Nadija (russ. Nadeshda) Sawtschenko, Leutnant der ukrainischen Armee, wird in Russland der Prozess gemacht. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod russischer Zivilisten auf ukrainischem Territorium mitverantwortlich zu sein und danach illegal die Grenze nach Russland übertreten zu haben. Die Verteidigung erklärt hingegen, Sawtschenko sei bereits rund zwei Stunden vor dem Tod der Zivilisten gefangen genommen und nach Russland entführt worden. Am 21. und 22. März soll das Urteil verkündet werden. Ihr Schlusswort in dem Prozess hielt Sawtschenko bereits am Mittwoch vergangener Woche, dabei zeigte sie dem Gericht den Stinkefinger und sagte: „Russland wird mich so oder so an die Ukraine übergeben, ob tot oder lebendig.“
Die Staatsanwaltschaft fordert für die Militärpilotin und Freiwillige des Bataillons Aidar sowie inzwischen auch Abgeordnete des ukrainischen Parlaments 23 Jahre Haft.
Sawtschenko trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik, teilweise nahm sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Viele Politiker aus dem Westen, darunter US-Außenminister John Kerry, aber auch Intellektuelle wie die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy forderten die Freilassung der 34-Jährigen.
Der hochpolitische Fall erregt sowohl in Russland als auch in der Ukraine die Gemüter: Die einen sehen in Sawtschenko eine Mörderin, die anderen eine Märtyrerin. In der Ukraine erfährt Sawtschenko breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung und der Politik, Präsident Petro Poroschenko erklärte sie gar zur „Heldin der Ukraine“. In Moskau und Petersburg wurden hingegen vereinzelte stille Aktionen, die Solidarität mit Sawtschenko zeigten, sofort aufgelöst und endeten teilweise sogar mit Festnahmen.
Kurz vor der geplanten Urteilsverkündigung sprach Anton Krassowski von snob.ru mit Sawtschenkos Anwälten Mark Feigin und Nikolaj Polosow über den Fall.
Wer ist Nadeshda Sawtschenko?
Feigin: Sawtschenko ist Oberleutnant der Streitkräfte der Ukraine, die einzige Pilotin der ukrainischen Armee. Formell ist sie Waffensystemoffizier eines Kampfhubschraubers. Das ist das, was in ihren Militärunterlagen steht. Sie ist ein gradliniger, prinzipientreuer und unbequemer Mensch. In der normalen Gesellschaft wäre sie schwer zu ertragen. Damit meine ich, dass Menschen, die nicht ihrem Kreis angehören, sie seltsam finden, sich in ihrer Anwesenheit nicht wohlfühlen. In diesem Sinne haben wir es mit einer typischen Armeeangehörigen des frühen 21. Jahrhunderts in der Ukraine zu tun.
Ist sie vielleicht durchgedreht? Wenn man sie sieht, wie sie im Gerichtskäfig auf den Stuhl springt, das Geschrei, die ausgestreckten Mittelfinger, fragt man sich: Verhält sie sich angemessen?
Feigin: Angemessen in Anbetracht der Lage, in der sie sich befindet. Nein, sie ist nicht durchgedreht. Man sollte sie einfach so nehmen, wie sie ist. An sie werden Maßstäbe angelegt, die für die umgebende Gesellschaft ganz normal sind, während sie immer wieder in Extremsituationen war, sei es im Irak, auf dem Maidan oder im Donbass zu Beginn des Krieges.
Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – da haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.
Im Irak?
Feigin: Ja, ein halbes Jahr lang hat sie im Kontingent der Koalition im Irak gedient. Sie war einfache motorisierte Schützin. Für diese sechs Dienstmonate stand ihr eine Belohnung zu: die Aufnahme an der Charkiwer Universität für Luft- und Raumfahrt. Wir haben es also mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun, hier greifen andere Kriterien. Wenn man alles addiert – also: Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – dann haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.
