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Ojub Titijew – die Geschichte eines Menschenrechtlers

Ojub Titijew, Leiter von Memorial Grosny, ist im Januar 2018 verhaftet worden. Die Polizei hat in seinem Auto angeblich Drogen gefunden. Derzeit läuft der Prozess gegen ihn, den internationale Menschenrechtler als fadenscheinig und konstruiert bezeichnen. 2018 wurde er mit dem Václav-Havel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet.
Der Moskauer Journalist Schura Burtin, der schon über Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, recherchiert und geschrieben hatte, kennt Titijew jedoch schon lange. Den Prozess gegen ihn hat er zum Anlass genommen, um nach Grosny zu fahren und kleinere tschetschenische Orte zu besuchen, etwa Kurtschaloi, wo Ojub Titijew herkommt. 

Auf Meduza hat Schura Burtin Titijews Geschichte aufgeschrieben, die auch eine Geschichte über das Tschetschenien der Gegenwart ist. Ein dekoder-Longread.

Источник Meduza

Im Bau befindliche Moschee in Kurtschaloi, dem Heimatort Titijews / Foto © Dmitry Markov für Meduza

„Ich erinnere mich, wie Mama ihm mal hinten Flicken auf die Hose gemacht hat“, erzählt Ojubs ältere Schwester. „Er war in der zweiten oder dritten Klasse. [Mama] sagte: ‚Geh mit dieser Hose in die Schule, die andere ist noch feucht.‘ Er hat sich unwillig angezogen, fertig gemacht, die Tasche genommen, und ist los, ohne etwas zu sagen. Mama sagte mir: ‚Ich weiß, dass er sich irgendwo versteckt hat. Lauf ihm unauffällig nach.‘ Ich bin los, ihm nach. Er hatte sich um die Ecke bei den Nachbarn versteckt und stand da jetzt. Ich wartete und wartete, aber er kam nicht raus. Ich ging hin und sagte: ‚Mama wird schimpfen …‘ Unsere Mutter war noch ziemlich streng. ‚Guck mal, ist doch überhaupt nicht zu sehen. Geh' heute so, Ojub. Setz dich hin, dann merkt’s niemand.‘ Da ist er widerwillig los. An diese Geschichte erinnere ich mich aus irgendeinem Grund ständig, warum weiß ich nicht.“

Ich hatte nicht vor, diese Episode einfließen zu lassen, weil sie nicht so recht ins Gesamtbild passen wollte. Aber dann merkte ich, dass auch ich mich ständig an sie erinnerte. Vermutlich deswegen, weil sich in ihr Ojubs wahre, seine scheue und eigensinnige Natur spiegelt.

Ich habe Ojub Titijew vor zehn Jahren kennengelernt. Er war ein Freund und Kollege meiner Schwester. Sie bauten zerstörte Schulen in den Bergregionen Tschetscheniens wieder auf und transportierten Kranke und Verletzte zur Behandlung nach Moskau. Er war ein schweigsamer Mann mittleren Alters, auf den ersten Blick keine besonderen Auffälligkeiten. 

Ich sollte einen Text über die tschetschenischen Adaten und ihre Anwendung schreiben, und Ojub fuhr mit mir für ein paar Tage durch die Berge, um mich mit einigen der Ältesten bekannt zu machen. Aus irgendeinem Grund kannte er dort alle. Es stellte sich heraus, dass er ein angenehmer Mensch ist, insbesondere ein verlässlicher. Außerdem führte seine Lässigkeit dazu, dass wir sofort zum „du“ übergingen, obwohl er bedeutend älter war als ich. 
Damals habe ich gemerkt, dass sich hinter dieser gemächlichen Art noch etwas anderes verbirgt. Wenn er über die Dörfer erzählte, erwähnte er manchmal Episoden des Krieges, die dort geschehen waren – inklusive der Nummern von Einheiten, Namen von Kommandeuren, Opferzahlen und konkreten, schrecklichen Todesumstände. Und wer, wann, bei wem und für wie viel den Körper jenes Getöteten freigekauft hatte. Ich hatte das Gefühl, als wüsste er das alles ganz genau und nicht aus dem Internet.

Später verstand ich, dass Ojub weitaus besser informiert war, als alle mir bekannten Memorial-Mitarbeiter, anderen Menschenrechtler und Journalisten. Es schien, als wüsste er die ganze Wahrheit über das, was in Tschetschenien passierte und passiert. Auf jede Frage gab er für gewöhnlich eine kurze, konkrete Antwort. 

Sein Wissen hat Ojub nie kommentiert und war offensichtlich nicht stolz darauf. Er sah aus wie ein bescheidener Dorflehrer, der aus unerklärlichen Gründen die Last ungeheuren Wissens über das menschliche Leid auf seinen Schultern trug. All das war noch vor der Ermordung Natascha Estemirowas, und bevor Ojub die tschetschenische Abteilung von Memorial übernahm.

Trotzdem haben wir uns nicht ein einziges Mal über Persönliches unterhalten, über sich selbst hat Ojub nie geredet. Daher wusste ich lange nicht, was ich sonst noch über ihn schreiben könnte.

„In Tschetschenien wird schwerlich überhaupt jemand mit dir reden“, sagte mir eine Bekannte von Ojub. „Ich persönlich jedenfalls nicht, wenn ich dort wäre.“

Sie hat sich geirrt. Ich hatte nicht genügend Zeit mich mit allen zu unterhalten, die etwas über Ojub erzählen wollten. Tatsächlich kann ich keinen einzigen der Tschetschenen hier beim Namen nennen, konnte bei niemandem übernachten. Das ging nur in Hotels. Jeder Einheimische, der in diese Geschichte verwickelt ist, riskiert sein Leben.

Kapitel 1
Vergebung

Vermutlich hatte ein Ereignis in Ojubs Kindheit starken Einfluss auf sein Schicksal: Sein Vater, ein Dorfpolizist, tötete einen Menschen. Das war ein unglücklicher Zufall, und alle wussten, dass er unschuldig war. Die Titijews baten um Vergebung, und die Sippe des Getöteten akzeptierte. In Tschetschenien gilt das Gesetz der Blutrache: Ein Mord kann nicht ungesühnt bleiben. Die Familie des Getöteten muss sich rächen – oder der Familie des Mörders vergeben. 
Es werden lange Verhandlungen geführt, Kompensationen vorgeschlagen, die Ältesten anderer Sippen als religiöse Autoritäten hinzugezogen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Blutrache kein Recht der Familie ist – es ist ihre Pflicht. Ihr Umfeld erwartet von ihr Gerechtigkeit. Einen Mord nicht zu rächen bedeutet, den Ruf der Sippe zu beschmutzen. Aber um den dreht sich das ganze Leben. Vergebung ist möglich, doch das ist eine lange Prozedur, und es braucht eine handfeste Grundlage, mit der alle einverstanden sind. 

Die Pflichten, die sich für die Familie aus der ihnen zuteil gewordenen Milde ableiten, wiegen schwer. Ab sofort muss sie der Familie des Getöteten in jeder Situation beistehen und immer als erstes zur Stelle sein, so als würde sie den Verstorbenen zu ersetzen versuchen. 

„Wir sind jetzt wie Verwandte“, erzählt Ojubs Schwester. „Wir stehen seitdem an ihrer Seite. Als ihr Sohn heiratete, halfen wir, und auf den Feldern im Herbst und Frühling ebenso.“

Das soziale Leben des Mörders ändert sich fundamental: Er stirbt quasi selbst, muss auf ewig Buße tun. Er muss entweder aus seinem Heimatort verschwinden oder sich völlig unauffällig verhalten. Er kann kein öffentliches Leben mehr führen und nicht mehr an Versammlungen der Dorfgemeinschaft teilnehmen. Er darf nicht mehr sichtbar sein. 

