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„Das jetzige Regime ist todgeweiht“

Im Frühjahr und Sommer 2014 sah man Igor Girkin (genannt Strelkow, „der Schütze“) nahezu täglich im russischen Fernsehen: Der ehemalige FSB-Mitarbeiter aus Moskau war, wie er selber angibt, maßgeblich an der Operation zur Angliederung der Krim beteiligt. Im Mai 2014 wurde er dann Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik und führte in Slawjansk persönlich die pro-russischen Separatisten an. Mit seinem Rücktritt noch im August desselben Jahres verschwand er wieder von den Fernsehbildschirmen. Er lebt seitdem in Moskau, wo er die Bewegung Noworossija leitet. Außerdem ist er Vorsitzender der Allrussischen Nationalen Bewegung, deren Ziel die „Wiedergeburt Russlands als russischer Nationalstaat“ ist, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Deklaration heißt.

Im Interview mit Znak spricht der überzeugte Nationalist über die von ihm angestrebte Vereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus, über das dreckige Geschäft der Politik und potentielle Spione in Putins Umfeld.

 

Источник Znak

„Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia

Die Bewegung Noworossija hat ihr Quartier in ein paar kleinen Zimmern unweit der Metrostation Taganskaja. Renoviert wurde lange nicht mehr, man muss aufpassen, wo man hintritt. Beim Eintreten verrät der Geruch: Hier ist der Lebensraum einer Katze.  Während des ganzen Interview schläft ein riesiger roter Kater, genannt der „Grimmige“, auf Strelkows Tisch. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Portrait von Nikolaus II., ein ebensolches steht auf Strelkows Tisch.

Neulich haben Sie eine Deklaration veröffentlicht. Ich würde gern zunächst nachvollziehen, wer die Verfasser dieser Deklaration sind. Außerdem enthält sie doch offensichtliche Widersprüche. Einerseits ist darin die Rede von europäischen Werten, von einer Annäherung an die Staaten der Ersten Welt, andererseits von der Notwendigkeit, die Ukraine und Belarus zurückzubekommen. Meiner Meinung nach lässt sich das nicht miteinander vereinbaren.

Erstens ist die Deklaration ein Gemeinschaftswerk. Ich war an der Redaktion beteiligt und habe den einen oder anderen Absatz selbst geschrieben. Aber ich streite nicht ab, dass der Grundtext von Vertretern des nationalistischen Flügels stammt.

Allerdings ist es eine Deklaration, es sind nicht die Zehn Gebote, die in Stein gemeißelt sind. Ein Arbeitspapier. Es kann sich verändern, wenn ein Wechsel der realpolitischen Zustände es erfordert. Sie müssen zugeben, dass alle demokratischen oder rechtlichen Normen nur gelten können, wenn sich der Staat oder die Gesellschaft in einem einigermaßen ruhigen Zustand befinden. In einer schweren Krise sind sie nicht nur wirkungslos, sie können sogar zu einem beschleunigten Zerfall von Staat und Gesellschaft beitragen.

Derzeit stellt die Deklaration, schlicht gesagt, eine Sammlung unserer Wünsche dar – das, was wir im Idealfall gern sehen würden, wenn der Übergang aus der jetzigen Situation ohne herausragende Erschütterungen vonstattengeht.

Ich verstehe trotzdem nicht ganz, möchten Sie eine Wiedervereinigung mit der Ukraine und Belarus oder möchten Sie Demokratie?

Ich lese Ihnen mal den Wortlaut vor: „Wir treten ein für die Vereinigung der Russischen Föderation mit der Ukraine und Belarus sowie weiteren russischen Gebieten zu einem gesamtrussischen Staat, für die Umwandlung des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion in eine bedingungslos russische Einflusszone.“

Gut möglich, dass die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht

Nun sagen Sie mir mal, wo steht da was von Krieg? Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand, der diesen Satz liest, Strelkow vorstellt, den Überfall auf Slawjansk, die Geschehnisse auf der Krim, die fünf Kriege, die ich auf dem Buckel habe und davon ausgeht, dass dieser Strelkow definitiv eine Art Wehrmacht errichten und in die Ukraine, Belarus oder sonst wo einfallen wird. Aber wo steht das in der Deklaration?