Ich vermute, in Russland gibt es Hunderte weiblicher Armeeangehörige, Leutnants. Es gibt sogar weibliche Generäle. Was ist daran besonders?
Feigin: Pilotinnen gibt es beispielsweise nicht. In Russland ist man der Ansicht, dass eine Frau weder ein Kampfflugzeug noch einen Kampfhubschrauber steuern könnte. Auch in der Ukraine war man dieser Ansicht. Bis Sawtschenko kam. Sie hat mit diesem Stereotyp gebrochen.
Wie geriet sie in russische Kriegsgefangenschaft?
Polosow: Das passierte am 17. Juni 2014. In diesem Moment gab es bereits heftige Zusammenstöße, die ukrainische Armee rückte von Norden her in Richtung Lugansk vor, das unter der Kontrolle der Aufständischen war. Sawtschenko ist dann mit den anderen Kämpfern des Bataillons Aidar in die Offensive gegangen.
Wie unterscheidet sich das Bataillon Aidar von den regulären Streitkräften der Ukraine?
Polosow: Aidar ist ein Freiwilligenbataillon, das Teil der Streitkräfte der Ukraine wurde. Das sind keine Freischärler vom Schlage der Machnowzi.
Grob gesagt, hat Sawtschenko nicht gegen den Fahneneid verstoßen, sondern einen Befehl nicht befolgt: Sie hat Urlaub genommen und ist aus dem heimischen Brody in der Oblast Lwiw, wo ihr Regiment stationiert war, in den Donbass aufgebrochen, um die unerfahrenen Rekruten auszubilden, da sie die nötige Erfahrung besaß. Und als am 17. Juni die Offensive begann, ging sie mit. Während eines Panzerdurchbruchs beim Anmarsch auf das Dorf Stukalowa Balka gerieten die Panzer und Schützenpanzer in einen Hinterhalt. Als sie den Gefechtslärm hörte, bewegte Sawtschenko sich darauf zu, traf auf verwundete Soldaten, die bereits getroffen waren; sie leistete Erste Hilfe und versuchte, da sie keine vernünftige Verbindung hatten, im Stab anzurufen, damit die Kämpfer abgeholt werden.
Sie hat mit dem Mobiltelefon angerufen?
Polosow: Ja. Dazu ging sie auf die Mitte der Straße. Sie geriet unter Beschuss, ihre Hand wurde durchschossen, ein glatter Durchschuss. Nach einiger Zeit kam dann einer der Freischärler auf sie zu, ein junger Kerl. Wie sie später erklärte, schoss sie nicht auf ihn, trotzdem sie bewaffnet war, weil sie keinen Ukrainer töten wollte. Direkt hinter diesem Jungen tauchte ein zweiter auf, ihr Sturmgewehr wurde ihr abgenommen und sie wurde mit ihrem eigenen Schulterriemen gefesselt und in die Wehrverwaltung von Lugansk gebracht, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Stab des Bataillons Sarja befand. Geleitet wurde der Stab zu der Zeit von Igor Plotnizki, dem späteren Oberhaupt der LNR. Sie verbrachte dort eine Woche. Danach wurde sie durch irgendwelche Schächte auf russisches Gebiet gebracht und in ein Auto mit russischen Nummernschildern gesetzt.
Waren ihre Augen verbunden?
Feigin: Ihre Augen waren mit einem gelb-blauen Kopftuch mit der Aufschrift „Selbstverteidigung des Maidan“ verbunden.
Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt.
Wie hat sie dann die russischen Nummernschilder sehen können?
