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Kleine Auszeit

Heroin-Junkies und Klosterzellen für VIPs, aber auch selbstlose Arbeit, fromme Demut und ein Besuch von Patriarch Kirill: Der Journalist Anton Krawzow hat einen Monat in einem Männerkloster verbracht und seine Eindrücke für Takie Dela aufgeschrieben.

Источник Takie dela

„Zuerst setzt du einen Schnitt entlang der Rückengräte“, erklärt Sweta und hält den kleinen Fisch in ihrer Hand hoch. „Man muss mit dem Messer hier reinstechen und vom Kopf her runterschneiden. Dann dasselbe auf der Bauchseite, aber ganz vorsichtig, damit man die Eingeweide nicht verletzt.“

Sweta und ihr Sohn Mark kommen alle paar Monate ins Kloster – ein bisschen arbeiten, leben, beten. Genau wie mehrere hundert andere Menschen. Ungeschickt versuche ich, es Sweta nachzutun. Bald spüre ich meine Finger nicht  mehr. Der Fisch ist noch nicht ganz aufgetaut, aber wir haben keine Zeit: An die fünfzig Pilgermäuler gilt es zu stopfen.

Die Ikone soll von Drogensucht heilen

Das Gros der Bewohner des Wyssozki-Männerklosters in Serpuchow bilden ehemalige Alkoholiker, Junkies und Knastis. Die einen kommen in der Hoffnung auf Heilung, andere wollen „den Kopf klar kriegen“, die dritten haben einfach keine Bleibe.

Es heißt, das hiesige Heiligtum – die Ikone der Gottesmutter Unerschöpflicher Kelch – heile von Trunksucht und Drogenabhängigkeit, von Spielsucht und anderen Lastern. Diese wundersamen Eigenschaften hatte man bereits im vorletzten Jahrhundert beschworen. Während der Revolution war dann aber die Originalikone verbrannt und ein Teil der Bruderschaft erschossen worden. Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Ikone neu gemalt. Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina DessjatnitschenkoÜber eine dreckige Wanne gebeugt, wasche ich mir die nach Fisch stinkenden Hände. Die Gegenwart von Ikonen und Priestern sollte einen friedlich stimmen, denke ich bei mir, aber mir ist hier unbehaglich zumute. Ich warte auf das Ende des Abendgottesdienstes. Ich will ein letztes Mal die Ikone küssen, von hier verschwinden und nie mehr wiederkommen. Doch erst heute Abend wird es so weit sein.

I. Ein Tag

Der Wecker schrillt um halb fünf Uhr früh. In der stickigen Zelle hängt der Geruch nach Männersocken, es ist dunkel und heiß. Ich leuchte mit meinem Mobiltelefon in den engen Raum: In den Doppelstockbetten schlafen die Pilger. Ich ringe mit dem Wunsch, auf die ganze Sache zu pfeifen und mich in die dünne Kratzdecke zu mummeln, aber in anderthalb Stunden beginnt das Morgengebet, und ich muss vorher noch unter die Dusche.

Durch die Gänge schallt das durchdringende Glockengeläut, das die Pilger zum Gottesdienst, zum Mittagessen, zum Abendbrot und zu ihren jeweiligen Diensten ruft. Die Konditionierung setzt schnell ein: Sobald die Glocke erklingt, springt man auf und rennt los.

Benebelt vom Weihrauch

In der leeren Kirche drücken sich die verschlafenen Pilger unschlüssig an den Wänden entlang. Der süßliche Geruch von Weihrauch umhüllt und benebelt. Macht noch schläfriger. Um das Gähnen zu unterdrücken, schöpfe ich mir aus einem großen Becken ein Glas kaltes Weihwasser. Das viele Verbeugen lässt meinen Rücken unerträglich schmerzen. Sich von der Heiligkeit der Handlungen durchdringen zu lassen – alle pressen ihre Lippen auf die Gebeine des Heiligen Afanassi des Jüngeren, des früheren Klostervorstehers – ist nicht ganz einfach.Die Trudniki werden gesalbtEine Stunde später versammeln sich die Pilger zum Tee. Auf dem langen Esstisch des Refektoriums stehen Prjaniki, Kekse und Bonbons, Kannen mit starkem Teesud und heißem Wasser. Der Tee ist aber nur für die sogenannten Trudniki bestimmt – das sind Pilger, die länger als drei Tage im Kloster bleiben. Für ihre Arbeit bekommen sie freie Kost und Logis und werden gesegnet.

