Am 9. September findet in Russland der sogenannte einheitliche Wahltag statt: Unter anderem sollen 26 Gouverneure neu gewählt werden. Während des Wahlkampfes in der Oblast Samara ist nun eine sogenannte „soziale Werbung“ aufgetaucht. Ebenso anonym wie ein Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl 2018, sorgt auch diese Werbung derzeit für Aufruhr.
Dabei wirbt der Spot gar nicht für einen Kandidaten, offenbar soll er Menschen einfach dazu animieren, überhaupt zur Wahl zu gehen. Die Mittel dazu sind hier ähnlich wie bei dem berüchtigten Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl – die Macher bedienen sich erneut homophober Ressentiments und reproduzieren gängige Klischees über Liberale („Liberasten“).
Die Frage, wer dahinter steckt, wird auch bei diesem Video vermutlich nie beantwortet. Viele munkeln, dass die Polittechnologen des derzeitigen technokratischen Interims-Gouverneurs Dimitri Asarow die eigentlichen Auftraggeber seien, Beweise für diese These bleiben allerdings aus.
Der 26. März war ein Protesttag von Erwachsenen, sagt Politologin Ekaterina Schulmann, mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Und sie stellt dar, was die Jugend von heute bewegt.
„Liberal“ kann in der russischen Sprache heute vieles bedeuten. Der Begriff hat mehrere Wandlungen durchgemacht und ist nun zumeist negativ besetzt. Oft wird er verwendet, um Menschen vorzuwerfen, sie seien unfähig, schwach und widersetzten sich dem Staat nur, weil sie zu nichts anderem in der Lage seien. Das liberale Credo vom Schutz der Menschen- und Eigentumsrechte, so heißt es oft, lenke davon ab, dass unter liberaler Führung der Staat zugrunde gehen würde.
Haben Russland und Westeuropa wirklich unterschiedliche Werte? Gibt es „spezifisch russische Werte“? Und lohnt es sich überhaupt, über Werte zu streiten?
dekoder hat drei Experten dazu befragt – acht Fragen und je drei unterschiedliche Meinungen:
Was ist dran an den „besonderen russischen Werten“? Der Moskauer Soziologe Grigori Judin meint: Es gibt sie gar nicht. Der Mythos darüber solle aber einen bestimmten Zweck erfüllen.
Die neue Duma hat ihre Arbeit aufgenommen – gut drei Viertel aller Abgeordneten kommen dabei von der Regierungspartei Einiges Russland. Eine Supermehrheit, sagt Kirill Rogow und meint auf slon.ru: Das Wahlvolk ist ganz anders.
Warum Nawalny ganz andere Perspektiven bietet als Sobtschak, obwohl sich ihre Positionen anscheinend ähneln, und welche Möglichkeiten ein kritischer Wähler sonst noch hat: Politologe Alexander Kynew analysiert’s auf Republic.
Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.
Zwar sehen sich russische Polittechnologen mitunter in europäischer, auf das alte Rom und später Niccolò Machiavelli1 zurückgehender, Tradition. Verwandt ist der Begriff auch mit dem US-amerikanischen Konzept des political Consulting, also der Politikberatung beziehungsweise den spin Doctors: 1996 beispielsweise war ein Team um den Clinton-nahen Richard Dresner kurzzeitig für Boris Jelzin2 tätig, und die Russische Assoziation der Politikberater3 um Igor Mintusow oder Jewgeni Mintschenko versteht sich als Vertretung der PR- und GR4-Berater. Dennoch ist Polittechnologija als ein eigenständiges Konzept zu verstehen, dessen Wurzeln bis auf die Geheimpolizei Ochrana im Zarenreich, auf die psychologische Kriegsführung (aktive Maßnahmen) des KGB und auf die Sowjetpropaganda zurückzuführen sind. Zugleich spielt es auf Werbesprache und französische postmoderne Denker wie Jean Baudrillard oder Roland Barthes an. In Viktor Pelewins Generation P wurde es zudem literarisch verewigt.
