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Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.

Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.

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„Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“

Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.

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Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien.
Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.     

Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA

Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“

„Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“

Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen. 

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[…] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. 
[…]
 

aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
 
Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.

Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen

Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen  haben.

„Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“

Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe. 

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Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.

Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.

Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen

Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite.
Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben.
[…]
Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?

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NATO-Russland Beziehungen

Die Beziehungen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte die Aufgabe der transatlantischen Militärallianz in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa schien es zunächst, die NATO habe ihre Existenzberechtigung verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass nach 1989 vor allem Polen und die baltischen Länder unter den Schutzschirm der NATO drängten. Zeitweise stand sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen innerhalb der NATO geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete.

Immer mehr nahmen beide Seiten in den folgenden Jahren einander als Bedrohung wahr. Wie ein Refrain zog sich die Klage über die NATO-Osterweiterung durch die Reden führender russischer Politiker. Der Kreml hatte die NATO-Osterweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt.

Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das Verhältnis sei „auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg“. Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, wobei es um einen Stopp der NATO-Osterweiterung, um den Rückzug der USA aus Osteuropa und den Abzug von amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa ging. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Bündnis beantragt.

Die Frage der NATO-Osterweiterung stellte sich zunächst im Kontext der deutschen Einheit. Am 26. Januar 1990 fiel im Kreml in einem Geheimtreffen die Entscheidung für die Ermöglichung der Wiedervereinigung. Zunächst ging der Westen davon aus, dass weder die neuen Bundesländer noch andere osteuropäische Staaten Teil der NATO sein würden. 

„Not one inch eastward“ – die Frage der NATO-Osterweiterung

Auf einer Pressekonferenz am 2. Februar 1990 bekräftigten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein US-Amtskollege James Baker diese Absicht. Allerdings revidierte James Baker schon eine Woche später seine Position und fragte Gorbatschow, ob er sich ein Gesamtdeutschland innerhalb der NATO vorstellen könne, wenn die NATO sich darüber hinaus „not one inch eastward“ bewegen würde. Hier stellte sich ein erstes Missverständnis ein: Bakers Aussage wurde von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst.1 

Die Forschung ist sich einig, dass es bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit nie schriftliche Zusagen gegenüber der sowjetischen Führung gegeben habe, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen werde. Helmut Kohl musste zwischen dem amerikanischen Insistieren auf der NATO und der sowjetischen Vision einer europäischen Friedensordnung vermitteln. Der Bundeskanzler wusste auch ganz genau, dass die deutsche Wiedervereinigung weder in Frankreich noch in Großbritannien Begeisterungsstürme auslösen würde. Die amerikanische Regierung befürchtete zudem, dass Bonn einen separaten Deal mit Moskau abschließen und dabei die eigene NATO-Mitgliedschaft in die Verhandlungsmasse einbringen könnte. Deshalb bekräftigte James Baker bei einem Gespräch am 18. Mai 1990 in Moskau die amerikanische Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Gorbatschow erwiderte darauf ironisch, in einem solchen Fall würde auch die Sowjetunion ein NATO-Beitrittsgesuch stellen. Im endgültigen 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit ist die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschland verbrieft. Letztlich wurde das Einverständnis des Kreml schlicht gekauft: Bonn und Moskau verständigten sich kurz vor der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags auf eine deutsche Zahlung von 15 Milliarden D-Mark für den Abzug der Roten Armee.2  Der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Robert Gates brachte die Methode später unverfroren auf den Punkt: „to bribe the Soviets out“.3 

Jelzin: Russischer NATO-Beitritt als Ziel

Auch Gorbatschows Rivale Boris Jelzin versuchte das NATO-Dossier aktiv zu gestalten. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, am 20. Dezember 1991, weckte er hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Diese Vision hielt sich erstaunlich lange: Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Bezeichnend ist die Rede, die der tschechoslowakische Präsident Václav Havel im März 1991 im NATO-Hauptquartier in Brüssel hielt. Er wies darauf hin, dass er mit der offiziellen Botschaft aufgewachsen sei, die NATO stelle eine „Bastion des Imperialismus“ und die „Inkarnation des Teufels“ dar. Heute wisse er, dass die NATO auf demokratische Weise die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation verteidige.4 

„Partnership for Peace“

Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine NATO-Osterweiterung, das Weiße Haus dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Am 22. Oktober 1993 löste US-Außenminister Christopher Warren bei Jelzin eine enthusiastische Reaktion aus, als er das „Partnership for Peace“-Programm vorstellte. Allerdings hatte Jelzin den NATO-Vorschlag so verstanden, dass „Partnership for Peace“ nicht eine Vorbereitung, sondern ein Ersatz für eine NATO-Osterweiterung sei.5 Präsident Clinton präzisierte bereits im Januar 1994, dass der Beitritt der osteuropäischen NATO-Kandidaten nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte. Man wusste um Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein separatistischer Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall.  

Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern

In der Frage der NATO-Osterweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse.6 

Die sicherheitspolitischen Vorstellungen des Kremls gingen in eine andere Richtung. Schon im Oktober 1993 machte der russische Präsident Jelzin seinem Unmut Luft und wies Präsident Clinton in einem Brief darauf hin, dass der „Geist“ des 2+4-Vertrags, der explizit eine Stationierung fremder NATO-Truppen in den neuen Bundesländern verbiete, gleichzeitig eine NATO-Osterweiterung ausschließe. 