Gut möglich, dass unsere politischen Gegner, die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht.

Wie stellen Sie sich diese Vereinigung denn ohne Blutvergießen vor?

Ich sage es Ihnen nochmal, die Deklaration ist eine Reihe von Wünschen. Das, was wir anstreben. Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man zum Beispiel gar nicht Krieg führen. Mit besonnener Politik und unter der Voraussetzung, dass man Belarus nicht als ein mögliches Objekt der Plünderung betrachtet, wäre eine Vereinigung denke ich gut möglich, und zwar ohne jeden Krieg und ohne Blutvergießen.

Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man keinen Krieg führen. Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage

Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage. Der Krieg ist schon im Gange, da können wir nicht mehr raus. Jetzt müssen wir diesen Krieg gewinnen, denn im Fall einer Niederlage verlieren wir nicht nur in der Ukraine, sondern überall. Da bleibe ich bei meiner Meinung.

Das Dilemma wurde alternativlos mit der Angliederung der Krim. Dieser Schritt war richtig, aber ich möchte hier nicht seine Richtigkeit, sondern seine Bedeutung betonen. Seitdem gibt es keine anderen Möglichkeiten der Befriedung mehr: Entweder muss man die Junta zerschlagen oder vor ihr kapitulieren.

Und dennoch, wenn wir Ihrem Szenario folgen, dann kann doch von einer weiteren Annäherung an die „Erste Welt“, von der Sie in der Deklaration sprechen, gar keine Rede sein. Es werden nur weitere Sanktionen folgen.

Ich war nie Jurist, meine Grundausbildung sind die fünfmonatigen Seminare an der Akademie des russischen FSB, wo ich im Kampf gegen den Untergrund und in der Organisation der Arbeit mit dem Untergrund ausgebildet wurde.

Trotzdem, wenn es um so ernsthafte Dinge wie eine Deklaration geht, muss man sie wörtlich lesen und nichts erfinden. Wir sind dafür, Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus der sogenannten Ersten Welt für Russland zu gewinnen. Da steht nichts davon, dass wir eine Freundschaft mit der gesamten Ersten Welt auf allen Ebenen und zu ihren Bedingungen wollen.

Nein, wir sind für die Errichtung eines souveränen, freien und – so komisch das aus meinem Mund auch klingen mag – eines Rechtsstaates in Russland. Wenn das erreicht ist, kommen wir ganz von selbst auf ein Level mit den Ländern der Ersten Welt.

In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – 'klauen, verkaufen, ins Ausland bringen'

Außerdem sind wir jetzt in wirtschaftlicher Hinsicht wunderbar in das System der Ersten Welt eingebunden. Nämlich auf der Ebene vom Rohstoffanhängsel, der Pipeline, durch die man alle unsere Ressourcen aus uns rauspumpt. Und im Gegenzug bekommen wir finanzielle Mittel, die dann ebenfalls außer Landes geschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – „klauen, verkaufen, ins Ausland bringen“.

Sie haben von einem möglichen Machtwechsel in Russland gesprochen. Wollen Sie um die Macht kämpfen? Haben Sie vor, für die Duma zu kandidieren?

Nein. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Sie interessiert mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was Politik bedeutet. Als ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter weiß ich das ganz genau: Es ist eine schmutzige Sache, bei der jeder lügt. Lügen ist mir ein Gräuel.

Warum haben Sie sich dann auf die Politik eingelassen?

Aus demselben Grund, warum ich auf die Krim gefahren bin und später nach Slawjansk. Ich habe schon lange keinen Gefallen mehr am Krieg. Wie schon Napoleon sagte: Für den Krieg braucht man ein bestimmtes Alter. Ein Mann über vierzig, erst recht wenn er den Krieg kennt, will nicht mehr kämpfen. Er hat viel gesehen und weiß genau, dass es daran nichts Romantisches gibt. Das Erlebte lastet auf einem, und das Risiko reizt einen auch nicht mehr – im Krieg jedoch ist das Risiko unvermeidbar.