Die Hochzeit der Polittechnologen waren die 1990er und frühen 2000er, in denen Politik über das Fernsehen mit einer entsprechenden Dramaturgie als virtuelle Welt in einem Theater5 vermittelt wurde, ganz nach dem Motto „Nichts ist wahr und alles ist möglich“6. Mehr oder minder kompetitive Wahlen waren von Informationskriegen begleitet, für die Politiker aus Quellen jenseits der legalen Wahlfinanzierung für oft horrende Summen Polittechnologen anheuerten, die den Gegner bekämpften. Zu den Mitteln gehörten graue und schwarze PR7 (Provokationen durch öffentlich gewalttätige Gruppen, das Unschädlichmachen von Medienressourcen des Gegners, das Lancieren von spoiler-Parteien und Doppelgängerkandidaten und so weiter) oder Kompromat – „kompromittierende Materialien“. Diese werden in den Medien über Schmiergeld als sogenannte Sakasucha oder Dshinsa platziert und diskreditieren den Gegner mithilfe frei erfundener Geschichten oder illegal beziehungsweise geheimdienstlich beschaffter Informationen, suggerieren Nähe zur organisierten Kriminalität oder geben Details aus dem Privatleben preis. Zu neueren Formen der Polittechnologie im Internet gehören Hackerattacken und Trollfarmen8, die content entweder lahmlegen oder inhaltlich manipulieren.
In der gelenkten Demokratie der 2000er Jahre greifen zudem Präsidialadministration (vor allem die Abteilung für Innenpolitik), amtierende Gouverneure oder Bürgermeister auf Administrative Ressourcen zurück, um Wahlen manipulativ für sich zu entscheiden. Dies beinhaltet ungleiche Wahlkampffinanzierung, Instruktionen an staatliche Medien (Temniki), Einschalten von Gerichten und Staatsanwaltschaft gegen Opponenten oder Betrug am Wahltag (wie Zwangsabstimmung bei Staatsangestellten, mehrfache Abgabe von Stimmzetteln oder Fälschungen beim Auszählen).
In den 1990er und frühen 2000er Jahren gehörten Gleb Pawlowski, Marat Gelman, Igor Mintusow und Sergej Markow mit der Stiftung für effektive Politik zu den einflussreichsten Polittechnologen. Alexej Chesnakow, Konstantin Kostin oder Dimitri Badowski verbanden in ihrer Karriere den Staatsdienst in der Präsidialadministration mit einer Beratungstätigkeit für staatliche Akteure und Einiges Russland oder dieAllrussische Volksfront. Andere, wie Dimitri Orlow, spezialisieren sich vor allem auf Parteien oder, wie Michail Winogradow oder Jewgeni Mintschenko, auf die russischen Regionen.
In der Wahrnehmung der Bevölkerung ist Polittechnologie meist negativ konnotiert und wird oft auch mit Politologie, also Politikwissenschaft, verwechselt, was nicht nur vom manipulativen Charakter des politischen Prozesses im postsowjetischen Russland, sondern auch von der tiefen Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften zeugt9.
1.Nicht von ungefähr ist nach dem Fürstenberater eine der bekanntesten russischen Agenturen benannt: Nikkolom.
2.Zasurskiĭ, I. (2004): Media and power in post-Soviet Russia, New York, S. 72 - 76
9.Kharkhordin, O. (2015): From Priests to Pathfinders: The Fate of the Humanities and Social Sciences in Russia after World War II, in: The American Historical Review, 120(4), S. 1283-1298
Die Präsidialadministration(PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.
Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.
Pawel Tschikow ist einer der bekanntesten Rechtsanwälte in Russland und leitet die Menschenrechtsorganisation AGORA. Er setzt sich für die Rechte von Opfern staatlicher Behörden ein und ist Mitglied imMenschenrechtsrat des Russischen Präsidenten.
Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.
Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.
Sergej Udalzow (geb. 1977) ist einer der bekanntesten russischen Oppositionspolitiker. Er ist in mehreren Bewegungen aktiv und gilt als einer der Anführer der außerparlamentarischen Linken. Aufgrund seiner regierungskritischen Aktivitäten steht er regelmäßig in Konflikt mit der Staatsmacht. 2013 wurde er wegen Organisation von Massenunruhen bei den Bolotnaja-Protesten zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, im August 2017 kam er frei.
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