„Ihr Vater gab seine Arbeit auf und hielt sich von da an nur noch im Haus auf, ohne sich jemandem zu zeigen“, erzählt ein Freund der Familie Titijew. „Er war gezwungen so zu leben, während die Mutter die Verantwortung für die Familie übernehmen musste. Sie hatte schwer zu tragen, diese starke Frau.“

Ojubs Vater war ein sehr zarter Mensch und, der sowjetischen Ordnung zum Trotz, sehr gläubig. Seine Mutter dagegen war sehr streng. Ojub war der jüngste von vier Brüdern. 
Ich weiß nicht, ob das etwas mit der Sache zu tun hat, aber mir scheint, dass jüngere Brüder oft unter dem Affentheater ihrer älteren Brüder leiden, mehr Mitgefühl für ihre Eltern empfinden und versuchen, es ihnen recht zu machen. Ich vermute, dass die Tragödie des Vaters eine tiefe Prägung in Ojub hinterlassen hat – seine Verschlossenheit, Bescheidenheit und Abneigung gegen Gewalt. Und ich habe das Gefühl, dass Ojub sein ganzes Leben ein Gefühl der Schuld mit sich herumtrug.
Ojub Titijew (in der Mitte) mit seiner Familie / Foto © Privatarchiv der Familie Titijew

Kapitel 2
Der Sportlehrer

Was in seiner Kindheit und Jugend weiter passiert ist, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass er den Militärdienst in der Ukraine abgeleistet hat, und zwei Jahre in einem Disziplinarbataillon absaß. Als Jungspund, der sich dort desöfteren mit Tschetschenen umgab, hatte er sich geweigert, die Anordnungen der Altgedienten auszuführen. Dafür versuchte man einmal, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Sie waren zu elft, aber Ojub entriss ihnen das Messer. Das deckt sich nicht im Geringsten mit seinem friedliebenden Charakter. Allerdings wurde Ojub mit äußerst rigorosen Vorstellungen über Ehre und Würde erzogen, und ich glaube, dass er schlichtweg keine Wahl hatte.

Ojub beendete das Agrarinstitut, dann das Institut in Nowgorod, kehrte nach Kurtschaloi zurück und fing an, als Sportlehrer an einer Schule zu arbeiten. Ab Mitte der 1980er Jahre organisierte er dort mit einem Kameraden einen Boxverein, einen der ersten in Tschetschenien. Alle seine Freunde sagen, dass Ojub hingebungsvoll, ja fanatisch in Sport vernarrt ist. 

„Er hat einen der Box-Klubs in Tschetschenien aufgebaut, aus dem seither Champions hervorgegangen sind“, erzählt der Vorsitzende von Memorial, Alexander Tscherkassow. „Er hat sich da sehr reingehängt. Das Schicksal dieses Klubs ist ihm überaus wichtig, genauso wie das seiner Schüler. Die Leidenschaft für den Sport ist nicht irgendein beliebiger Charakterzug, sondern ein Grundpfeiler seines Lebens.“

Ich kann mir Ojub in der Rolle des Trainers sehr gut vorstellen, als ernsten und wortkargen Typen. Ich stelle mir vor, dass er seine Schüler sehr liebt, wenn er es sich auch nicht anmerken lässt; wie er geduldig mit ihnen ist. Dieser Verein spielte in seinem Leben eine bedeutende, widersprüchliche Rolle. 

Während der Perestroika verließ Ojub die Schule. Anscheinend handelte er mit Möbeln und sonst welchem Kram und führte einen kleinen Laden in Gudermes. Er heiratete. Erzählungen nach zu urteilen, war er damals ein anderer, fröhlicher, offener und kontaktfreudiger Typ. 
So lief es bis zum Krieg. Und als russische Truppen in Grosny einmarschierten, schloss sich Ojub, so wie viele andere, der Dudajew-Miliz an. Er tat das ungeachtet der Meinung seiner älteren Brüder.

„Am Anfang waren die Aufrufe solche: ‚Los jetzt, raus mit euch! Ehefrauen, Mütter – lasst eure Männer gehen! Wenn du ein Mann bist – verkauf die Kuh und kauf dir eine Maschinenpistole!‘ Naja, einige haben sich verleiten lassen, ehrliche, gute Leute“, erzählt Jakub Titijew. „Aber als Dudajew im Fernseher erschien, habe ich meinen Brüdern von Anfang an gesagt: Nein, diesem Schnauzer werde ich nicht hinterherlaufen, das ist kein männlicher Schnauzer. Wenn es sein muss, finden wir Waffen. Wir sind zu viert. Aber jetzt macht es keinen Sinn, sich zu verteidigen. Niemand hat vor, uns die Heimat wegzunehmen.“

Aber Ojub ging trotzdem. Ihm folgten viele Jugendliche aus dem Dorf, darunter seine Schüler. Dennoch ist er nicht lange in Grosny geblieben.

„Seine Mutter und Schwester sind hingefahren“, erzählt einer seiner Freunde, „und haben auf den Knien, weinend, auf ihn eingeredet, dass der Vater weg ist und er die Familie nicht einfach im Stich lassen kann und so weiter. Seine Mutter sagte ihm: ‚Wenn du jetzt nicht gehorchst und mitkommst, dann bist du nicht mehr mein Sohn.‘ Und Ojub fühlte sich schuldig gegenüber seiner Mutter, dafür, dass sie es immer so schwer gehabt hatte. Also musste er mitkommen.“

Ojub gehorchte und kehrte heim. Aber seine Schüler blieben zurück, um zu kämpfen. Sie kamen um, siebzehn an einem Tag. Ojub lief über das Feld und las sie in Einzelteilen auf – hier einen Arm, dort ein Bein, irgendwo anders einen Stiefel …

Kapitel 3
Depression

Nach dem Tod seiner Schüler verließ Ojub lange Zeit nicht mehr das Haus und sprach mit niemandem. Freunde dachten, dass er durchgedreht sei.

„Die ganze Zeit saß er da, behaute Tschurty aus Stein, die hiesigen Grabsteine, und setzte sie auf die Gräber. Es war ein schwerer Schlag für ihn, dass er zurückgekehrt war und sie gestorben waren.“

Alle sagen, dass Ojub die nächsten Jahre in einer Depression verbrachte. Sein Charakter veränderte sich. Er wurde zu dem, als den wir ihn heute kennen: still und nachdenklich. Er half den anderen Dorfbewohnern ihre Verwandten zu suchen, die in Gefangenschaft waren, und sie sowie die Körper der Toten bei den föderalen Kräften, den Russen, freizukaufen.

„Im Großen und Ganzen haben sich die Frauen um die Suche nach den Verschollenen gekümmert. Die Männer haben sich damals hinter den Frauen versteckt, weil es zu gefährlich war. Aber Ojub hatte keine Angst. Er hat sich nie unter den Röcken verkrochen“, erzählt ein Freund.

Ich glaube, dass Ojub damals, in diesem Zustand, gelernt hat, bei gefährlichen Aktionen die Angst vollständig zu ignorieren. Möglicherweise versuchte er auf diese Weise, seine Schuld zu bereinigen. Oder er hoffte, dabei umzukommen. 

„Er hat sich darauf verstanden, die Überreste aufzusammeln und zu bestatten, wie andere die Hausarbeit erledigen“, sagt ein Nachbar von Ojub. „Alle hatten Tote zu beklagen. Trotzdem machten die Menschen weiter. Sie schlossen irgendwie Frieden damit. Aber Ojub kam nicht darüber hinweg.“

„So ein Verhalten ist heutzutage nicht gerade weit verbreitet“, erklärt Alexander Tscherkassow. „Solche Menschen wurden zu dieser Zeit beispielsweise Dorfvorsteher, Älteste. Das sind Menschen, die man vorschob, um Verhandlungen mit den Soldaten zu führen. Sie trugen die Verantwortung für alle, nicht nur für die eigene Familie. Für alle in ihrem Umfeld: Verwandte, Kollegen, Schüler, alle, die ihnen vertrauten. So einer war er.“

„Er hat definitiv viel riskiert“, erzählt ein Nachbar. „Da gab es diesen Rebellenführer namens Radujew, erinnern Sie sich? Er kam in Gudermes vorbei und startete eine Schießerei. Da war alles voller Leichen. Die Leute flüchteten aus der Stadt. Und Ojub ist los, um in seinem Auto die Leute aus der Stadt zu fahren. Während die Bomben fielen, fuhr er den ganzen Tag hin und her. Den Seitenflügel haben sie ihm durchlöchert. Am Ende hat er die Leichen noch bestattet.“

Es muss damals gewesen sein, dass Ojub anfing, sich alles zu merken, was er von den Geschehnissen mitbekam. Alle Kollegen sagen, dass sie viele Male über sein phänomenales Erinnerungsvermögen für Daten, Zahlen und Ereignisse staunten.