Aber ich habe meine Pflicht erfüllt. Für die Krim habe ich nichts bekommen, noch nicht einmal ein Dankeschön. Dasselbe habe ich in Slawjansk getan. Wenn man mich nicht buchstäblich dazu gezwungen hätte, die Maske abzunehmen (wie und warum ist eine andere Geschichte), würdet ihr immer noch glauben, dass der Oberst Strelkow ein cooler Hauptmann des GRU mit superbreiten Schultern ist, der mit links Flugzeuge von Himmel holt und mit einem Schuss ganze Panzerkolonnen abfackelt.

Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten

Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. In Kriegszeiten kann ich sie ergreifen – das ist überhaupt kein Problem. Ich habe kein Interesse an diesen ganzen Spielchen mit Wahlen, Umfragewerten und der Notwendigkeit, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und dafür zu lügen.

Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten. Weil es das Schicksal nun mal so wollte, dass ich eine gewisse Popularität, eine gewisse Bekanntheit erlangt habe, habe ich kein Recht, sie nicht zu nutzen, quasi mein Pfund zu vergraben wie in dem berühmten Gleichnis.

Sie wollen also friedlich um die Macht kämpfen?

Wir werden nicht auf friedliche Weise um die Macht kämpfen, im Augenblick werden wir überhaupt nicht um die Macht kämpfen.

Und was haben Sie dann vor?

Wir haben schon lange gesagt, dass das jetzige Regime todgeweiht ist, es verschlingt sich selbst. Vor unseren Augen passiert die Selbstzerstörung eines Regimes, das sich nicht verändern will. Es zerfällt auf der Ebene der Wirtschaft, der Politik, sogar auf der Ebene der Machtvertikale, weil diese zersplittert.

Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe

Unsere Aufgabe ist es nicht, dieses Regime zu stürzen. Allein deswegen nicht, weil man am Beispiel der Ukraine sieht, wozu so ein Umsturz führt. Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, die nötige Kraft aufzubringen, um das Land zu erhalten.

Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe und die Errichtung einer neuen politischen Zukunft.

Also darum, in der Krisensituation die Macht zu übernehmen?

Ja, in gewisser Weise schon. Eine andere Möglichkeit an die Macht zu kommen, gibt es derzeit einfach nicht. Jeder Mensch, der in unserem Land lebt und kein pathologischer Heuchler oder Pateimitglied von Einiges Russland ist, begreift, dass die Wahlen einfach nur Fiktion und Betrug sind, und das seit Anfang der 90er.

Sie wissen doch, dass man in unserem Land Nationalisten für gewöhnlich einfach wegsperrt. Haben Sie keine Angst, dass Sie und Ihre Mitstreiter sich plötzlich im Gefängnis wiederfinden?

Habe ich nicht. Nicht weil ich glaube, dass man mich nicht einbuchten könnte, sondern weil ich einfach keine Angst davor habe, das ist alles. Wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen mir und einem Nawalny: Nawalny war sein Leben lang Politiker, hat Geld verdient, für ihn hat der persönliche Komfort sehr großen Wert. Ich mag Komfort auch gern. Ich bin kein Eremit oder Mönch, ich trinke gern ein ordentliches Glas Bier, hab nichts gegen ein gutes Essen und reise gern. Aber ich war in meinem Leben auch in solchen Situationen, die Alexej Nawalny nicht mal vom Hörensagen kennt.

Ich kann mir vorstellen, was mit mir passieren könnte, wenn ich ins Gefängnis oder in U-Haft komme. Glauben Sie mir, ich kenne schlimmere Situationen.
Vielleicht wirkte es nach außen anders, aber als ich in Slawjansk war, wurde mir klar: Das Hauptquartier ist mein Leben. Wobei die Chancen zu überleben wesentlich schlechter stehen, als die Chancen zu siegen. Ich bin kein derart zurückgebliebener Abenteurer, um unerschütterlich an den Sieg zu glauben. Mir war klar, dass die Chancen nicht sehr hoch sind und dass wir im Großen und Ganzen ins Ungewisse steuern, dass man uns vielleicht helfen würde, vielleicht aber auch nicht. Im Endeffekt hat man uns halb geholfen.

Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante

Mir war auch klar, dass die Chancen da lebend rauszukommen für mich persönlich etwa eins zu zehn standen. Ich bin nicht wegen des Ruhms dahin gegangen. Mir ist die Öffentlichkeit bis heute unangenehm, ich mag es nicht, wenn man mich auf der Straße wiedererkennt und ein Autogramm von mir will…

Geben Sie dann ein Autogramm?

