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Dreamers

Menschen, deren Liebesleben nicht mit den Vorstellungen der Gesellschaftsmehrheit von „traditioneller Partnerschaft“ übereinstimmt, hatten es nie leicht in Russland. Seit dem Verbot angeblicher „Propaganda von Homosexualität“ 2013 haben die Repressionen stetig zugenommen. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine dreht sich die Repressionsspirale immer rascher, Queerfeindlichkeit und Gewalt werden weiter normalisiert. 

Im November 2024 stufte das Oberste Gericht der Russischen Föderation schließlich eine „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ ein – dass es eine solche Organisation gar nicht gibt, war den Verantwortlichen offenbar einerlei. Der russische Fotograf Sergei Stroitelev porträtiert queere Paare, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben. 

Wladimir und Denis auf der Kölner Pride-Demo im Juli 2024 / Foto © Sergei Stroitelev 

„Sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns“ – Wladimir und Denis

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

Wladimir (29) und Denis (25) haben sich 2020 in Nowosibirsk über ein Dating-Portal kennengelernt. Wegen des Corona-Shutdowns dauerte es zwei Monate, bis sie sich zum ersten Mal treffen konnten. Denis hielt die Treffen zunächst vor seinen Eltern geheim. Als er sich ihnen schließlich offenbarte, reagierten sie überraschend gefasst. Sein Vater erlaubte sogar, dass Wladimir über Nacht blieb. Wladimir beichtete seinen Eltern schließlich ebenfalls, dass Denis mehr ist als nur ein Freund: „Meine Mutter antwortete, dass Satan endgültig die Oberhand gewonnen habe.“  

Aufgewachsen ist Wladimir in Usbekistan: „Dort war Homosexualität kriminalisiert. Ich habe schon im Kindergarten gemerkt, dass mir Jungs besser gefallen. Als ich 17 war, zog meine Familie nach Nowosibirsk. Aber auch da war es für mich nicht leicht. Wegen meines asiatischen Äußeren wurde ich oft von Polizisten kontrolliert. Da ich auch noch schwul bin, hatte ich doppelt Angst.“ 

Als 2021 Alexej Nawalny verhaftet wurde, begann das Paar darüber nachzudenken, Russland zu verlassen. Als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, waren für sie alle roten Linien überschritten und sie reisten im März 2022 aus. „Ich dachte, meine Mutter als religiöser Mensch müsste verstehen, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten“, sagt Wladimir. „Aber sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns dafür, dass wir ausgereist sind.“ 

Wladimir und Denis. Das Bild von Adam und Adam im Paradies haben sie in Russland gemalt und nach Deutschland mitgenommen / Fotos © Sergei Stroitelev 

Entenfüttern mit Freunden. Das befreundete Paar ist ebenfalls mit humanitären Visa aus Russland nach Deutschland gekommen / Foto © Sergei Stroitelev 

Tagebuchnotiz von Wladimir und Denis: „Das Imperium wird nicht frei sein“ / Foto © Sergei Stroitelev 

„Verrecke, Schwuchtel!“ – Alexander und Sascha 

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

Alexander (32) kommt aus einem kleinen Ort in Burjatien, Sascha (47) aus Joschkar-Ola, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Mari El. Mit dem Umzug nach Moskau entflohen beide Mobbing und Scham. Sascha engagierte sich in der Hauptstadt sogar in einer Organisation für LGBTQ-Sportler:innen.  