NATO-Russland-Grundakte

Im Januar 1994 schlug Jelzin seinem Amtskollegen Clinton „eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland“ vor, das die Weltsicherheit garantieren würde. Als eine mögliche Strategie schwebte ihm dabei eine Aufwertung der KSZE vor. Der Kreml fühlte sogar vor, ob für die Europäer ein Sicherheitssystem denkbar wäre, in dem die USA „nicht notwendigerweise“ vertreten sind. Russland kündigte an, in diesem Fall seine Streitkräfte zu reduzieren. Am Ende fiel die Entscheidung in einem kurzen Zeitfenster: Die NATO-Osterweiterung wurde nicht vor der russischen Präsidentschaftswahl im Juli 1996 publik gemacht, um Jelzins Bestätigung im Amt nicht zu gefährden. Umgekehrt wollte Clinton mit genau diesem Punkt seine eigene Wiederwahl im November 1996 stützen. Um Russland zu beschwichtigen, gab die NATO im Dezember 1996 ein Statement ab, dass die Allianz „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ habe, Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. 1997 unterzeichneten die NATO und Russland eine Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.7 Federführend war dabei der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der sich eng mit dem NATO-Generalsekretär Javier Solana abstimmte. Allerdings gerieten dabei die europäischen Alliierten ins Hintertreffen. Solana versuchte die Situation zu entschärfen, indem er den amerikanischen Formulierungsvorschlag für die Grundakte als seinen eigenen ausgab. Allerdings merkte ein britischer Vertreter maliziös an, dass Solana wenigstens die Rechtschreibung anpassen müsse, wenn er seine transatlantischen Ghostwriter verbergen wolle.8

1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. In der jüngsten Vergangenheit wurden noch Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) in die NATO aufgenommen. Georgien und der Ukraine wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zwar ein Beitritt versprochen, allerdings ohne jeglichen Zeitplan. Wegen der Kriege in Georgien (2008) und in der Ukraine (2014) ist die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder allerdings in weite Ferne gerückt. 

Der NATO-Russland-Rat

Wie in der NATO-Russland Grundakte angekündigt, wurde 2002 ein NATO-Russland Rat eingerichtet, der aber zu wenig substanziellen Erfolgen führte. Im Gegenteil: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Präsident Putin in harschen Worten seine Enttäuschung über das angebliche Nichteinhalten westlicher Sicherheitsgarantien. Er verwies dabei auf ein Votum des NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner, der am 17. Mai 1990 bestätigt hatte, dass keine NATO-Truppen östlich der Grenzen Deutschlands eingesetzt würden.9 

Nach der Annexion der Krim und dem verdeckten russischen Angriffskrieg in der Ostukraine trug die NATO im Jahr 2016 den Sicherheitsbedenken Polens und der baltischen Länder Rechnung, indem sie im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“ je etwa 1000 Soldaten aus verschiedenen NATO-Mitgliedsländern auf Rotationsbasis in diesen vier Ländern einsetzte. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Bestimmungen der NATO-Russland Grundakte nicht verletzt werden. In diesem Abkommen wurde bekräftigt, es solle keine permanente Stationierung von ausländischen NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten geben. 

Moskau schloss 2021 seine NATO-Vertretung in Brüssel. Das Militärbündnis betonte dennoch, offen für einen Austausch zu bleiben. Allerdings bleibt das Verhältnis höchst angespannt, auch weil die USA als NATO-Führungsmacht zuoberst auf der offiziellen russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten standen.10

Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, in denen es nicht nur einen Stopp der NATO-Osterweiterung forderte, sondern auch den militärischen Rückzug aus osteuropäischen Bündnisstaaten. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis beantragt. Dem voran ging nicht nur die russische Invasion in die Ukraine, sondern auch eine noch vor dem Angriffskrieg begonnene russische Politik der Nadelstiche mit gezielten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen der NATO-Staaten.

Aktualisiert am 19.05.2022


1.National Security Archive: NATO Expansion: What Gorbachev Heard 
2.Lozo, Ignaz (2021): Gorbatschow: Der Weltveränderer, Darmstadt, S. 293-305 
3.Sarotte, Mary Elise (2010): Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In, in: International Security 35/ 2010, S. 110–137 
4.Schimmelfennig, Frank (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge, S. 232 
5.National Security Archive: NATO Expansion: What Yeltsin Heard 
6.Liviu Horovitz, Liviu (2021): A “Great Prize,” But Not the Main Prize: British Internal Deliberations on Not-Losing Russia, 1993–1995, in Schmies, Oxana (Hrsg..): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 85-112, hier S. 92 
7.nato.int: Founding Act 
8.Pifer, Steven (2021): The Clinton Administration and Reshaping Europe, in: Oxana Schmies (Hrsg.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 113-142, hier S. 131 
9.kremlin.ru: Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy und nato.int: The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s 
10.publication.pravo.gov.ru: Rasporjaženie Pravitel'stva Rossijskoj Federazii ot 13.05.2021 № 1230-r 
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