Inzwischen hat man mich ein bisschen vergessen, und ich kann endlich wieder mit der Metro fahren. Manch einer schaut mich jetzt genauer an und versucht das Gesicht zuzuordnen, aber von den Fernsehbildschirmen bin ich verschwunden. An den Namen Strelkow erinnert man sich vielleicht noch, aber nicht mehr an das Aussehen.

Aber, um wieder zu ihrer Frage zurückzukommen: Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Außerdem denke ich nicht, dass man mich einbuchten würde, ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante.

Früher haben Sie gesagt, dass Sie Wladimir Putin unterstützen. Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert?

Sehen Sie den Schrank da in der Ecke? Hinter dem steht ein Porträt von Wladimir Putin, verstaubt. Früher hing es mal an der Wand. Es hing da bis zum Beginn des Syrien-Abenteuers.

Putin verhält sich wie ein defätistischer Kapitulant

Aber es hing da nicht, weil ich ein großer Putin-Anhänger bin und ihn für den besten Anführer im Land halte, sondern weil während des Kriegs die Hoffnung bestand, dass er sich wie ein Oberbefehlshaber verhalten würde, und nicht wie ein defätistischer Kapitulant. Ich war bereit, ihn als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Aber jetzt bewegt sich Putin eins zu eins auf dem Weg von Milošević. Wenn er diesen Weg wieder verlässt, wenn wir wieder den Putin von 2014 vor uns haben und ein paar Bedingungen erfüllt sind, dann kann es gut sein, dass ich ihn wieder unterstütze.

Welche Bedingungen?

Als Putin 2014 den innen- und außenpolitischen Kurs scharf gewechselt hat, hätte er gleichzeitig die Kader austauschen müssen. Jegor Proswirnin kritisiert mich furchtbar dafür, aber das ist ein Zitat von Stalin, das einfach jedem im Gedächtnis ist: „Die Kader entscheiden alles!“ Wenn man die wichtigste und nützlichste Sache einem Halunken und Gauner anvertraut, wird er sicher etwas klauen, verschusseln, verkaufen.

Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus seinem Umfeld zusammengestellt, aus Judo- und Hinterhof-Kumpels. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus Judo- und Hinterhof-Kumpels zusammengestellt. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

Ich war fest davon überzeugt, dass ein Prozess der Kadererneuerung einsetzen würde, dass er mit Blick auf die neuen Aufgaben eine handlungsfähige Truppe zusammenstellen würde. Denn es ist doch unmöglich dem Westen auch nur im Politischen Paroli zu bieten, wenn die Kinder des Außenministers in Großbritannien studieren, wenn die eigenen Kinder in den Niederlanden leben, wenn Exfrau und Kinder vom Hauptzuständigen für die Ukraine in London leben. Man kann den Feind nicht bekämpfen, wenn man unter den ausführenden Kräften potentielle Spione hat. Wobei ich glaube, dass ein paar davon nicht nur potentiell sind.

Aber das ist nicht geschehen. Später, als wir in die Konfrontation mit dem Westen getreten sind, hätten wir ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft schaffen müssen. Wenn man außenpolitische Souveränität will, braucht man wirtschaftliche Souveränität. Eine Pipeline kann nicht unabhängig sein. Man hätte entweder eine Umgestaltung der Wirtschaft beginnen müssen oder zu einer Politik zurückkehren müssen, die mit der Wirtschaft übereinstimmt.

Denn bei uns laufen ja Politik und Wirtschaft in verschiedene Richtungen, deswegen laufen wir im Endeffekt nirgendwo hin, sondern treten auf der Stelle und verlieren auf beiden Linien.

Aber man spricht doch von Importsubstitution?

Die können sagen, was sie wollen. Aber dass beispielsweise Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline.