„Ein Computer merkt sich wahrscheinlich nicht so viel“, sagt Tscherkassow. „Wenn du rein gar nichts tun kannst, nicht einmal etwas sagen, dann musst du es halt abspeichern. Auch das wird dir am Tag des Jüngsten Gerichts mit angerechnet.“

Kapitel 4
Der Freiwillige

Ojubs Laden in Gudermes brannte im Krieg bis auf die Grundfesten nieder. Seine Schwager wollten ihn wieder aufbauen, aber Ojub verlor das Interesse daran. Er kehrte in die Schule zurück. Sein älterer Bruder Sultan war dort Direktor. Die Schule war zerstört, die Brüder bauten sie mit bloßen Händen wieder auf. Ojub unterrichtete dann Sport und Geschichte. 

Als der Zweite Tschetschenienkrieg begann, war es wieder Ojub, der die Dorfbewohner aus den Filtrationslagern rausholte. Im Jahr 2000 kam Natascha Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial in Kurtschaloi an. Sie sammelte Daten über die Getöteten und Verschleppten. Man verwies Natascha an Ojub, der sich anbot zu helfen. So lernten sie sich kennen, und er leitete dann Informationen an sie weiter. 

Zu Beginn beäugten sie einander misstrauisch. Der Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina kam es so vor, als würden sie nicht recht warm miteinander: „Er war nicht all zu sehr zum Lächeln aufgelegt, kriegt die Lippen nicht so recht auseinander. Wie soll man mit so einem Menschen arbeiten? Seine erste Reaktion war ein Gesichtsausdruck, der zu sagen schien, dass das, was wir da machen, Mumpitz ist. Aber mit der Zeit erkannte er, dass wir es ernst meinen.“

„Weißt du, in der Welt der Menschenrechtler gibt es sehr viele gute Leute“, erzählt die Human Rights Watch-Mitarbeiterin Tatjana Lokschina. „Viele kreative Persönlichkeiten, interessante Gespräche, wunderbare Initiativen. Häufig wollen die Menschen aufrichtig etwas bewirken, glauben zu einhunderfünfzig Prozent daran. Aber dann resignieren sie und das war’s. Ojub hat sich nie an philosophischen Auseinandersetzungen über Heimat und Zukunft beteiligt, sondern versucht, realen Menschen zu helfen. Er hat seine Versprechen immer gehalten. Wenn du ihn gebeten hast, etwas herauszufinden oder zu überprüfen, konntest du mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass er es macht. Und er sagte auch manchmal Nein. Seine Grenzen zu kennen ist auch sehr wichtig.“

Alle seine Freunde sagten mir, dass Memorial für Ojub die Rettung war und er ansonsten definitiv verrückt geworden wäre. Anfangs gab er einfach als Freiwilliger Informationen weiter. Er hielt alles handschriftlich fest, und fuhr fünfzig Kilometer und über dutzende Checkpoints, um die Dokumente den Moskauern zu übergeben. Er unterschrieb nicht mit seinem Namen, sondern einfach nur mit „Monitor-1“.

Während der 2000er hatte sich Tschetschenien dem Kadyrow-Clan noch nicht vollständig unterworfen. Moskau unterstützte mehrere bewaffnete Clans gleichzeitig, die um die Macht kämpften oder ihre Unabhängigkeit verfochten: die Jamadajews, die Baisarows, die Kakijews und die Chassambekows. Das war ein blutrünstiger Haufen. Das Dorf Kurtschaloi war das Hoheitsgebiet von Chamsat Edelgirijew, dem Chef der örtlichen Polizei, der ebenfalls wegen seiner unglaublichen Brutalität berüchtigt war. Es hieß, er würde Ramsan nicht fürchten. In den Bergen nahe dem Dorf Jalchoi-Mochk hatte er ein geheimes Privatgefängnis, wo man Entführte folterte. Die Polizei von Kurtschaloi befand sich hundert Meter von Ojubs Haus entfernt.

„Diese Polizeieinheit war eine der schlimmsten in ganz Tschetschenien“, sagt Elena Milashina, Journalistin der Novaya Gazeta. „Er riskierte damals jeden Tag sein Leben. Uns wurde bewusst, dass wir abends von der Arbeit nach Hause gingen, er aber in die Höhle des Löwen zurückkehrte.“

Kapitel 5
Das Dorf

Aus den Gesprächen mit Verwandten und Nachbarn erfuhr ich etwas über eine Seite von Ojubs Leben, über die ich zuvor noch nichts gehört hatte: In Kurtschaloi und weit über seine Grenzen hinaus wird er als Friedensrichter hochgeschätzt.

Man muss verstehen, dass es in Tschetschenien zwei gesellschaftliche Sphären gibt. Es gibt die äußere Sphäre, über die im Fernsehen gesprochen wird, und die dörfliche, das Leben der wainachischen Taips, wo Bräute umworben und entführt werden, wo geheiratet und sich getrennt, geboren und gestorben wird, wo Konflikte zwischen Dorfbewohnern aufflammen und gelöst werden, wo fern aller Augen und Ohren Blutrache geübt und Friedensgerichte abgehalten werden. 

Der wichtigste Faktor hier sind verwandtschaftliche Verbindungen. Das ist nichtsdestotrotz das öffentliche Leben, wenn auch in einem völlig nichtöffentlichen Sinne des Wortes. Ein Konflikt, selbst wenn alle drumherum davon wissen, gilt als die private Angelegenheit zweier Familien. Niemand wird anfangen darüber in der Zeitung zu berichten. Jeder Tschetschene lebt in diesen beiden Sphären, und jedes komplexe Ereignis lässt sich in diesen zwei Dimensionen interpretieren. 

Diese Trennung hat es immer gegeben, die gesamten einhunderfünfzig Jahre seit der Unterwerfung Tschetscheniens. Die Existenz dieser wainachischen Sphäre, die für die sowjetischen Machthaber beinahe unsichtbar war, hatte weitreichende Konsequenzen: die Entwicklung einer Schattenwirtschaft und eines Systems der Nebenverdienste in der Breshnew-Ära, das Fortbestehen von suffistischen Bruderschaften, den plötzlichen Zusammenbruch des Staates 1991, die gute Organisation der tschetschenischen Milizen, die Schwäche des Maschadow-Regimes und massenhaft weitere.

„Wenn beispielsweise jemand stritt“, erzählt ein Verwandter, „oder jemand einen Unfall verursachte, bei dem der andere Fahrer starb, haben die Leute Ojub gerufen, wenn es um die Versöhnung ging. Wenn er kommt, um zu reden, können jene nicht ablehnen, denn er ist ein angesehener Mann. Nicht nur Verwandte riefen ihn, auch andere Dorfbewohner, Menschen aus Nachbardörfern, aus der ganzen Republik. Ich erinnere mich, dass sogar Leute aus Inguschetien zu ihm kamen.“

„Und womit kamen die Menschen zu ihm?“

„Keine Ahnung, das ist doch eine Sache zwischen ihnen. Wenn ich zu ihm kam, und ihm irgendwas erzählt habe, hat er das auch niemandem weitergesagt.“

„Es gibt Regeln der Scharia“, erklärt Jakub Titijew, „und irdische Regeln, die Adaten. So oder so muss Gerechtigkeit herrschen. Die Menschen suchen einen Ort, wo man eine Sache still regeln kann. ‚Also, gehen wir zu Ojub, zu Usman oder zu Magomed?‘ ‚Jawohl.‘
Es geht das Gerücht um, dass der oder der objektiv und ehrlich richtet. Am Anfang wird ein mündlicher Vertrag geschlossen: ‚Mein Urteil wird endgültig sein, beide Seiten werden damit einverstanden sein. Wenn nicht, fange ich gar nicht erst an.‘ Kommt heraus, dass du im Recht oder schuldig bist, dann war’s das, Punkt. Du hast nicht das Recht, dich zu beschweren.“

Bei Memorial wusste man über diese Seite Ojubs nur wenig. Aber es wird ungefähr verständlich, woher Ojub so viele Kontakte hatte. 