„Wie oft soll ich es dir noch sagen: Wir müssen einen Plan machen und dort eintragen, wer heute die Zelle putzt“, sagt Sascha, mein Zimmernachbar.

„Das haut sowieso nicht hin, jeder hat doch andere Dienste, ich hab keine Ahnung, ob ich heute putzen kann oder nicht“, erwidert der hagere Serjosha gereizt.

Die jungen Männer rühren nervös Zucker in ihrem Tee und giften sich weiter an. Wenn die anderen Leute nicht wären, wären sie schon handgreiflich geworden.

„Halt einfach deine beschissene Klappe, du Penner! Du machst mich echt krank! Putz ich eben alles selber!“, blafft Sascha und bittet seinen Nachbarn, ihm die Kekse zu geben.

Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone

Wieder ruft die Glocke. Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone, wo sie der junge Mönch Anton erwartet, der als eine Art Brigadier fungiert und die Aufgaben für den Tag verteilt.

„Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn Deines Vaters, der von Anfang ist, Du hast gesagt: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun …‘“, rattert Anton ohne Stocken herunter. Auf seinem Arm sind die Reste eines Totenkopf-Tattoos zu erkennen. Ohrlöcher hat er auch. Wir bekreuzigen uns und gehen unsere Dienste verrichten. Auf dem Weg zum Gottesdienst„Haben Sie heute wieder Dienst im Refektorium?“, hält mich der Brigadier an.

„Ja. Der Batjuschka hat ihn gesegnet. Er hilft uns“, schaltet sich der Refektoriumsaufseher Serjosha ein. Anton greift sich schweigend ein Paar dreckige Handschuhe und geht hinaus in den Regen an die Arbeit.

Über dem Mönch Anton steht der Priestermönch Gleb. Er wacht über die Ordnung im Pilgertrakt. Über Gleb steht der Klostervorsteher Igumen Alexej und noch darüber – der Bischof von Serpuchow, Roman, den sie hier Wladyka, den Gebieter, nennen.

Das erste, was man im Kloster lernt, ist: Demut und Unterordnung. Laufend sagt man: „Ja, Batjuschka. Gut, Batjuschka. Gebt mir Euren Segen, Batjuschka“, dann verneigt man sich und geht an die Arbeit.

II. Der Patriarch

Serjosha hantiert im Refektorium rum. Er weist den Neuankömmlingen ihre Unterkunft zu, ordert Lebensmittel für die Küche, gibt Bettwäsche aus, kümmert sich darum, dass genug Toilettenpapier da ist, läutet die Glocke. Wegen seiner runden Brille mit den dicken Gläsern hat er den Spitznamen Fara, der Scheinwerfer.

„Der Batjuschka hat gesagt, wir haben außer den Pilgern und den Arbeitern auch noch vierzig Fahrer zu beköstigen. Für die machen wir Grütze“, überlegt er, die Ellbogen auf die Theke gestützt. Sweta und ich versuchen mal durchzurechnen, wie wir die Leute unterbringen.  Die zwei großen Speisesäle müssten bei mehreren Durchgängen für etwa zweihundert Leute reichen.

Patriarch Kirill besucht das Kloster

In ein paar Stunden soll Patriarch Kirill im Kloster eintreffen, um an den Feierlichkeiten zu Ehren des wundertätigen Bildes teilzunehmen. Alle haben sich lange vorbereitet: Die Trudniki sind praktisch nicht mehr zum Gottesdienst gegangen und haben alles hergerichtet. Der große Platz wurde mehrmals täglich gefegt, die Blumenbeete in den bestmöglichen Zustand gebracht, beim Haus des Wladyka wurde ein Podest für die Gäste errichtet.