Polosow: Sie sagte, dass sie zu diesem Auto durch einen Wald gelaufen seien, der von lauter Gräben durchzogen war. Sie stolperten die ganze Zeit und dieses Kopftuch verrutschte immer wieder, sodass sie zumindest sehen konnte, was sich direkt unter ihr, also unmittelbar vor ihren Füßen befand. Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt. Eine Zeitlang wurde sie mit diesem Auto transportiert. Schließlich wurde sie in ein drittes Fahrzeug gesetzt, einen Lada Samara. Im Zuge der Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass das bereits in der Oblast Woronesh geschah. Das bedeutet, dass sie im Norden der Oblast Rostow über die Grenze und bis zur Oblast Woronesh gebracht wurde. Im Samara saßen zwei Personen in Zivil. Einer saß am Steuer. Sie wurde zu dem zweiten auf den Rücksitz gesetzt. Außerdem war sie gefesselt.
An einer Kreuzung vor dem Dorf Kantemirowka in der Oblast Woronesh wurde das Fahrzeug von einer Streife der Verkehrspolizei angehalten. Die Verkehrspolizisten schauen ins Fahrzeug, fragen „Ist sie das?“ – „Das ist sie.“ Dann folgen Anrufe und nur wenige Minuten später kommt ein Minibus mit FSB-Mitarbeitern, von denen nur einer nicht maskiert gewesen ist. Sie setzen sie in den Minibus und bringen sie direkt nach Woronesh. Sie kommen an, bringen sie in der Nacht zur Ermittlungsbehörde, wo sie ein Ermittler in Empfang nimmt. Der hält Sawtschenkos Mobiltelefon in den Händen, das ihr in Gefangenschaft abgenommen worden war.
Danach wurde sie aus dem Gebäude der Ermittlungsbehörde geführt und in den Minibus gesetzt. Sie sagt, man habe ihr Woronesh bei Nacht gezeigt, irgendein Schiff und irgendeine Kirche, dann wurde sie in einen nahegelegenen Vorort gebracht, in die Siedlung Nowaja Usman, wo sich das Hotel Jewro befindet, eine gewöhnliche Fernfahrer-Absteige: ein nicht sonderlich großes, zweigeschossiges Gebäude mit Imbiss im Hof. Dort bringt sie diese ganze Kawalkade bewaffneter Kämpfer auf die zweite Etage in ein Hotelzimmer, das aus zwei Räumen besteht. Sie wird allein in dem einem Zimmer untergebracht, die Bewacher bleiben in dem anderen. Dort verbringt sie eine weitere Woche. Genau zu dieser Zeit wird sie vom Ermittlungsbeamten aufgesucht. Dies ist Nadeshdas Version der Ereignisse.
Man brauchte jemanden der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta.
Warum wurde sie gefangen genommen, warum wurde sie hergebracht und warum wird ihr dieser Schauprozess gemacht?
Fejgin: Man brauchte wenigstens jemanden von Bedeutung, jemanden, der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta, das sind sie, die freiwilligen Strafkommandos, wie dieses Aidar. Sie hat am besten gepasst, weil sie eine Frau ist. Die haben wohl damit gerechnet, dass sie leicht zu brechen sei, grob gesagt, um sie zu einem Geständnis zu zwingen unter Androhung einer langen Haftstrafe und so weiter.
Woher stammt diese ganze Geschichte mit der Richtschützin, die für den Tod der russischen Journalisten Woloschin und Korneljuk verantwortlich sein soll? Konnte sie die Treffer beeinflussen?
Polosow: Die Feuerleitung ist eine recht komplexe Sache. Wobei Pilot und Artillerist zwei unterschiedliche Dinge sind.
Davon abgesehen wird sie beschuldigt, den Beschuss von einem Gebiet geleitet zu haben, das von Widerstandskämpfern kontrolliert wurde: Die Anklage behauptet, sie sei in das vom Bataillon Sarja kontrollierte Gebiet vorgedrungen, habe einen Mast bestiegen, die Zielkoordinaten angepasst, sei dann heruntergestiegen, habe die Positionen des Bataillons Sarja umlaufen und sei dabei in Gefangenschaft geraten.
Was ist das für ein Mast? Konnte man von ihm aus erkennen, dass es sich um Journalisten handelte?
Polosow: Nein. Die Journalisten konnte man als solche überhaupt nicht erkennen, sie trugen weder besondere Helme noch Flakwesten. Daher wurde dieser Anklagepunkt fallengelassen.
Ein Gutachten hat festgestellt, dass dieser Mast der einzige Punkt ist, von dem aus man überhaupt hätte Menschen erkennen können. Deshalb wird sie nun des Mordes an Zivilisten aufgrund ihrer persönlichen Abneigung gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine beschuldigt.
Nicht alle Opfer werden untersucht. Warum nicht? Weil der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.
Kam außer Woloschin und Korneljuk noch jemand bei diesem Beschuss ums Leben?
Polosow: Es sind nur Freischärler des Bataillons Sarja getötet worden. Allerdings will die Anklage nicht alle Opfer untersuchen. Warum nicht? Weil anderenfalls der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.
Wie haben in diesem Fall die Ukrainer gezielt feuern können?
Feigin: Der Beschuss war ja gar nicht gezielt. Die schossen, wohin sie konnten. Sie kennen die ungefähren Koordinaten, also wird nachjustiert und gefeuert. Möglicherweise gab noch ein Zivilist per Telefon ein Signal, so geht das üblicherweise vor sich.
Im Prinzip kamen damals alle zufällig ums Leben, auch die Journalisten vom WGTRK.
Das heißt also, als unsere Journalisten getötet wurden, kam ein Anruf aus Moskau und es wurde schlicht befohlen, den idealen Sündenbock zu finden?
Fejgin: Ganz genau.
Wie erklären die Ermittler denn die Tatsache, dass eine Bürgerin der Ukraine auf russischem Gebiet vor Gericht steht wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet derselben Ukraine – an denen Russland angeblich nicht beteiligt ist?
Feigin: Das ist eine Frage der sogenannten Rechtshoheit. Es gibt da den Artikel 12 des Strafgesetzbuchs, nach dem ein ausländischer Staatsangehöriger tatsächlich in Russland vor Gericht gestellt werden kann, wenn eine Straftat gegen einen russischen Bürger oder gegen die Interessen Russlands begangen wurde. Dann kann die betreffende Person strafrechtlich belangt werden. Das Problem ist ein anderes: Da sie der allgemein-strafrechtlichen Linie gefolgt sind, haben sie de facto die Kriegskomponente ausgeklammert, die in der Genfer Konvention geregelt ist. Warum? Weil es sich nicht um einen internationalen, bewaffneten Konflikt gehandelt hat. Warum er nicht international ist? Weil Russland seine Beteiligung daran leugnet.
Polosow: Sie sprechen zudem nicht davon, dass sie entführt worden ist, sondern sie behaupten, sie sei selbst eingereist. Aus allgemein-humanitären Erwägungen heraus habe Plotnizki, so die Lesart der Anklage, zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass Sawtschenko einfach freigelassen werden müsse.
Das heißt also, eine Woche lang saß sie in dieser Wehrverwaltung, und dann sagt er: 'Kommt, wir lassen sie frei’?
Polosow: Ja, sie ist eine Frau und es gibt keine getrennten Toiletten und nur einen einzigen Raum, da können wir sie doch nicht gemeinsam mit männlichen Kriegsgefangenen festhalten, soll er gesagt haben, außerdem müsse sie auch verpflegt werden etc. Dann hat er sie angeblich an einen Mann mit dem Rufnamen „Cap Moisejew“ übergeben, der soll sie anschließend an den ungeregelten Grenzübergang Sewerny in der Nähe von Donezk gebracht und gesagt haben: Du bist frei, geh, wohin du willst. Und aus irgendeinem Grund geht sie nicht in Richtung Charkiw, sondern in Richtung Woronesh.
Für die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 322, Abschnitt 1, „Illegaler Grenzübertritt“, bedarf es des unmittelbaren Vorsatzes. Man braucht ein Motiv. Warum gehst du dorthin? Was ist dein Ziel? Sie ist in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. Warum sollte sie dorthin gehen?
Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich.
Lass uns über das Verfahren sprechen. Wie seid ihr zu Nadeshda Sawtschenkos Anwälten geworden?
Feigin: Am 9. Juli 2014 wurde bekanntgegeben, dass sich eine gewisse Nadeshda Sawtschenko auf russischem Staatsgebiet befindet und sich strafrechtlich vor Gericht zu verantworten hat. Und am 10. Juli, also buchstäblich am darauffolgenden Tag, rief mich Ljudmila Koslowskaja an, die Leiterin der Stiftung Offener Dialog. Das ist eine polnisch-ukrainische Organisation mit Sitz in Warschau. Sie sagte: Also, folgende Geschichte: Sawtschenko wurde ein Verteidiger namens Schulshenko zugeteilt, im Augenblick werde im Außenministerium die Frage erörtert, wer sich des Falls annehmen solle, da es ein sehr schwerwiegender Fall sei.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Aufnahmen von Sawtschenkos Befragung gesehen, wo sie Plotnizkis Fragen sehr frech beantwortet. Ich habe mir diese Aufnahmen noch einmal angesehen und nach nur zehn, fünfzehn Minuten gesagt: Gut, ich bin bereit. Der Chef des Konsularischen Dienstes beim Außenministerium der Ukraine rief mich an und sagte: Ich habe hier Vera Sawtschenko sitzen, Nadeshdas Schwester, könnten Sie ihr erklären, was jetzt zu tun ist? Darauf sagte ich: Es ist ganz offensichtlich, dass dieser Fall angesichts des Krieges kompliziert ist und ein politischer sein wird; alles, was ich momentan anbieten kann, ist, dass dieser Prozess sehr öffentlichkeitswirksam vonstatten gehen wird. Es wird nichts von dem geben, was, wie wir wissen, im Falle Senzows vorgefallen ist. Wir wussten bereits, dass Senzow gefoltert worden war. Am selben Tag bekam ich den von Vera Sawtschenko unterzeichneten Auftrag.
Warum haben sie gerade Euch als Anwälte ausgewählt?
Feigin: Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass sich jeder um diesen Fall gerissen hätte. Der Fall ist ja in der Tat toxisch. Kolja [Polosow] wird es bestätigen, er bekam einen Anruf: „Was treibst du da? Das ist dein Ende – sowohl beruflich als auch sonst." Darum ist es lachhaft zu behaupten, es hätte einen ernsthaften Wettbewerb gegeben. Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich. Daher gab es auch in der Anfangsetappe, als der Fall noch nicht das war, wozu er heute geworden ist, nicht wirklich sonderlich viele Interesse.
Na schön. Doch warum habt ihr euch so auf diesen Fall gestürzt? Er ist politisch und eine Niederlage vorprogrammiert.
Polosow: Auch wenn es in Russland für solche Fälle keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt, sind wir überzeugt, dass das System dennoch bezwungen werden kann. Wir haben schon Erfahrung: Dies ist nicht unser erster Fall mit großer öffentlicher Resonanz, über den man nicht nur in Russland spricht. Davor haben wir unsere Erfahrung mit Pussy Riot gemacht. Ob diese Erfahrung ein Erfolg oder ein Misserfolg war, ist eine andere Frage. Aus Fehlern lernt man, nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Und daher waren wir der Ansicht, dass wir diesen Fall der Nadeshda Sawtschenko schultern können.
Wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.
Verstehe ich das richtig, dass die Tätigkeit eines politischen Anwalts nicht wirklich Anwaltstätigkeit ist, sondern vielmehr ein politisches Statement?
Polosow: Die Tätigkeit des politischen Anwalts ist mehr als gewöhnliche Anwaltschaft. Es gibt die juristische Ebene, auf der Rechtsmittel eingelegt, bestimmte Prozessentscheidungen angefochten werden, nach Unschuldsbeweisen gesucht und Schuldbeweise angefochten werden. Damit befassen sich hundert Prozent aller Anwälte. Wir fügen dieser Ebene noch die öffentliche Kommunikation mit Politikern verschiedener Schichten hinzu, ob im Ausland oder hier, das spielt keine Rolle.
Wir helfen dabei, bestimmte politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Da wird, wie zum Beispiel im Fall von Nadeshda Sawtschenko, eine Person in die Oberste Rada gewählt, wird Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und erlangt damit Immunität (die sich Russland übrigens anzuerkennen weigert).
Dazu kommt noch eine Medienkampagne, um den Kreis derer zu erweitern, die auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess involviert sind.
Verstehe ich richtig, dass in einer solchen Situation die Freilassung keine Priorität ist?
Feigin: Nein, im Gegenteil. All das ist letztendlich auf die Freilassung ausgerichtet, denn nur das kann die Freilassung des Angeklagten bewirken. Andernfalls, wie im Fall Senzow, wo es keine politische Anwaltschaft gibt, kriegt er trotzdem 20 Jahre. Eins musst du verstehen: Wenn du öffentlich nicht davon sprichst, dass jemand unschuldig ist und du beweist das nicht mit Prozessmitteln, sondern mittels politischer Methoden, dann ist das allen scheißegal, es ist allen gleich. Denn wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.
Das ukrainische Justizministerium wird eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat.
Was wird weiter mit Sawtschenko geschehen?
Feigin: Sie wird zweifellos schuldig gesprochen und verurteilt werden.
Zu 23 Jahren?
Feigin: Ob nun zu 20 oder 15 Jahren, für die spielt das überhaupt keine Rolle. Die Urteilsverkündung ist für den 21. und am 22. März angesetzt. Nach zehn Werktagen – am 1. bzw. 2. April wird das Urteil dann rechtskräftig. Ab diesem Moment wird das ukrainische Justizministerium im Rahmen der Konvention über die Auslieferung von Verurteilten aus dem Jahr 1983, an der auch die Ukraine und Russland beteiligt sind, eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat, in die Ukraine, damit sie ihre Strafe dort ableisten kann. Dies ist die wahrscheinlichste Variante.
Das wäre dann gewissermaßen die Organisation eines Austauschs?
Feigin: Ja, und die anderen schicken dafür Jerofejew oder Alexandrow nach Russland.
Habt ihr nicht den Eindruck, dass die Ukrainer selbst gar nicht wirklich wollen, dass sie nach Hause zurückkehrt?
Feigin: Nein. Denn wenn das der Fall wäre, wenn auch nur etwas davon nach außen dringen würde, dann wäre Poroschenko im A***.
Warum?
Fejgin: Das würde bedeuten, jemand spielt mit ihren Leiden ein politisches Spiel. Die ukrainische Gesellschaft, in der es ganz gewiss eine öffentliche Meinung gibt, würde das niemals verzeihen.
Wird Senzow auch Teil dieses Deals sein?
Feigin: Nein. Sawtschenko ist ein Sonderfall, das ist eine Kriegsgefangene, die sich im Ergebnis einer militärischen Operation auf dem Gebiet des – faktischen – Feindes wiederfand. Mir wurde gesagt, dass Putin ursprünglich gar nicht über Senzow sprechen wollte. Na schön, die Sawtschenko, das ist eure Gangsterbraut. Aber Senzow? Von dem will ich nicht ein Wort hören, er ist russischer Staatsbürger, wenn wir ihn an euch ausliefern, dann bedeutet das was, bitteschön? Die Krim gehört nicht uns? Doch das ist nur ein Gerücht, das haben mir in der Ukraine Leute erzählt, die mit den Gesprächen im Normandie-Format zu tun haben.
Ob das so ist oder nicht, kann ich nicht sagen, doch das ist deren Logik: Voilà, die Krim ist unser, den Prozess machen wir, wem auch immer wir wollen.