Das tschetschenische Dorf Tschatoi im September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kühe auf der Straße und Moderne im Hintergrund im tschetschenischen Argun / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 6
Die dunkle Seite

„Als ich in Tschetschenien ankam, setzten wir uns hin, und er erzählte mir bis ins kleinste Detail, was hier gerade passierte“, erzählt die Menschenrechtlerin Jekaterina Sokirjanskaja. „Menschen wurden entführt, in irgendwelchen illegalen Gefängnissen festgehalten, gefoltert und schließlich ermordet. Er hat hunderte solcher Fälle bearbeitet, hunderte menschliche Schicksale. Die Körper hat man entweder irgendwo verbuddelt, oder einfach auf die Straße geworfen, wo sie jemand fand und dann auf irgendeinem Dorffriedhof begrub. Er forschte lange nach, sehr gründlich, stellte Verbindungen her. Ergab sich ein Muster, so prüfte er und vergewisserte sich, bis das Bild vollständig war.“

„Ojub verstand, dass man Details bestimmen und dokumentieren muss, denn die Leute verschwanden. Sowohl ihre Verwandten, als auch die Bewohner, die die Körper gewaschen und sie begraben hatten. Sie erinnerten sich noch, wie die Leiche aussah, wie sie bekleidet war. Aber es war klar, dass die Information bald für immer verloren sein würde“, fährt Sokirjanskaja fort. „Man muss zu den Leuten rausfahren, um ihre Aussagen aufzunehmen, meistens sind es Ehefrauen und Mütter. Es ist psychisch sehr anstrengend, diese Leute zu zwingen, sich noch einmal zu erinnern. Und es war überraschend, wie viel sie vergaßen. Manchmal konnten selbst Mütter sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Kinder erinnern, an welchem Tag das passiert war, in welchem Monat. Manches behielten sie sehr genau, und andere Details verschwanden vollständig. Wir verstanden, welche Menge an Information da verloren ging.“

Mit der Zeit stellte Ojub für Memorial eine einzigartige Datenbank zusammen, mit der man nicht nur die Vermissten suchen, sondern auch die Täter feststellen konnte, darunter Soldaten. Er musste alles mögliche überprüfen: alte Verfahren dieser Menschen, Daten der Staatsanwaltschaft, Anfragen von Anwälten. Musste sie systematisieren, sämtliche Information über einen Verschollenen zusammenführen oder mehrere Fälle miteinander verbinden. Manchmal verschwanden Menschen in Gruppen, etwa um Militärbasen herum. Laut Memorial wurden in Tschetschenien in den 2000er Jahren 2000 bis 5000 Menschen durch Silowiki entführt und ermordet.

„Er hat versucht, mich vor all dem zu bewahren. Er verschlüsselte die Dateien über Verstümmelte, Erhängte, diejenigen, die man gefoltert hatte“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „All diese furchtbaren Texte und Fotos versteckte er vor mir: ‚Das ist nichts für deine weibliche Psyche.‘ Selbst wenn es notwendig war, dass ich mir etwas anschaute, sagte er: ‚Das hier schau dir nicht an, nur das da.‘ Er lebte mit all dem, dem, was passiert war, die ganze Geschichte dieser beiden Kriege. In ihm steckten so viele Informationen! Für ihn drehte sich alles darum. Manchmal waren Menschen von ihm abgestoßen. Manche fanden ihn langweilig. Selbst mein Mann sagte: ‚Er macht mich fertig, erzählt immer nur über das eine.‘“

Es galt, nicht nur an die Toten zu denken. Nach dem Krieg landeten zehntausende Kaukasier in den Gefängnissen. Man bezichtigte sie der Mitgliedschaft in illegalen bewaffneten Gruppierungen. Ein Teil von ihnen hatte tatsächlich gekämpft. Aber Tausende wurden Opfer konstruierter Fälle. Im Knast wurden sie als Terroristen gehandelt, und man ging scheußlich mit ihnen um.

„Einmal, um drei Uhr nachts“, erinnert sich Swetlana Gannuschkina, „rief mich jemand an: ‚Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Ihre Telefonnummer ist hier bei uns auf die Wand geschrieben.‘ Ich fragte: ‚Wo sind Sie?‘ ‚Ich sitze im Gefängnis. Sie haben gerade einen Menschen abgeholt und schlagen ihn jetzt zusammen. Helfen Sie irgendwie‘. Ich fand heraus, von welchem Knast die Rede war, und rief die Wache an. Die sagt: ‚Wer hat Ihnen das gesagt?‘ Ich antworte: ‚Jemand hat mir gesagt, dass er bei euch arbeitet. Bei euch gibt es doch anständige Leute?‘ Und bald darauf kriege ich eine SMS: ‚Sie haben uns sehr geholfen. Den Typen haben sie zurückgebracht, halbwegs unversehrt.‘ Schon bald sagte mir Ojub, dass sie auch ihn anriefen. Wir verstanden, dass man etwas tun musste, Anwälte hinschicken und so weiter.“

Ojub und seine Kollegen stellten ein Projekt zur Unterstützung der Tschetschenen und Inguschen in den Vollzugsanstalten auf die Beine. Sie nahmen Beschwerden von Verwandten auf, schrieben Anfragen an die Staatsanwaltschaft und an die Gefängnisbehörde, und schickten Anwälte in die Knäste. Gerechtigkeit war damit nicht zu erreichen, aber es konnte sein, dass die Folter aufhörte, und Kranken endlich medizinische Hilfe gewährt wurde.

Kapitel 7
Der einsame Wolf

„Als wir anfingen mit ihm zusammenzuarbeiten“, erzählt die Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, „erzählten die Moskauer, dass er der Typ ‚einsamer Wolf‘ sei. Meine Tochter war Sekretärin und hatte sogar Angst an einem Tisch mit ihm zu sitzen und zu Mittag zu essen, so einen ernsten Eindruck machte er. Ich habe sie beruhigt, dass er nur äußerlich so wirkt, aber innerlich ein herzlicher Mensch ist. Und er sagte mir selbst, dass er das Gefühl hat, dass man ihn nicht möge und ihm aus dem Weg gehe, weil er nicht besonders charmant ist.“

„Wenn du ihn dir so anschaust, wirkt er wie ein harter Kerl aus den Bergen“, sagt eine Memorial-Mitarbeiterin, „aber dann wird dir plötzlich klar, dass er – im Gegenteil – sehr emotional ist, und versucht, das irgendwie zu verbergen. An ihm war überhaupt nichts Großspuriges, Machohaftes. Beispielsweise, wenn irgendwelche Feiertage anstanden, wo man den Mädels was schenkt. Menschen eine Freude zu machen war ihm sehr wichtig. Er bringt uns irgendwas mit und hat dabei so ein bescheidenes, kindliches Lächeln auf den Lippen: ‚Hier, greift zu.‘ Seine Gesten sind von einer rührenden Tollpatschigkeit.“

„Ich erfuhr erst, dass er vier Kinder hat“, erzählt eine Kollegin von Ojub, „als er irgendein Formular ausfüllen musste.“

Von Verwandten und Nachbarn aus Kurtschaloi hörte ich einen Haufen Geschichten, in denen sich Härte auf merkwürdige Art und Weise mit etwas Kindlichem vermischte.