Die beiden lernten sich 2018 kennen und zogen schnell in eine gemeinsame Wohnung: „Sofort gingen die Probleme mit den Nachbarn los“, erzählt Alexander: „Sie wollten wissen, warum Sascha auf dem Balkon Blumen pflanzt, sowas machen Männer doch nicht! Und warum wir keinen Besuch von Frauen bekommen.“  

Alexander unterrichtete an einer Berufsschule. Er sprach mit den Studierenden über queeres Leben und sagte offen seine Meinung über den russischen Angriff auf die Ukraine. „Ab Oktober 2022 bekam ich regelmäßig SMS: ‚Verrecke, Schwuchtel‘. Ein Telegram-Kanal mit den Buchstaben Z und V im Profil veröffentlichte Videos aus meinem Unterricht, wo ich über Butscha und über LGBT sprach. Ich zitterte vor Angst und mir wurde klar, dass ich hier weg muss.“  

Alexander ging nach Deutschland und beantragte Asyl. Derweil bekam Sascha in Moskau Besuch von Männern in Zivil, die sich nach Alexander erkundigten. Schließlich folgte er seinem Partner. Alexanders Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Sascha wartet noch auf eine Entscheidung. 

Sascha spielt Akkordeon, Alexander liest. Das Instrument und die Bücher gehören zu den wenigen Dingen, die die beiden aus Russland mitgenommen haben / Fotos © Sergei Stroitelev

Beim Sport im Hof / Foto © Sergei Stroitelev 
Tagebuchnotiz von Alexander und Sascha: „Hoffnung“ / Foto © Sergei Stroitelev 

„Seid ihr etwa lesbisch?!“ –​ Tanja und Alexandra 

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

Alexandra (41) und Tanja (40) kommen beide aus einem kleinen Bergarbeiter-Ort in der Oblast Swerdlowsk. „Mein Vater trank, ich wurde oft geschlagen“, erinnert sich Alexandra. Als sie 17 Jahre alt war, wurde sie ungewollt schwanger. „Mit 18 gestand ich meinen Eltern, dass ich Frauen liebe. Die Schläge nahmen zu, sie nannten mich eine Schande für die Familie. Mein Bruder brach mir die Nase und eine Rippe. Er saß immer wieder im Knast.“ 

Auch Tanja war bereits Mutter, als die beiden sich kennenlernten. „Es war das erste Mal, dass ich mich in eine Frau verliebte. Ich schämte mich“, erinnert sie sich. Als Tanjas Mutter von ihrer Beziehung erfuhr, drohte sie, Tanja in eine psychiatrische Klinik zu stecken und Sascha zu töten.  

Ihre Asylanträge stellte die Familie in Bochum. „Der Sachbearbeiter war ein Spätaussiedler aus Ufa und, wie sich herausstellte, ziemlich homophob“, erzählt Tanja. „Seid ihr etwa lesbisch?!“, habe er sie gefragt. „Er musterte uns, als seien wir Monster.“ Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, das Paar und die Kinder seien keine Familie. Ein Gericht gab ihnen schließlich recht und verfügte, dass die Familie nicht getrennt werden dürfe. Aber die Entscheidung über die Asylanträge steht immer noch aus. Zu allem Überfluss muss Tanja jetzt noch gegen eine Krebserkrankung kämpfen. 

Alexandra und Tanja haben gemeinsam Diskriminierung, Flucht und Kämpfe mit der deutschen Bürokratie durchgestanden. Sie sind entschlossen, auch Tanjas Krebserkrankung zu besiegen. Der kleine Charlie Brown ist ihr Talisman / Foto © Sergei Stroitelev 

Abendspaziergang am Rhein. Die Familie bewundert den Kölner Dom / Foto © Sergei Stroitelev 

„Hier sind wir: ein bisschen müde, ein bisschen erschlagen. Aber am Leben“. Tagebuchnotiz von Alexandra und Tanja / Foto © Sergei Stroitelev 

„Ich merke, dass in mir ein Rest Homophobie sitzt“ – Alexander und Wladimir 

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

Alexander (38) und Wladimir (35) kommen aus Nishni Nowgorod. Dort sei die Situation von queeren Menschen nicht viel besser als in Tschetschenien, sagen sie. Die Polizei und queerfeindliche Gruppen machten Jagd auf Schwule, Lesben und trans* Personen. Als Alexander sich einmal über ein Dating-Portal verabredete, erwartete ihn am vereinbarten Treffpunkt eine Gruppe junger Männer: „Mir war sofort klar, was los war, und ich rannte davon. Ich bat Passanten, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte. Die Typen verprügelten mich und drohten mir mit einem Messer.“  