Ich habe letztens eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten und eine Pipeline an die Tafel gemalt, über die Erdöl von Russland in den Westen fließt. Dort wird es dann verkauft und ein Teil des Geldes fließt wieder zurück – um dann sofort wieder in den Westen zurückzugelangen. Aber die Pipeline verfügt über eine gewisse Durchlässigkeit. Sagen wir, es werden 100 % Ressourcen gewonnen, aber nicht alles davon erreicht den Westen, denn eine Pipeline trägt eine gewisse Bürde. Das sind Atomwaffen, Armee, Flotte, Wissenschaft, Kultur, Sozialleistungen, Rentner und der Staatsapparat. Diese Bürde verschlingt etwa 50 % von dem, was in den Westen gelangen könnte.

Dass Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline

Deswegen hat der Westen ein Interesse daran, dass sich diese Bürde verringert, und auch Kudrin ist dafür, diese Bürde zu beseitigen. Nur sind das Sie und ich, das ist unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit, unsere Armee, das gehört uns. Derjenige, der seine eigene Armee nicht ernähren will, ernährt die fremde.

Haben Sie mal in Betracht gezogen, der Gesamtrussischen Nationalen Front beizutreten, um Putin bei der Durchführung von Reformen zu unterstützen?

Wenn Sie in einen Misthaufen kriechen, dann ist Ihnen doch klar, dass Sie sich schmutzig machen werden, oder? Das geht gar nicht anders. Mich widert das an, ich sehe diese ganzen Leute und mir ist klar, dass man ihnen jede beliebige Angelegenheit aufdrücken könnte. Gestern waren sie noch Kommunisten, bis 1991, dann wurden sie alle Liberale und Demokraten, später treue Staatsanhänger und Patrioten.

Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die

Aber ich bin kein Fähnchen im Wind und möchte mit solchen Leuten auch nicht in einem Boot sitzen. Sie können nichts außer klauen und sich den Machthabern anpassen. Wenn morgen bei uns Hitler an die Macht käme, wären sie sofort alle in der NSDAP, wenn morgen die Amerikaner bei uns landen würden, würden sie die mit Freudentränen empfangen. Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die.

Ich versuche mit aller Kraft [meine Ansichten] zu vermitteln. Ich habe eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten, danach hat man mich überall verboten. Sogar in der Provinz. Überall gehen Anrufe meiner ehemaligen Kollegen ein und es heißt „geht nicht“. Dafür reicht die mit Feigheit und Loyalität durchtränkte Machtvertikale noch. Eine mächtige Blockade wurde um mich errichtet, selbst Erwähnungen sind verboten.

Sogar als Herr Posner über die „Deklaration der Faschisten“ sprach, hat er nur Proswirin und Krylow erwähnt, aber nicht Strelkow. Man solle den berümten Mann vergessen, danach kann man dann irgendwas mit ihm anstellen. Nur fehlt ihnen die Zeit dafür, sie haben Zeitnot [orig. Dt.– dek]. Sie bräuchten etwa fünf Jahre.

Und die haben sie nicht?

Nein. Sie haben maximal zwei. Sie betreiben gerade eine Politik à la Trischkas Kaftan: Ist ein Teil löchrig geworden, schneiden sie woanders etwas weg und flicken es damit. Aber der Rock wird immer knapper, überall nur Löcher. Zwei Kriege, in denen wir zur Hälfte drin, zur Hälfte draußen sind.

Den einen hätten wir im Handumdrehen gewinnen können, haben aber Schiss bekommen. In den zweiten sind wir eingestiegen und haben bald kapiert, dass wir den nicht gewinnen können, aber ein Bein hängt immer noch in der Falle. Unser Kontingent wächst beständig, die gesamte syrische Armee von Assad wird von uns versorgt. Es gibt keine strukturellen Reformen oder wenigstens die Einsicht, dass sie vonnöten wären. Nun hat man Kudrin aus dem Ärmel gezogen – vielleicht kann der ja Wunder bewirken? Aber das ist unmöglich.

Lassen Sie uns nochmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Angenommen, Sie schaffen es, die Macht zu übernehmen, wenn das Land zu bröckeln beginnt. Was machen Sie dann mit ihren politischen Gegnern? Beispielsweise mit den Liberalen?

Sie hätten wohl gern, dass ich Ihnen Balsam auf die Seele gieße? Sie werden natürlich alle an der Kremlmauer hängen – die Kommunisten, die Liberalen, die Jedinaja-Rossija-Parteigänger. Kleiner Scherz. Ich muss Sie enttäuschen. Das wird es aus einem einfachen Grund nicht geben: Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe.

Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe

Ich habe zu allen Nationen ein gutes Verhältnis, nur liebe ich die eigene am meisten. Wir müssen die Chance auf eine Zukunft haben, nicht zu humanistischen Gleichmachern  werden – ich bin grundsätzlich gegen Gleichmacherei. Ich denke, dass es ohne Unterschiede keine Entwicklung geben kann. Ich bin für die Entwicklung jeder einzelnen nationalen Kultur, aber dabei für die Einheit von Russland. Ich möchte darauf hinaus, dass das russische Volk sehr geschwächt ist, und jeder Mensch ist wertvoll.

Natürlich ist beispielsweise Anatoli Borissowitsch Tschubais für mich nicht wertvoll, und andere Menschen von seiner Art sind für mich auch nicht wertvoll. Aber gegenüber den gewöhnlichen liberalen Weißbändchenträgern habe ich keine feindlichen Gefühle. Ich denke, wenn wir es schaffen, einen normalen Staat zu errichten, werden sie ihren Platz darin finden. Dann mögen sie in Gottes Namen glücklich und reich werden und viele Kinder kriegen.

Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über den Donbass sprechen. Vor dem Hintergrund der letzten Erklärung von Lawrow zum Verbleiben des Donbass in der Ukraine und unserer Nichtanerkennung des Donbass – bereuen Sie überhaupt nicht, was Sie getan haben?

Nein, das tue ich nicht. Erstens ist es dumm, etwas zu bereuen, was schon getan ist. Man kann begangene Sünden bereuen als Christ, aber etwas zu bereuen, das ich aus Aufrichtigkeit getan habe, ist sinnlos.

Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun

Ich bin nicht für Geld, Reichtum oder Ruhm dahin gegangen. Ich bin dahin gegangen, um der ansässigen russischen Bevölkerung zu helfen und habe das nach meinen Kräften und Möglichkeiten getan. Vielleicht habe ich nicht genug geholfen, vielleicht hätte ich mehr tun können. Aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun.

Ich bin davon überzeugt, dass Kiew eine russische Stadt ist, und dass Russland ohne Kiew nicht Russland ist, sondern die Russische Föderation. Und die Russische Föderation ist nicht Russland, leider.

 

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Igor Strelkow

Igor Strelkow diente bei der russischen Armee und im Geheimdienst und war einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten im Sommer 2014. Seit August 2014 nimmt er nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen teil, ist jedoch Berater der Separatisten und gilt als ideologischer Verfechter ihrer Interessen in Russland. Der Name Strelkow ist ein Pseudonym, sein wirklicher Name lautet Igor Girkin.

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Igor Strelkow diente bei der russischen Armee und im Geheimdienst und war einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten im Sommer 2014. Seit August 2014 nimmt er nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen teil, ist jedoch Berater der Separatisten und gilt als ideologischer Verfechter ihrer Interessen in Russland. Der Name Strelkow ist ein Pseudonym, sein wirklicher Name lautet Igor Girkin.

Der Moskauer Igor Girkin (geb. 1970) wuchs in einer Militärfamilie auf. Diese Prägung führte zu einer großen Begeisterung für Armee und Militärgeschichte: Auch Kriegs-Reenactment – die Nachstellung historischer Schlachten – gehört zu seinen Hobbies.1 Girkin ist unter dem Kampfnamen Strelkow bekannt geworden, was im Russischen „Schütze“ bedeutet. Er hat in Moskau Geschichte studiert und wurde in Kreisen der russischen weißen (neo-zaristischen) Bewegung bekannt. Er nahm als Freiwilliger an den Kämpfen in Transnistrien (Juni – August 1992) und Bosnien (November 1992 – März 1993) teil. Von 1993 bis 1998 diente Girkin in der russischen Armee, dann wechselte er zu den Spezialtruppen des russischen Nachrichtendienstes FSB und arbeitete dort bis 2013. Nachdem er den FSB verlassen hatte, war er als Sicherheitschef eines Investmentfonds tätig, wo er zusammen mit seinem alten Freund, dem späteren „Premierminister“ der Donezker Volksrepublik, Alexander Borodaj zusammenarbeitete.