Ojubs Neffen sind sehr nette Typen, um die dreißig, Bauarbeiter. Beide sind Ojub irgendwie ähnlich, aber auf unterschiedliche Art und Weise: Einer tschetschenisch-rau und reserviert, der andere, im Gegenteil, offenherzig, sanft und zugänglich.

„Ojub hat nie mit mir geschimpft, wenn ich irgendwas angestellt habe. Er hat niemals mit irgendjemandem geschimpft …“

Der Neffe verbirgt sein Gesicht in der Armbeuge und weint. Als der Zweite das merkt, fängt er an, schneller zu erzählen:

„Einmal wurde ich in einen Unfall verwickelt. Ich hatte ein ganz neues Auto und wurde abgedrängt. Der andere Fahrer hat sich sehr unfair verhalten. Er leugnete alles. Ich fuhr nach Hause, war stinksauer. Da kommt Ojub an: ‚Jusuf, deine Hände sind ja dreckig? Komm, wasch dich‘. Er öffnete den Wasserhahn, und ich wusch mich. ‚Siehst du, alles Irdische, wie Dreck, kommt und verschwindet wieder. Vielleicht vergibst du ihm jetzt, dann wird auch dir der Allmächtige vergeben. Er ist auch nur ein Mensch, vielleicht hat er einen Fehler gemacht. Sowas passiert. Kein Grund sich aufzuregen‘. Er war ruhig wie der Prophet.“

Ich glaube im Allgemeinen, dass Namen einen Einfluss haben. Nicht immer einen direkten, natürlich. Aber die Spiegelung des Schicksals in unseren Namen ist schwer zu übersehen. Der Prophet Ojub (die tschetschenische Variante des biblischen Hiob) – das ist die Verkörperung der Geduld. 

Aussichtsplattform auf einem Geschäftsgebäude in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Marktbesucher in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

„Er hatte mal einen Wolga, den er schließlich auseinanderschraubte. Ersatzteile, Stoßstange, Türen – er legte alles aufs Dach“, erzählt ein Nachbar. „Da sitzt er zuhause und hört, dass jemand auf dem Dach herumläuft. Er schaut aus dem Fenster, und sieht einen Dieb. Ojub kennt ihn, der hatte auch einen Wolga. Er nahm alles was er brauchte mit und verschwand leise wieder. ‚Wie, du hast nichts gesagt?‘ ‚Nein, was soll ich ihm denn sagen?‘“

„Die ganze Familie saß zusammen, und sah fern. Da erinnerte sich Ojub, dass die Nachbarn keinen Fernseher hatten, denn sie waren sehr arm. Er schaltete ihn ab, packte ihn ein und brachte ihn rüber.“

„Seine Frau erzählte da mal was, ungefähr einen Monat vor seiner Verhaftung. Er kam nach Hause und sagte: ‚Haben wir noch Lebensmittel, Zwiebeln und Kartoffeln? Leg einen Vorrat an, diesen Monat gibt’s kein Gehalt.‘ ‚Aber du hast es doch schon bekommen.‘ ‚Ja, ich hab’s abgegeben, um den Armen zu helfen.‘
In den Bergregionen half er einfach allen. Die Nähmaschine hatte er auch weggegeben! Und seine Ehefrau machte das mit.“

„Irgendwann mal, während des Krieges, hörte ich, dass auf dem Basar Butter und Zucker günstig verkauft werden“, erzählt Ojubs Schwester. „Und er sagt: ‚Das geht nicht, das ist Diebesgut, das ist Haram. Wenn das nicht gestohlen wäre, würden sie’s nicht so günstig verkaufen. Wenn ihr was braucht, dann kauft es im Laden. Und wenn ihr wenig Geld habt, dann kauft eben nicht so viel‘.“

„Mittlerweile machen doch alle Mullahs bei uns das, was sie wollen. Aber Ojub hat in seinem Leben unter keinen Umständen auch nur ein Gebet versäumt. Er ist ein streng gläubiger Muslim. Aber er hat das nie zur Schau gestellt, niemandem etwas aufgedrängt oder jemanden belehrt.“

„Wenn Ojub irgendwohin unterwegs ist und an einer Beerdigung vorbeikommt, dann macht er da definitiv Halt. ‚Weil auch du sterben musst‘, das waren immer seine Worte.“

„Den Russen gegenüber ist er tolerant, aber mir fällt es schon schwer, in seiner Gegenwart zu rauchen“, erzählt ein Memorial-Mitarbeiter. „Von der Sauferei fange ich gar nicht erst an. Auf Seminaren im Hotel rennst du auf dem Balkon rum, du willst unbedingt rauchen, weißt aber nicht, in welchem Zimmer er wohnt, ob er was sieht oder nicht. Du gerätst ins Schwitzen: Und was, wenn er jetzt rauskommt? Er würde nichts sagen, aber sein Blick verrät alles. Wir waren auf einem Seminar und ich hatte Geburtstag. Eine Kollegin sagte: ‚So, zu diesem Anlass stoßen wir mit einem Wein an! Komm schon, was ist los? Gestern hast du doch auch getrunken.‘ Und ich sah es in Ojubs Augen: ‚Alkoholiker!‘“

„Mein Sohn hat geheiratet“, erzählt ein Freund, „und unser Haus war dafür nicht gemacht, deshalb musste die Hochzeit in einer größeren Räumlichkeit stattfinden. Von Ojubs Haus aus sind das fünfzig Meter. Aber er warnte mich: ‚Wenn die Hochzeit bei euch zuhause stattfindet, komme ich. Wenn sie in einem Festsaal stattfindet, komme ich nicht. Du weißt, dass das nicht die tschetschenische Sitte ist.‘ Aber ich war nicht gekränkt. Er wäre ohne zu fragen auf ein Himmelfahrtskommando mit mir mitgekommen. Aber zur Hochzeit kam er nicht, weil man traditionell im Haus des Bräutigams feiert.“

„Das ist das, was wir Gylk nennen – die Verhaltensregeln, der Ehrenkodex“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Ojub hielt sich zu einhundert Prozent daran. Wie man sich in der Gesellschaft zu verhalten hat, insbesondere dort, wo Frauen sind. Selbst die Pose, wie du sitzt, wie du redest, welchen Ton du dir erlaubst. Ojub benahm sich immer sehr bescheiden, fürsorglich und großzügig. Alles was man für das Büro brauchte oder für die Teepause, kaufte er. Er ließ nicht zu, dass wir Geld ausgaben, obwohl das nicht seine Pflicht war. Nicht weit von uns gab es ein kleines Kaffeehaus. Wenn wir Zeit hatten, gingen wir mal vorbei. Ojub kam nach, und bezahlte sofort die gesamte Rechnung. Wir versuchten, nach ihm hinzugehen, weil es uns unangenehm war, dass er immer für uns zahlte.“

„Er ist von Beruf Schweißer, wenn auch ein Autodidakt“, erzählt ein Nachbar von Ojub. „Er reparierte für alle. Wenn im Dorf irgendwas passierte, ein Unfall oder irgendein Unglück, warf er alte Klamotten über, und los geht’s. Man muss ihn nur anklingeln an sein Tor klopfen, selbst um drei Uhr morgens, ganz egal. ‚Womit kann ich helfen?‘. Als ich baute, hat er mehr als ich gearbeitet.“

„Bei ihm gibt es kein Meins und Deins. Als wir in Gudermes arbeiteten, hatte er einen Shiguli, so einen roten. Wir alle fuhren ständig mit diesem Wagen. Er hat ihn nie jemandem verweigert. Einer kam, stellte das Auto ab – ich setzte mich und fuhr los. Ich kam zurück, ein anderer fuhr wieder los. Und irgend so ein Verkehrspolizist sagt: ‚Hör mal, jetzt sag mal ehrlich, wem dieses Auto wirklich gehört.‘“