Wirklich akzeptieren konnte er seine Sexualität erst mit 26 Jahren. Wladimir derweil erinnert sich, wie er immer wieder zu seiner Mutter sagte: „‚Guck mal, der hübsche Mann da!‘ Als sie irgendwann kapiert hat, dass ich keine Witze mache, wurde ihre Einstellung immer ablehnender und sie begann, mich zu verurteilen.“ 

Bis zum Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine sahen Alexander und Wladimir ihre gemeinsame Zukunft in Russland und sparten für eine eigene Wohnung. Nach dem ersten Schock zu Kriegsbeginn sammelten sie die nötigen Dokumente für eine Ausreise. Als im Herbst 2022 dann die Teilmobilmachung verkündet wurde, reisten sie zunächst nach Belarus. Von dort aus bemühten sie sich um ein humanitäres Visum für Deutschland. Den Ausschlag für die Anerkennung habe letztlich wohl Alexanders Engagement für die Wahlbeobachtungsorganisation Golos gegeben, glauben sie. 

An die Freiheit in Deutschland müssten sie sich erst gewöhnen: „Ich merke, dass tief in mir immer noch ein Rest Homophobie sitzt“, sagt Alexander. „Ich traue mich nicht, öffentlich mit meinem Mann Händchen zu halten. Aber nach und nach ändert sich das. Früher habe ich Gay-Paraden abgelehnt. Ich war der Meinung, dass sie den Hass gegen Schwule nur anfachen. Heute finde ich diese Veranstaltungen gut, weil es wichtig ist, dass alle Menschen sich frei ausdrücken können“.

Trotz der Queerfeindlichkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche hält Wladimir an seinem Glauben fest. Ein Gebetsgürtel gehört zu den Dingen, die ihn mit der Heimat verbinden / Fotos © Sergei Stroitelev 

Alltag für die Neuankömmlinge in Deutschland: Anstehen bei der Tafel. Danach geht es gleich weiter zum Integrationskurs / Foto © Sergei Stroitelev 

Tagebuchnotiz von Alexander und Wladimir / Foto © Sergei Stroitelev 

„Die Depression war das Ergebnis des enormen Drucks“ – Deidara und Lira 

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

Als Deidara (42) sich vor vier Jahren zur Transition entschied, waren er und Lira bereits seit mehreren Jahren ein Paar. „Mir war klar geworden, dass die Kosten für die Prozedur doch nicht so schrecklich hoch sind, wenn ich dafür endlich ich selbst sein darf, statt auf eine Reinkarnation als Mann irgendwann in einem nächsten Leben warten zu müssen“, erklärt Deidara. Lira nahm das gelassen auf: „Frauen gefallen mir zwar besser, aber ich liebe doch diesen konkreten Menschen, da ist es mir egal, welches Geschlecht er hat“, sagt sie. 

Nach Kriegsbeginn wurde ihnen schnell klar, dass die militärische Aggression auch Auswirkungen auf ihr Leben haben wird. „Erst hofften wir, die Situation aussitzen zu können“, sagt Deidara. „Aber bald haben wir verstanden, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie uns in die Konversionstherapie schicken.“ Deidara hat eine Tochter – geboren, nachdem Deidara als junger Mensch Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Als der russische Staat 2023 Geschlechtsumwandlungen verbot, fürchtete er, dass die Behörden ihm das Sorgerecht entziehen könnten.  