Die Pilger sind bereits am Vorabend angereist. Es gab nicht genug Schlafplätze in den Zellen: Sie haben auf dem Boden geschlafen, in der Kirche, in den Gängen oder in ihren Autos.

„Unterstützt die Soldaten im Donbass“, greint eine dunkelhäutige Romni. Ich rede mich raus. Sage, dass ich kein Kleingeld dabei habe. Die Bettlerin verliert augenblicklich das Interesse und wendet sich dem Strom von Menschen zu, die den Patriarchen sehen wollen.Ein Trudnik füttert die GänseNach ein paar Minuten erscheint Patriarch Kirill. Junge Männer in langen Kutten sind ihm dabei behilflich, seinen Platz auf dem roten Samtthron einzunehmen. Aus den Lautsprechern strömen geistliche Gesänge. Kirill bekommt ein kleines Mikrophon ans goldene Ornat geheftet. Die Priester treten der Reihe nach vor, um sich segnen zu lassen, und küssen seine Hände. Staatsbeamte beobachten das Geschehen von der Bühne aus. Rechts neben dem nachdenklich wirkenden Gouverneur der Moskauer Oblast Andrej Worobjow steht Chirurg, der Anführer der Nachtwölfe, in seiner Bikerkluft: abgewetzte Lederjacke, Lederhose und Strickmütze. Chirurg hält den Kopf gesenkt und bekreuzigt sich in regelmäßigen Abständen.

Ein Gedränge wie in der Metro

Zwölf Priester tragen Brot und Wein in die Menge, doch die Gläubigen schenken ihnen keine Beachtung. Sie stellen sich in wirrer Reihe auf, um die heilige Kommunion aus den Händen des Patriarchen zu empfangen. Der lächelt freundlich, doch die Kommunion spendet er nur einigen wenigen. Die leer ausgegangenen Gläubigen drängen jetzt zu den einfachen Priestern hin. Die, die die heiligen Gaben empfangen haben, schubsen laut krakeelend bei den alten Mütterchen herum, die geweihtes Wasser und Hostien verteilen.

Das alles erinnert ans morgendliche Gedränge in der Metro: Die Gläubigen versuchen, sich zum Weihwasser durchzudrängeln, rammen einander im Eifer des Gefechts die Ellbogen in die Seite und prügeln sich um das geweihte Brot. Eine Frau grabscht mit beiden Händen nach den Hostien und stopft sie in eine Tüte, tritt dabei irgendjemandem mit voller Wucht auf den Fuß. Es entbrennt ein Streit.

III. Fara

„Ich lebe jetzt schon fast zwei Jahre hier. Hab keine Wohnung. Draußen in der Welt wartet keiner auf mich. Von meinen 38 Jahren hab ich 22 hinter Gittern verbracht“, erzählt Fara, während er unruhig um die Ecke des Schuppens späht, hinter dem wir hocken und heimlich rauchen. Vater Gleb ist gerade mit dem Morgengottesdienst fertig, er könnte uns bemerken, wenn er zum Pilgertrakt hinübergeht.

Rauchen ist hier streng verboten. Vor kurzem fand in der Klosteranlage eine Säuberung statt, und die Reihen der Trudniki lichteten sich. Einige wurden beim Qualmen erwischt, manche mussten infolge interner Intrigen gehen, andere weil sie faul gewesen waren.Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die RaucherDie Regeln verbieten es, in den Klosterzellen Elektrogeräte, Smartphones, Radios oder sonstige weltliche Attribute zu benutzen, die vom Gebet ablenken. Nach dem Abendgebet ist Zapfenstreich (man soll sofort schlafen), und für die gebets- und arbeitsfreie Zeit wird die Lektüre orthodoxer Literatur empfohlen.

Die VIP-Zelle ist auch bei Priestern beliebt

„Das hier ist eins der strengsten Klöster. Nicht mal Steckdosen gibt es in den Zellen. In manchen Klöstern stehen Fernseher, aber hier weiß man nicht mal, wo man sein Telefon aufladen kann“, beschwert sich eine junge Pilgerin, die im Refektorium hilft (Frauen dürfen hier nicht länger als drei Tage bleiben).