„Ich habe ihm mal ein italienisches Sakko geschenkt, das mir zu groß war. Er befingerte es. ‚Gute Qualität, wie viel hast du dafür gezahlt?‘ ‚Fünfundvierzigtausend.‘ ‚Was denn, bist du übergeschnappt?! Weshalb soviel Geld? Du hättest es doch den Armen geben können.‘“

„Ojub hat den Armen immer Geld gegeben, das heißt bei uns Sadaqa. Er ging selbst zu ihnen. Er wusste, wo sie sind. Mich fragte er: ‚Weißt du, ob es bei euch in der Nähe jemanden gibt?‘ Wenn irgendwer in unserem oder im Nachbardorf etwas brauchte, ganz egal, er brachte Lebensmittel oder Geld vorbei. Und wenn die Kinder etwas für die Schule brauchten, dann kaufte er auch das. Einmal, das weiß ich noch, kaufte er den Kindern Bälle und Fußballtrikots.“

Sport hat Ojub sein ganzes Leben sehr ernsthaft betrieben. Nachbarn erzählten, dass sie vor ungefähr 15 Jahren nachts an sein Tor klopften und ihm sagten, dass Jakubs Haus in Flammen stand. Irgendwo war Gas ausgetreten. Ojub rannte los, um zu helfen, am anderen Ende des Dorfs. Aber vorher ging ihm die Puste aus. Von da an trainierte er täglich.

„Abends brauchte man Ojub nicht zu suchen, er war immer in der Sporthalle“, erzählt ein Nachbar. „Jeden Tag, selbst wenn er von morgens bis abends geackert hatte. Er trainierte mit Hanteln, ungeachtet seines Alters. Ein grandioser Boxer war er immer schon. Es verging kein Tag, an dem er nicht acht Kilometer gejoggt ist. Und jeden Sonntag in Gudermes zwanzig Kilometer. Einmal hat er mit einem Freund gewettet. Ojub warf sich eine kugelsichere Weste über, 18 Kilogramm, und sie liefen zu zweit los. Sein Freund hielt keine vier Kilometer durch, aber Ojub lief hin und zurück ohne innezuhalten.“

Sport war für Ojub ein Teil seiner Ethik. Um Menschen zu helfen, musste er kräftig sein.

„Er schrieb uns einen Brief“, erzählt ein Neffe, „ich habe ihn hier im Telefon: ‚Helft allen, sowohl Verwandten als auch Fremden. Ein Mann muss all jenen helfen, die in Schwierigkeiten stecken. Solch eine Möglichkeit gibt es nicht oft. Solange ihr jung und gesund seid: Helft euren Mitmenschen. Wo auch immer ihr gerade seid – helft! Und geht auf jeden Fall trainieren!‘“

Kapitel 8
Die Berge

Als Ojub und ich durch Tschetschenien fuhren, erzählte mir ein weiser Alter vom „Weg des Konach“. Der Konach, was auf tschetschenisch so viel wie Krieger oder Bewahrer bedeutet, ist die zentrale Figur der traditionellen tschetschenischen Ethik. Zunächst einmal hat er sich streng an alle traditionellen Verhaltensregeln zu halten. Es ist ein permanentes Training des Aushaltens und der Selbstbeherrschung.

Zweitens ist der Konach für die Schwächeren verantwortlich. Vor allem anderen muss er sich um die Familie kümmern, aber damit müssen seine Aufgaben nicht zwangsläufig enden. Er kann sich selbst das Gelöbnis abnehmen, alle Nachbarn, Kinder, Frauen und einsame Alte zu verteidigen und noch einiges mehr. Einige legendäre Konachen übernahmen die Verantwortung für ganze Dörfer oder Taips. Das bedeutete, dass jeder mit der Bitte um Hilfe zu ihm kommen konnte. Und der Konach musste für ihn einstehen, so wie er für seinen leiblichen Bruder einstehen würde. Die wichtigste Eigenschaft des Konach, erklärte der Alte, ist die Bescheidenheit. Du nimmst Verantwortung auf dich, aber stellst es nicht zur Schau. 

Um der Gewalt ein Ende zu setzen, konnte der Konach sich mit fremdem Blut besudeln, und selbst zum Subjekt der Rache werden. Aber die stärksten Konachen nahmen nicht nur die Verantwortung für alle um sich herum auf sich, sondern lehnten auch Gewalt ab. Der ehrbare Konach ist unbewaffnet, aber durch sein Verhalten rüttelt er das Gewissen der Täter wach. Ich habe nie mit Ojub darüber gesprochen, aber ich denke, dass er in eben diesem Koordinatensystem lebte.

Im Jahr 2002 wurde Ojub zum ständigen Mitarbeiter von Memorial in Gudermes. Zusätzlich zum Monitoring von Morden und Entführungen stießen sie auch soziale Projekte an. Sie organisierten Kurse zur Beseitigung des Analphabetismus. Gemeinsam mit dem Komitee Zivile Zusammenarbeit halfen sie den Betroffenen der vom Krieg ruinierten Bergdörfer.

Das Gesundheitssystem war vollständig zerstört. Es gab weder Krankenhäuser noch Ärzte. Dafür jedoch eine riesige Zahl an Kranken und zu Krüppeln gewordenen Menschen. Zuerst mussten diese Menschen gefunden werden, denn die Bergbewohner hatten vergessen, was der Begriff „ärztliche Hilfe“ überhaupt bedeutete. Meine Schwester Aljona fuhr mit Ojub und Kollegen von Zivile Zusammenarbeit durch die Berge, sie befragten Einwohner, fahndeten nach Kranken, kauften Medikamente und transportierten Menschen zur Behandlung nach Moskau. 

„Es war gefährlich da herumzufahren“, erzählte meine Schwester. „In den Bergen wurde weiter geschossen. Ich erinnere mich, als wir in einmal im Wedenski Rajon am Haus der dortigen Krankenschwester ankamen. Sie war so außer sich, ich wollte am liebsten direkt wieder gehen. Ich hatte Angst, dass mit ihr etwas passiert. Ihre Hände zitterten, sie kramte irgendwelche Heftchen und Krankenscheine hervor und sagte: ‚Ach je, lassen Sie, lassen Sie, besser wir sterben hier, alle zusammen.‘ Aber das war eine gute Arbeit, wir konnten viele retten. Insgesamt halfen wir ungefähr achttausend Menschen.“

Beinahe alle Schulen in den Bergen waren zerstört oder beschädigt. Im Krieg hatten beide Seiten hier gerne Stabsquartiere eingerichtet. Die Dorflehrer versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu improvisieren, hielten Unterricht in unbeheizten Klassenzimmern ab, heizten mit Kanonenöfen. Auf Öfen und Elektroherden kochte man den Kindern Brei auf Wasserbasis oder aus der Milch der Kühe, die den Lehrern selbst gehörten. Ojub und Aljona pendelten zwischen den Bergen hin und her und kümmerten sich um die elementaren Dinge. Dazu kontaktierten sie Direktoren, Beamte, Einheimische und Arbeiter. Ojub setzte einen Finanzplan auf und kommunizierte mit den Bauarbeitern. Das Prozedere war ihm bekannt, er hatte es ja selbst durchstehen müssen. Irgendwo musste ein Dach repariert werden, eine Sporthalle, oder es mussten Leitungen verlegt werden, woanders baute man eine Brücke über eine Erdspalte auf dem Schulweg.

2007 und 2008 – Ojub Titijew besucht Schulen in den Bergdörfern / Fotos © Privatarchiv der Familie Titijew

Jede dieser Reisen in die Berge war gefährlich. Jeden Moment konnte alles passieren. Menschen verschwanden regelmäßig, oder man fand sie tot am Wegesrand. Im April 2006 verließ der Fahrer des Versorgungsprogrammes, Bulat Tschilajew, sein Haus in Sernowodski. An einer Straßensperre stoppten Milizen des tschetschenischen Bataillons Sapad seinen Wagen. Sie zwängten Bulat in ihr Auto, seinen Beifahrer in den Kofferraum. Die beiden wurden nie wiedergesehen. Am wahrscheinlichsten ist, dass man sie direkt ermordet hat oder zu Tode folterte.