Bis die Berliner LGBTQ-Organisation Quarteera ihnen Visa besorgt hatte, verhielten sie sich so unauffällig, wie es nur ging. „Bei uns beiden wurde eine klinische Depression diagnostiziert, in Russland waren wir mehrfach zur Behandlung in einer Klinik. Aber hier konnte mein Mann die Antidepressiva absetzen. In der sicheren Umgebung hier geht es ihm besser“, sagt Lira. „Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die Depression das Ergebnis des enormen Drucks war, unter dem wir lebten.“  

Deidara bindet seiner Tochter die Haare. Das Paar im Hof ihrer Unterkunft in Hamburg / Fotos © Sergei Stroitelev 

Pause beim Spaziergang in einem Hamburger Park / Foto © Sergei Stroitelev 

„Ein anderes Land, eine andere Sprache, ein anderes Leben. Aller Anfang ist schwer. Aber Russland zu verlassen ist nicht nur die beste Entscheidung, es war die einzig richtige. Das Recht man selbst zu sein wiegt schwerer als alle Probleme.“ Tagebuchnotiz von Deidara und Lira / Foto © Sergei Stroitelev 

„Eine glückliche Zeit“ bis zum Krieg – Dima und Andrej 

Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

Dima (23) und Andrej (36) haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Dima kommt aus Gelendschik, einem Urlaubsort an der russischen Schwarzmeerküste. Andrej wurde in der ukrainischen Stadt Isjum in der Oblast Charkiw geboren. Beide haben in ihrer Jugend Diskriminierung erlebt.  

Erst als er aus Isjum wegging und nach Kyjiw zog, habe er ganz zu seiner Homosexualität stehen können, sagt Andrej. „Als ich mit 20 meinen Eltern gesagt habe, dass ich schwul bin, hatte ich schon seit einem Jahr eine feste Beziehung. Sie haben es gefasst aufgenommen, aber sie hatten Angst um meine Sicherheit – ich habe mich damals ziemlich schrill gekleidet.“ 

Später ging Andrej als Tänzer an ein Moskauer Theater, lebte mit einem jungen Mann zusammen. „Eine glückliche Zeit“ sei das gewesen – bis Putin den Überfall auf die Ukraine befahl. Russland sei seine zweite Heimat, sagt Andrej. „Meine Großeltern kommen dort her.“ Von Moskau aus organisierte er die Flucht seiner Familie aus Charkiw und Isjum nach Deutschland. Dann reiste er selbst hinterher. In Deutschland engagierte er sich in der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland. „Ich liebe Russland, obwohl ich Ukrainer bin“, sagt er. „Ich hoffe, ich kann eines Tages dorthin zurückkehren, in ein freies Land ohne den Irren Putin.“

Ein Stück Himmel hinter dem Fenster von Dimas Zimmer. Rauchpause im Heck von Andrejs Wagen / Fotos © Sergei Stroitelev 

Dima und Andrej bei der gegenseitigen Maniküre / Fotos © Sergei Stroitelev

„Es ist schwer.“ Tagebuchnotiz von Dima und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

„Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration“ –​ Dmitri und Andrej 

Ein Bild aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

In Moskau haben Dmitri (26) und Andrej (26) sich einiges getraut: Sie gingen in der Öffentlichkeit Hand in Hand und demonstrierten gegen Russlands Überfall auf die Ukraine. Diskriminierung kennen sie seit ihrer Kindheit: „Als mir klar wurde, dass ich auf Männer stehe, fielen mir die Worte meines Vaters ein, der einmal sagte, dass man Schwule verbrennen sollte“, erinnert sich Dmitri. „In der Schule wurde ich heftig gemobbt, die anderen Kinder schimpften mich eine ‚Schwuchtel‘. In der Folge habe ich lange Zeit gestottert“. 