So ganz stimmt das nicht, die strengen Regeln gelten nur in den Gemeinschaftszellen. Im Erdgeschoss des Pilgertrakts ist ein Zimmer mit separatem Eingang, Dusche, Toilette und Bidet. Außerdem gibt es dort einen Kühlschrank, einen elektrischen Wasserkocher, drei bequeme Betten und sonstige Zivilisationsgüter. Die VIP-Zelle ist nicht nur bei begüterteren Pilgern, sondern auch bei durchreisenden Priestern beliebt.

In einer kleinen Abstellkammer schlüpft Fara in seine Kochkluft. Das weiße Hemd ist ihm zu groß, er krempelt die Ärmel hoch. Vor dem Spiegel steckt er die Kochmütze fest, die ihm sonst über die Augen rutscht. In ein paar Minuten muss der Korb mit dem Mittagessen beim Wladyka im Vorzimmer sein. Fara ist nervös und springt hektisch herum. Bemüht, keine Suppe zu verschütten, weicht er in seinen Gummischlappen geschickt den Pfützen aus.

Als wir ein paar freie Minuten haben, setzen wir uns und machen Kaffeepause: Manchmal bekommen die, die im Refektorium arbeiten, welchen vorbeigebracht.Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes„Höchstwahrscheinlich will ich weg hier. Es ist nicht gesagt, dass ich da draußen nicht wieder zu tief in Glas schaue, aber irgendwie haben sie mir Arbeit in Aussicht gestellt und ein eigenes Dach überm Kopf“, sagt Fara und rührt in seinem Lieblingsbecher. „Ich bete zu Gott, dass er mir eine gute Frau gibt. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Muss mich noch mit Vater Gleb beraten.“

Nach dem Päuschen mache ich mich auf zu meiner Arbeit. Neben der Hauptkirche graben wir die Gebeine der hier bestatteten Teilnehmer an der Schlacht auf dem Kulikowo Pole aus. Als wir mit der Arbeit fertig sind, legen wir die Knochen in einen vom Regen durchnässten Korb. Die sterblichen Überreste sollen am Ende des Sommers beigesetzt werden, so heißt es.

IV. Sascha und Ljocha

Sascha habe ich vor einer Woche kennengelernt, als er am Kircheneingang Geld und Zigaretten schnorrte.

„Ich habe keine Wahl, weißt du. Das Kloster ist mein Zuhause. Am Anfang war alles ganz lustig: Gras, Amphetamine, Heroin. Ich hab‘s alles vermasselt. Hab meinen Pass verloren, als ich mir Tropicamid gespritzt hab, in so einem kleinen Wäldchen war das. Ich wollte nur fünf Minuten dahin, und dann bin ich eingeschlafen.“

„Und wovon lebst du und bezahlst deinen Stoff?“

„Je nachdem. Die Batjuschki geben mir was und die Leute, die in die Kirche gehen.“

„Und die geben dir direkt was für Heroin? Oder sitzt du einfach vor der Kirche und bettelst?“

„Ja, früher manchmal auch vor der Kirche, in einer Kirche in Petersburg kennen die mich alle. Die Batjuschki geben mir zehn oder auch zwanzigtausend, wenn sie sehen, dass ich abdrifte, damit ich wieder auf die Beine komme. In der Kirche hole ich mir auch was zum Anziehen und Essen.“

Vater Alexej würde auch als Offizier durchgehen

Sascha trägt altmodische weite Jeans, einen ausgeleierten orangefarbenen Pullover und weiße Stiefel. Er sieht aus wie eine Mischung aus einem 2000er Jahre-Teenager und einem jungen Bahnhofspenner. Er habe von der Kirche in den letzten anderthalb Jahren insgesamt mehr als zweihunderttausend Rubel bekommen, behauptet er.