Viele Bergdörfer waren völlig verlassen. Den Föderalen war das ganz recht, denn so verloren die Milizen Essen und Unterschlupf. Die Soldaten sprengten die übrigen Häuser, damit die Leute nicht zurückkehrten. Viele Bewohner der kleinen Dörfer baten um Hilfe beim Wiederaufbau von Betrieben. Zivile Zusammenarbeit kaufte Traktoren für die Dörfer, um die Wege auszubessern und Vieh für einige Familien. Ojubs Leben war damals gänzlich ausgefüllt von all den Kühen und Traktoren. Es scheint, als wäre das trotz all der Widrigkeiten eine glückliche Zeit für ihn gewesen. 

In dieser alten tschetschenischen Welt, aus der er kam, konnte man seine Schuld bereinigen und die Welt zurück ins Gleichgewicht bringen. Wer jemanden tötete, der zahlte mit Blut oder mit Hilfeleistung und Demut, wie sein Vater. Ojub fühlte sich schuldig für den Tod seiner Schüler und empfand es als seine Pflicht, andere Menschen zu retten, die unter den Folgen des Krieges litten. Er versuchte das Gleichgewicht wiederherzustellen in einer Welt, die vor seinen Augen zerbrach.

Kapitel 9
Natascha

Zum zweiten Wendepunkt in Ojubs Leben wurde der Tod Natascha Estemirowas, die ihn bei Memorial eingeführt hatte.

„Ojub saß in Kurtschaloi und Gudermes, den schlimmsten Gebieten in dieser Zeit. Er arbeitete dort still an gefährlichen Dingen“, erzählt Tatjana Lokschina. „Ich erinnere mich, dass Natascha sich sehr um ihn sorgte. Wenn sie jemanden an ihn vermittelte, betonte sie, dass man auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf ihn lenken durfte.“

Natascha war aus völlig anderem Holz geschnitzt und kam aus einer anderen Welt. Ich habe erst vor Kurzem bemerkt, dass sie etwas gemeinsam hatten: Beide waren Lehrer. Aber wahrscheinlich ist das zentrale Motiv von Ojubs Geschichte der Kontrapunkt ihrer beiden Charaktere.

Natascha war ein äußerst emotionaler und temperamentvoller Mensch. Zur Hälfte Russin, war sie in der Oblast Swerdlowsk aufgewachsen und hatte anschließend im russischsprachigen Grosny gelebt. Sie arbeitete als Geschichtslehrerin. Als Menschenrechtlerin hatte sie sich schon vor dem Beginn des ersten Krieges betätigt. Während des zweiten kam sie dann zu Memorial und wurde zu einer großen Unterstützerin von Anna Politkowskaja. Alle nannten sie Natascha.

„Natascha war eine vollkommen europäische Frau“, sagt ihre Freundin Tatjana Lokschina. „Sie hatte den Gang und die Haltung einer Ballerina. Ungeachtet aller Geldnöte versuchte sie, sich stilvoll zu kleiden. Während irgendwelcher Dienstreisen ins Ausland kaufte sie sich von den letzten drei Kopeken alle möglichen wunderhübschen Tücher. Sie sprach schlecht Tschetschenisch und fühlte sich dort natürlich nicht ganz zuhause.“ „Viele denken, dass Natascha die Leiterin von Memorial in Grosny war. Aber das stimmt nicht. Mit ihren Eigenschaften eignete sie sich nicht als Chefin“, sagt der damalige Vorsitzende von Memorial, Oleg Orlow. „Sie war der Motor, das Herz.“

„Nataschka war ein sehr ambitionierter Mensch mit starkem Antrieb“, erzählt Lokschina. „Sie war sich der Gefahr völlig bewusst, aber sie konnte nicht aufhören. Sie bewegte sich an den gefährlichsten Orten, manchmal auf geradezu verrückte Art. Ungerechtigkeit konnte sie beinahe physisch nicht ertragen. Und es war ihr sehr wichtig, aus erster Hand berichten zu können: ‚Ich habe es gesehen, ich war da, man hat es mir erzählt.‘ Schweigen war für sie wie ein Messer an der Kehle. Endlos wurde auf sie eingeredetet: ‚Natascha, das sind sehr wichtige Informationen, bitte veröffentliche sie nicht unter deinem Namen. Du bist verrückt, du sitzt doch da mittendrin‘.“

Ojub gab niemals Interviews, Natascha dagegen schon. Die Kollegen waren sehr wütend. Aber Natascha war ein zutiefst öffentlicher Mensch. Sie sah sich als Journalistin. Sie war eine der stärksten Unterstützerinnen Politkowskajas. Nach Anna [Politkowskaja]s Tod wollte die Novaya Gazeta ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen und sie schlugen Natascha vor, eine Kolumne zu schreiben. 

„Natascha kam nach Moskau“, erinnert sich Lokschina, „und hat mir das in der Küche in völliger Ekstase erzählt. Aber die Leitung von Memorial entschied aus Sicherheitserwägungen, dass das nicht ginge. Sie machten mit der Redaktion der Novaya Gazeta aus, dass diese Kolumne nicht unter Nataschas Namen laufen solle, sondern unter Memorial. Sie wurde völlig hysterisch, war zutiefst verletzt und weinte.“

Die endlosen Überzeugungsversuche halfen nicht im Geringsten. „Natascha, komm, du lebst dort mit einem kleinen Kind! Die Menschen sorgen sich doch nur um deine Sicherheit!“ Um ihr Töchterchen hatte Natascha panische Angst, aber sie konnte einfach nicht im Untergrund leben. 

„Als das mit der Kolumne nicht klappte“, fährt Lokschina fort, „fing sie an, Texte unter Pseudonym zu schreiben. Ich erinnere mich gut, wie sie anderthalb Jahre vor ihrem Tod wieder zu mir nach Moskau kam, ganz aufgekratzt und glücklich. Während ihres Fluges aus Grosny hatte sich ein Mitarbeiter des tschetschenischen Presseministeriums zu ihr gesetzt und ganz arglos zu ihr gesagt: ‚Natascha, hör mal, es gibt da diese Kolumne, in der Novaya Gazeta unter dem Namen Magomed Alijew. Ich erinnere mich an deine Texte im Grosnenski Rabotschi, die waren sehr ähnlich geschrieben. Sag mal, bist du das?‘. Und anstatt sofort in Deckung zu gehen: ,Na hör mal, wie kommst du denn darauf‘, blüht sie auf, und sagt mit einem breiten Lächeln: ‚Ach was? Du hast meinen Stil erkannt? Bin ich froh, dass ich gelesen werde.‘“

Ein Jahr vor ihrem Tod stauchte Kadyrow sie zusammen. Das war nach ihrem großen Interview bei REN TV darüber, dass Frauen gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. Das war eine für Natascha schmerzliche Sache. In jenem Interview hatte sie erklärt, dass sie selbst eine Tschetschenin sei und dass, wenn sie bei Gedenkfeiern oder religiösen Leuten zu Gast war, ihren Kopf natürlich auch bedeckte. Aber niemand habe das Recht, eine Frau dazu zu zwingen. 

„Kadyrow zitierte sie zu sich“, erinnert sich Lokschina. „Er brüllte sie zusammen und drohte ihr. Sie kehrte leichenblass zurück. Mir scheint, dass Kadyrow sie für eine Russin hielt, die als Angestellte von Memorial hier arbeitete. Aber aus dem Interview verstand er, dass sie eine Tschetschenin war, und dass er mit ihr machen konnte, was er wollte.“

Ich selbst habe nur einmal mit Natascha zu tun gehabt. Das war eine Woche vor ihrem Tod. Ich erinnere mich, dass sie sehr nervös war. Sie war mit einer Erschießung beschäftigt: Im Juli 2009 hatten Kadyrow-Milizen, die sogenannten Kadyrowzy, im Dorf Achkintschu-Borsoi öffentlich einen Bauern erschossen, weil er Rebellen einen Bock überlassen hatte.

„Sie warfen den krass Zusammengeschlagenen aus dem Auto, ein Haufen Fleisch. Er konnte praktisch nicht mehr sprechen, im Grunde konnte er gar nichts mehr“, erzählt Lokschina. „Sie erschossen ihn vor aller Augen, und sagten, dass so mit jedem verfahren würde, der den Rebellen hilft. Es spiele keine Rolle, ob du ein Schaf oder einen Brotkrumen gibst. Sie finden es heraus, und die Strafe wird fürchterlich sein. 

Wir hörten von dieser Geschichte ausgerechnet über Ojub. Wir fuhren ins Dorf und unterhielten uns mit den Leuten, und Natascha gab dem Kawkaski Usel ein Interview.“

Natascha nannte die Namen der Mitarbeiter der Polizeibehörde, die die Erschießung durchgeführt hatten. Bald darauf ließ Ojub die Kollegen wissen, dass die Situation ausgesprochen gefährlich sei. Wegen mindestens dreier Fälle von Entführung, Mord und Folter, die Natascha in jenem Moment bearbeitete, waren die Kadyrowzy sehr wütend auf sie.

„Ich fuhr hin um herauszufinden, was da gerade passiert“, erzählt Swetlana Gannuschkina. „Natascha war voller Angst, also entschieden wir, dass sie da raus muss. Aber sie bat uns um eine Woche. Wir hätten sie zwingen müssen direkt am nächsten Morgen abzufahren. Aber wir machten mit dem Innenministerium aus, dass sie nach Stawropol geht, um da unsere Datenbank der Verschollenen mit ihrer zu vernetzen. Und das war's. Natascha ging morgens aus dem Haus und bei dem Treffen mit den Beamten vom Innenministerium kam sie schon nicht mehr an.“

Das war der schrecklichste Morgen in der Geschichte von Memorial in Grosny.

„Wir fuhren los, um sie zu suchen, suchten die Gegend um ihr Zuhause ab“, erinnert sich Sokirjanskaja. „Und ausgerechnet die einzige Zeugin hatte gehört, wie ich mit den Marschrutka-Fahrern darüber sprach. Sie nahm mich zur Seite: ‚Fragst du nach Natascha?‘ Sie erzählte mir alles, zeigte mir den Ort, und stieg dann völlig verschreckt in eine Marschrutka.“

Sie hatten Natascha vor dem Haus abgefangen und sie in eine weiße Semjorka gezerrt. Es gelang ihr noch, zu schreien, dass man sie entführt. Mittags fand man Nataschas Körper mit Kugeln in Brust und Kopf in einem Waldstück nahe des inguschetischen Dorfes Gasi-Jurt.

„Ojub konnte damit einfach nicht leben“, sagt Lokschina. „Sie hatte ihn geschützt, für seine Deckung gesorgt. Und dann kam sie selbst um. Zurück blieb ein kleines Waisen-Mädchen.“

„Er wiederholte permanent: ‚Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen‘“, erinnert sich meine Schwester. „Weil symbolische Phrasen absolut nicht seins waren, ist das wörtlich zu verstehen. Es gab einen konkreten Anlass. Man hatte sie für Informationen ermordet, die er ans Licht gebracht hatte.“

Sie fingen Natascha vor dem Haus ab und zerrten sie in eine weiße Semjorka / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 10
Ein anderes Tschetschenien

Grosny wurde enorm gut wieder aufgebaut. Es kann durchaus mit Moskau mithalten – nichts von wegen Regionalhauptstadt. Schöne Straßen, alles wie geleckt. Ich war vor zehn Jahren hier. Fast die ganze Stadt, außer entlang der Hauptstraße, bestand aus Ruinen. Es schien als gäbe es in ganz Tschetschenien keine Wand, die noch aufrecht steht. Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich.

Wie Russland sieht es hier nicht aus. Die Architektur erinnert an Ankara oder Dubai. Frauen laufen in bunten Hidschabs herum. Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die der NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte. Russisch spricht auf den Straßen niemand, und russische Straßenschilder wirken ungewohnt vor dieser Kulisse.

Von den ersten Minuten an, den ersten Worten, der Intonation in Tschetschenien staune ich über diese Energie. Alles ist irgendwie gewaltig. Ein faszinierendes Volk, das ist sofort klar. Die Männer sind alle riesig, kantig, muskulös. Aber die Menschen sind höflich und entgegenkommend. Über den Putin-Prospekt, der in den Kadyrow-Prospekt übergeht, schlendern zwischen Wolkenkratzern Scharen russischer Touristen mit Reiseführern.

Dabei fühlt es sich sofort so an, als hätte sich irgendwas an der Atmosphäre stark verändert. Es ist ein anderes Tschetschenien. Früher, zwischen den Ruinen, als um einen herum unaufhörlich Menschen verschwanden, ließ es sich deutlich freier atmen.

„Während des Krieges, in den schlimmsten Momenten, kamst du in irgendein Dorf, und es stürmten sofort Leute auf dich zu, du wusstest nicht, wie dir geschieht“, erzählt Lokschina. „Man hat dich quasi auseinandergerissen, egal wer du warst – Journalist, Menschenrechtler, Moskauer, Ausländer. Hauptsache ein Mensch aus einer anderen Welt, dem kann man was erzählen. Die Menschen hatten ein unglaubliches Bedürfnis zu reden. Und danach, innerhalb der letzten sechzehn Jahre, ist das alles vor unseren Augen kollabiert. 
Die Menschen begannen, vorsichtiger zu reden und immer weniger. ‚Ich erzähle dir etwas, aber erwähne mich nirgendwo, nenne bitte nicht mal das Dorf. Ansonsten zählen die sofort eins und eins zusammen.‘ Oder: ,Hör mir zu, aber erzähle das niemandem weiter.‘ 
Irgendwann waren immer weniger Menschen bereit, überhaupt zu reden. Denn was wäre, wenn sich jemand verplappern würde.“

„Ich erinnere mich, wie einmal zwei Greise zu mir kamen, beide trugen eine Papacha“, erzählt Sokirjanskaja. „Sie kamen aus einem entfernten Dorf, früh am Morgen. Um was es ging, werde ich nicht konkretisieren. Sie erzählten mir lange ihre Geschichte. Und dann sagen sie: ‚Bitte veröffentlichen Sie nichts davon, das darf absolut nirgendwo erwähnt werden.‘ Ich sage: ‚Weshalb haben Sie dann so viel Zeit aufgewendet, hierher zu kommen?‘ ‚Wir wollten, dass Sie wissen, wie es hier tatsächlich zugeht. So wissen wenigstens Sie es.‘“

„Die Angst ist jetzt wesentlich größer als damals, als die Soldaten in die Dörfer kamen und sich alle der Reihe nach schnappten“, sagt der Memorial-Mitarbeiter Oleg Orlow. „Ich weiß noch, wie wir Anfang der 2000er wegen der Säuberungen rausgefahren sind. Ojub und ich wunderten uns: ‚Was machen die da?!‘ 
Sie pickten sich die nächstbesten Männer raus, warfen sie in die Zelle und verprügelten sie der Reihe nach. Dabei fragten sie: ‚Wo ist Schamil Bassajew?‘ Woher soll denn irgendein Bauer wissen, wo Schamil Bassajew ist? Sie stellten die idiotischsten Fragen, allen dieselben. Uns kam es vor, als wären sie einfach nur dumm und unkreativ. Und erst später wurde uns klar, dass das eine ausgeklügelte Taktik, beziehungsweise Strategie war. Sie wussten, dass sie von diesen Leuten keinerlei Information bekommen würden. Es ging darum, sie zu brechen.“

„Der Wahrheitsgehalt von Informationen interessierte sie gar nicht so sehr. