„Der Frieden wird Gott sei Dank nicht mehr lange dauern. ‚Warum sage ich Gott sei Dank‘? Weil eine Gesellschaft, in der das Leben zu ruhig, zu problemlos, zu bequem verläuft, eine gottverlassene Gesellschaft ist.“1 Wen solche Thesen eines Sprechers der Russisch-Orthodoxen Kirche verwundern, der kannte Wsewolod Tschaplin nicht. Bis Ende 2015 kommentierte er im Namen der Kirche jedes gesellschaftliche Ereignis – sei es ein Madonna-Konzert oder eine Kunstausstellung – auf die ihm eigene, wenig zurückhaltende Art. Die kostete ihn am Ende seinen Job: Am 24. Dezember 2015 wurde Tschaplin als Leiter der Außenabteilung des Moskauer Patriarchats entlassen. Bis zu seinem plötzlichen Tod im Januar 2020 waren seine Auftritte dadurch nicht weniger kontrovers geworden.
Im Jahr 1968 in eine Atheistenfamilie geboren, fand Wsewolod Tschaplin nach eigenen Angaben mit dreizehn Jahren zum Glauben.2 Dieser führte ihn auf eine steile Karriere im Apparat der orthodoxen Kirche. Nach Abschluss des Geistlichen Moskauer Seminars 1990 trat er in die Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats ein, die damals Metropolit Kirill, der später zum Patriarchen aufstieg, leitete. Seitdem stand Tschaplin unter Kirills Schutz – symbolisiert auch durch die Handauflegung zur Priesterweihe, die Tschaplin 1992 von Kirill erfuhr. Danach durchlief er verschiedene Stationen, bei denen stets die Außendarstellung der Kirche im Zentrum seiner Arbeit stand – und ein Darsteller war Tschaplin allemal.
Charismatischer Darsteller
Da war zunächst sein Äußeres. Auf seiner Brust, verhüllt vom obligatorischen schwarzen Priestergewand, ein schweres goldenes Kreuz. Gleich darüber der lange, recht übersichtliche Bart. Er endete in einem runden Gesicht mit Augen, die sich unter den Brauenbögen voll Zorn in den Debattengegner bohren konnten. Das Eindrücklichste an Tschaplins Erscheinung war jedoch seine Stimme. Sie war hoch und tief zugleich, kehlig und nasal, als käme sie nicht aus seinem Mund, sondern aus weiteren, tiefer liegenden Gegenden.
Diese Attribute verliehen ihm ein gewisses Charisma – möglicherweise war auch das ein Grund für seine zahlreichen Auftritte in Radio und Fernsehen. Dort verbreitete er seine oft radikal-religiösen Standpunkte, die sich nicht immer mit der Rechtslage deckten. So erklärte Tschaplin nach gewaltsamen Angriffen auf die provokante Ausstellung Achtung, Religion! im Jahr 2003, die Freiheit der Kunst sei keineswegs absolut. Nach der Aktion von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale bekannte er, der Staat müsse gegen solche „Gotteslästerung“ seine Macht einsetzen. Tue er das nicht, so sei das die Aufgabe des Volkes.3 Zu diesen Vorstellungen passte auch seine Empfehlung an Frauen, durch einen weniger „provokanten“ Kleidungsstil Vergewaltigungen vorzubeugen.4
Das Leitmotiv vieler seiner Einzelaussagen war eine Kritik an gesellschaftlichem Liberalismus5 und politischem Säkularismus, die Tschaplin in zahlreichen theoretischen Abhandlungen darlegte. In einem Positionspapier zum Konzept der Orthodoxen Zivilisation hat er erklärt, individuelles Handeln müsse sich an christlichen Idealen, nicht an weltlichen Bedürfnissen orientieren. Der Staat könne und dürfe dabei nicht weltanschaulich neutral sein, sondern müsse eine geistige Mission verfolgen. Ja: Staat, Volk und Kirche seien in der orthodoxen Zivilisation ein unzertrennliches Ganzes. Mit der Symphonia geistlicher und weltlicher Macht hat Tschaplin sich auch auf die These von Moskau als Drittem Rom bezogen – als letzten Hort und Verteidiger der Christenheit. Dieser Gesellschaftsaufbau ist nicht einfach autoritär-elitenzentriert: die „Macht“ soll in beständigem Austausch mit dem „Volk“ stehen.6 Das Individuum gerät dabei jedoch sowohl moralisch als auch rechtlich aus dem Zentrum – insofern stellt die Konzeption eine erhebliche Abweichung vom rechtstaatlichen Ideal dar und ist daher im westlichen Sinne antidemokratisch.
Provokanter Kritiker
Es ist nicht ganz klar, was genau Tschaplin zum Verhängnis wurde. Möglich, dass seine provokanten Statements in kirchlichen und staatlichen Führungsetagen schon länger argwöhnisch betrachtet wurden. Auch hatte Tschaplin wiederholt die in Staat und Wirtschaft omnipräsente Korruption angeprangert.7 Als er im Oktober 2015 den russischen Militäreinsatz in Syrien als „heiligen Krieg“ bezeichnete8 (was dem Priester und Publizisten Andrej Kurajew zufolge dem Kreml überhaupt nicht schmeckte),9 zog der Patriarch jedenfalls die Reißleine. Am 24. Dezember 2015 wurde Wsewolod Tschaplin als Chef der kirchlichen Abteilung für die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft entlassen.
Unmittelbar danach ging Tschaplin zum Gegenangriff über. Er warf der orthodoxen Kirche und im Speziellen seinem Ziehvater Kirill „Liebedienerei“ vor weltlichen Autoritäten und korrupten Beamten vor. Die Kirche versuche dabei, unabhängige Stimmen aus ihren Reihen zu verdrängen.10 In der Tat wurde wenig später auch der Chefredakteur des Journals des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, entlassen. Auch er beklagte sich über die Intoleranz der Kirche gegenüber freier Meinungsäußerung.11 Das Internetportal slon.ru bemerkte dazu lakonisch, wenn so grundverschiedene Menschen wie der konservative Wsewolod Tschaplin und der liberale Kirchenmann Sergej Tschapnin zum selben Schluss kämen, dann komme das der Wahrheit wohl recht nahe.
Im Januar 2020 verstarb Wsewolod Tschaplin unerwartet im Alter von 51 Jahren auf einer Bank in der Nähe der Kirche des Ehrwürdigen Theodor Studites in Moskau, in der er zuletzt als Priester tätig war.
aktualisiert am 28.01.2020