Nach eigenen Angaben kam Girkin Anfang März 2014 freiwillig auf die Krim, wo er zunächst als Militär- und Sicherheitsberater des Ministerpräsidenten der autonomen Republik Krim Sergej Aksenow tätig war. Im April 2014 ging er an die russisch-ukrainische Grenze, führte die Separatisten bei mehreren Gefechten gegen die ukrainische Armee an und wurde im Mai 2014 zum Verteidigungsminister der selbsternannten Donezker Volksrepublik ernannt. Wenige Minuten nach dem Absturz des Flugs MH17 der Malaysian Airlines am 17. Juli 2014 schrieb er in den sozialen Netzwerken, dass die Separatisten einen weiteren „Vogel“ abgeschossen hätten und die Ukrainer endlich verstehen sollten, dass sie im Luftraum der Donezker Volksrepublik nicht fliegen dürften2. Der Eintrag verschwand wenige Stunden später, gilt aber als ein Hinweis darauf, dass das Flugzeug von den Separatisten abgeschossen wurde3. Girkin trat im August 2014 von seinem Posten als Verteidigungsminister zurück und ging zurück nach Russland, wo er seitdem die gesellschaftliche Bewegung Noworossija leitet. Diese sammelt Geld für die Ausrüstung der Volksmilizen der nicht anerkannten Republiken. Ukrainische und europäische Nachrichtendienste äußerten mehrfach den Verdacht, dass Girkin auf der Krim und in Donezk für den russischen Außennachrichtendienst GRU tätig war, weswegen er auch auf der EU-Sanktionsliste steht.          

Foto © Dom kobb unter CC BY-SA 4.0Igor Girkin hat sich erfolgreich als Held von Noworossija inszeniert, seine tatsächliche Rolle in der separatistischen Bewegung sowie die Umstände seines Rücktrittes bleiben umstritten. Eine Zeit lang war er in den russischen Medien sehr präsent; dass er aus ihnen inzwischen fast verschwunden ist, wird als ein Zeichen dafür gesehen, dass das Projekt Noworossija von russischer Seite aufgegeben wurde. Der ehemalige Premierminister der Donezker Volksrepublik Alexander Borodaj warf seinerseits Girkin vor, für mehrere militärische Verluste der selbsternannten Republik verantwortlich zu sein.4 Nach seinem Rücktritt kritisierte Strelkow seinerseits heftig die Führung der beiden selbsternannten Volksrepubliken und behauptete im Interview mit der Zeitung Sawtra, dass es ohne ihn keine separatistische Bewegung in der Ostukraine gegeben hätte.5 Er kritisierte darin außerdem das Minsker Abkommen und die russische Regierung –  letztere, da sie seiner Meinung nach Noworossija nicht genügend unterstützt und gar aufgegeben habe – dabei nahm er Präsident Putin jedoch aus.

Die Gründung der Allrussischen Nationalen Bewegung im Mai 2016, an der Strelkow beteiligt war, glich vor diesem Hintergrund einem Eingeständnis, dass das Projekt Noworossija nun tatsächlich fallengelassen wurde. Damit wich auch die konziliante Haltung Strelkows gegenüber Putin: In einem Interview mit Znak sah Strelkow den Präsidenten, dessen Portrait nun verstaubt hinter dem Schrank in seinem Büro liege, als „Kapitulanten”, der sich „auf dem Weg Miloševićs” befinde.

Im Juli 2023 wurde Girkin in Moskau festgenommen. Er soll zu extremistischen Aktivitäten aufgerufen haben, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die von Strelkow gegründete Organisation Klub der zornigen Patrioten arbeitet daran, ihren verhafteten Anführer als einen Gewissensgefangenen zu stilisieren und Strelkows Sichtbarkeit durch Social Media Kampagnen zu steigern. 


1.Openuni.io: Rekonstruktory: Meždu proshlym i nastojaščim
2.The Guardian: Three pro-Russia rebel leaders at the centre of suspicions over downed MH17
3.BBC: Ukraine crisis: Key players in eastern unrest
4.Expert.ru: Borodaj: «Strelkov po faktu uže vojuet na storone protivnika»
5.Donezki.org: Ėkskljuzivnoe intervʼju I. Strelkova: Sražajasʼ za Novorossiju, my sražaemsja za Rossiju
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