Andrej hat seine Kindheit im Nordkaukasus verbracht. „Die Atmosphäre gegenüber LGBT war dort extrem feindlich“, erzählt er. „In der Schule wurde ich gehänselt, weil ich ein künstlerischer Junge war.“ Das änderte sich erst, als Andrej in eine Schule mit musikalischem Schwerpunkt wechselte: „Ich spielte Cello und Klavier und begann, mich zu entfalten. Im ganzen Kaukasus findet man schwerlich einen Ort mit einer größeren Dichte an LGBT-Personen als diese Schule. Wir waren ganze zehn!“  

In Moskau unterrichtete Andrej an einer Musikschule. „Als ich am 24. Februar 2022 von einer Freundin aus Dnipro erfuhr, dass Russland die Ukraine bombardiert, rauchte ich erst einmal eine ganze Packung Zigaretten weg. Dann bin ich zur Arbeit gegangen und habe den Kindern das Lied ‚Wir wollen keinen Krieg‘ aus Prokofjews Oratorium ‚Auf Friedenswache‘ vorgespielt“.  

„Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration gegen den Krieg“, erzählt Dmitri. „Da wurde ich zum ersten Mal festgenommen. Bei einem Gedenkmarsch für Boris Nemzow folgte dann die zweite Festnahme. Danach beschlossen wir, auszureisen.“  

Andrej und Dmitri nahmen einen Kredit auf, angeblich für den Kauf eines Cellos. Dann flogen sie in den Tschad und weiter nach Istanbul. Dort stellten sie einen Antrag auf ein humanitäres Visum für Deutschland.  

Eine von Andrejs ersten Erinnerungen in Deutschland ereignete sich im Supermarkt: „Im Lidl neben unserem Wohnheim fragte mich die Verkäuferin auf Englisch, aus welchem Land ich käme. Als ich ihr sagte, dass ich leider aus Russland sei, antwortete sie: ‚Wir machen euch keine Vorwürfe, wir machen Putin Vorwürfe.‘ Das war in dem Moment genau, was ich brauchte.“

Das Armband hat Andrej Dmitri einst in Russland geschenkt. Einander die Hände gehalten haben sie dort auch in der Öffentlichkeit. / Fotos © Sergei Stroitelev 

Das Paar ist froh, seine Beziehung in Deutschland offen leben zu können. Beim Radfahren kann das trotzdem gefährlich sein – neulich sind sie so gestürzt / Fotos © Sergei Stroitelev  

Tagebuchnotiz von Dmitri und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

Fotos: Sergei Stroitelev, aus der Serie: "Dreamers: Queer Refugees from Russia in Germany"
, 2024 

Bildredaktion: Andy Heller 

Das Projekt wurde mit Unterstützung von Quarteera e.V. und dem Auswärtigen Amt im Rahmen des Programms “Civil Society Cooperation” durchgeführt. 

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LGBT in Russland

Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.

Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.

Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.

Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4

Konservativer Rollback?

Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.

Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen  „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.

Bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet – Foto © Maria Komarowa/flickr.com

Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.

Rückzug aus dem Offline-Leben

Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.

Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.

Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.

Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7


1.Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco
2.Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356
3.Gay.ru: Roman Kalinin: „Ja byl pervym otkrynym gomoseksualom“
4.Zahlen von 1998 bis 2013 auf Levada.ru: Občšestvennoje mnenie o gomoseksualistach
5.Ria.ru: Putin podpisal ukaz o zaprete gej-propagandy sredi detej
6.Zona.media: Verchovnyj sud ne stal otmenjat štraf osnovatelnice soobščestva „Deti-404“
7.Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden.
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„Nun kann praktisch jeder zum ausländischen Agenten erklärt werden“, schreibt das unabhängige Exilmedium Meduza. Bislang werden zahlreiche Journalisten, Aktivisten, NGOs und Einzelpersonen in Russland auf solchen „Agentenlisten“ geführt. Viele von ihnen haben das Land inzwischen auch deswegen verlassen. Worum es bei dem sogenannten „Agentengesetz” geht und was sich nun noch weiter verschärft hat, erklärt unsere Gnose.

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Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

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