Wir graben um und säen neuen Rasen. Von Zeit zu Zeit kommt Vater Alexej vorbei, ein groß gewachsener, kräftiger Mann. Würde er seinen Priesterrock gegen eine Uniform tauschen, ginge er glatt als Offizier der russischen Armee durch.

„Du hast mir doch gesagt, du hast bis zwei Uhr die Erde hergeschafft!“, schnauzt Vater Alexej Sascha mit unverhohlenem Ärger an.

„Ich hatte noch andere Aufgaben, Batjuschka“, versucht sich Sascha schuldbewusst zu rechtfertigen und sagt, er habe heute Dienst am Zentraltor und müsse am Buffet helfen.

„Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Und das ist das hundertste Mal jetzt. Pack deine Sachen und scher dich fort!“

Batjuschka, bitte. Es wird nie mehr vorkommen. Ich kann doch nirgends hin. Schauen Sie, hier ist Eure Erde.“

„Die wird jetzt nicht mehr gebraucht. Pack deine Sachen, und morgen ziehst du ab. Und komm ja nicht wieder!“ Vater Alexej hat keine Lust mehr sich zu unterhalten und greift nach der Harke. Bald soll irgendein hochrangiger Geistlicher anreisen, heißt es.

Ein paar Tage später kommt Sascha zugedröhnt wieder an, und sie lassen ihn nicht rein. Ein Trudnik schafft die Geräte fort.Auf dem kleinen Vorplatz vor der Kirche sind nur noch Trudnik Ljocha und ich übrig geblieben. Seine Arme sind mit Gefängnistattoos übersäht. Wir haben beide eine dreijährige Tochter da draußen vor den Klostermauern. Bloß dass er kurz vor der Scheidung steht und ich schon frei bin. Ich frage ihn, was er so gemacht hat in seinem weltlichen Leben.

„Drogen verkauft hab ich. Dann war ich im Knast.“

„Kriminelle Sachen“, meint Ljocha, ohne seine Arbeit mit dem Spaten zu unterbrechen. „Drogen verkauft hab ich. Gras, Schnee – was am meisten Geld gebracht hat. Dann war ich im Knast.“

Er zieht sich die dreckigen Handschuhe aus, zieht das laut klingelnde Telefon aus der Tasche, hört etwa eine Minute schweigend zu, stopft das Handy wieder in die Tasche, wirft den Spaten weg und geht.

„Meine Frau hat sich volllaufen lassen, fleht mich an, ich soll sie nicht verlassen, sonst tut sie sich was an. Die dumme Schlampe. Ich muss zu ihr fahren.“

Und dann fährt Ljocha tatsächlich zu seiner Frau.

V. Vater Nifont

Am Morgen bitte ich Anton, mir einen Dienst in der Kapelle der Iwerskaja-Ikone der Muttergottes zuzuteilen, auf einem kleinen Gehöft mit Hühnern und einem Gemüsegarten. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, das Klostergelände zu verlassen.

Über das Gehöft wacht Vater Nifont, ein Mann von massiger, stämmiger Gestalt. Seine langen Haare und der Bart werden von einem Gummi zusammengehalten. In der Tasche seiner Kutte piept ununterbrochen eins seiner Smartphones: täglich an die 400 Nachrichten bekommt er von seinem Kirchenvolk.

„So, ihr Süßen, einen Moment Geduld noch, gleich hacke ich euch alles klein“, sagt Vater Nifont zu den Hühnern und kippt den Inhalt mehrerer Eimer auf ein Schneidbrett. „Die Hühner können die großen Stücke so schwer fressen, deswegen muss man ihnen die Rinden und die Schalen zerkleinern. Sonst picken sie sie nur von allen Seiten an. Die haben ja schließlich keine Zähne.“

Im weltlichen Leben war Vater Nifont Unternehmer. Er war in leitenden Positionen tätig, doch dann beschloss er, sich ganz der Kirche zu verschreiben. Was einem einiges mehr abfordert, als das Unternehmertum.

Als Strafe darf Vater Nifont kein Kreuz tragen

„Priester schlafen nur ein paar Stunden pro Nacht. Man muss früh raus, sich auf den Gottesdienst vorbereiten und beten. Dann ist man mehrere Stunden in der Kirche, danach geht man wieder in die Zelle und bereitet sich auf den nächsten Gottesdienst vor“, erklärt er, während er die Gemüsereste auf die Futtertröge verteilt. „Es ist schade, wenn über die Priester gesagt wird, sie seien gefräßig und fett geworden. Ich habe heute zum Beispiel noch nichts gegessen. Anständig zu essen schafft man nur einmal am Tag.“

Vater Nifont unterscheidet sich von den übrigen Mönchen dadurch, dass man mit ihm offen sprechen kann. Bei der sonntäglichen Beichte hatte ich mich ganz bewusst für ihn entschieden, doch es wurde nichts daraus. Wegen irgendeiner Verfehlung darf er wohl keine Beichte abnehmen. Ihm wurde eine Strafe auferlegt: Man hat ihm verboten, das Kreuz zu tragen, und ihn aus seiner Gemeinde bei Moskau für ein Jahr ins Kloster abkommandiert. Die Arbeit im Kloster geht nie aus.„Ich bin hier sozusagen im Außendienst. Gott sei Dank hat das bald ein Ende“, sagt der Priester und zeigt mir ein Foto seines Lieblingshundes – einer französischen Bulldogge.

VI. Die Abreise

Heute habe ich Dienst beim Zentraltor und stehe darum noch früher auf: Das Tor muss geöffnet werden, bevor der Gottesdienst beginnt. Die massiven Türen krachen gegen die Mauer. Ich werde den ganzen Tag hier verbringen, und ich werde Müll aufsammeln, am Buffet helfen, aufpassen, dass keine Bettler aufs Gelände kommen.

Zu meinem Dienstbeginn trifft Ljocha wieder im Kloster ein. Bevor er die Kirche betritt, bekreuzigt er sich und verneigt sich bis zur Erde. Ich frage, wie es gelaufen ist.

„Beschissen ist es gelaufen. Meine Frau ist tot. Morgen ist die Beerdigung. Hast du vielleicht ne Zigarette?“

Wir schlagen uns schweigend in die Büsche.

„Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und was ich meiner Tochter sagen soll. Wo ist Mama, fragt sie. Mama ist weggefahren.“ Ljocha steckt sich die nächste Zigarette an und geht in die Hocke, damit er vom Glockenturm aus nicht gesehen wird.Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.Nach dem Mittagessen nimmt Vater Gleb mich beiseite.

„Was fällt dir ein, dich nicht an die Vorschriften zu halten? Man beschwert sich über dich. Du hast also sogar mit Armbinde noch geraucht.“

Mich zu rechtfertigen oder aufzuklären, wer mich verpetzt hat, ist sinnlos. Ich verspreche, es nicht wieder zu tun. Der Batjuschka schimpft, er habe die Nase voll und sei drauf und dran, allesamt auf der Stelle fortzujagen.

Nach dem Abendbrot und dem Gebet gehe ich das Außentor schließen. Das Klostergelände ist praktisch nicht beleuchtet, als Taschenlampe dient mir mein Smartphone.

„Komm ja nicht wieder!“

„Was schleichst du hier herum?“, fährt mich eine Stimme aus dem Dunkeln an.

„Ich habe das Tor geschlossen, Vater Gleb. Und jetzt bin ich auf dem Weg zum Pilgertrakt.“

„Du denkst wohl, du kannst mich zum Narren halten? Mir reicht´s jetzt. Morgen kannst du nach Hause fahren. Und komm ja nicht wieder!“

Er verschwindet in der Finsternis. Ich widerspreche nicht, versuche mich nicht zu rechtfertigen, ich lege mich einfach schlafen. Am nächsten Morgen packe ich ganz in Ruhe meine Sachen.

Am Ausgang begegne ich Vater Nifont. Als wir uns verabschieden, schaut er sich verstohlen um und zieht das große Kruzifix aus der Tasche, das man ihm untersagt hatte zu tragen.

„Na dann, geh mit Gott. Auf Wiedersehen“, sagt er und segnet mich.

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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