznanii «Levada-centra» inostrannym agentom: «Ja v bešenstve i v rasstrojstve»  
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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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Jewgeni Jasin

Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

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Das Umfrageinstitut WZIOM

Das Meinungsforschungsinstitut WZIOM veröffentlicht regelmäßig umfangreiche Umfragen zu politischen und sozialen Themen. Im Jahr 2003 wurde es von einem Forschungsinstitut in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die zu 100 Prozent dem Staat gehört. Inwieweit dies und die finanzielle Abhängigkeit von Regierungsaufträgen sich auf die Methoden und Ergebnisse der Studien auswirken, ist umstritten, insgesamt gilt das WZIOM aber als regierungsnah. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob Umfragen im gegenwärtigen politischen Klima überhaupt die Stimmung in der Bevölkerung repräsentativ abbilden können.

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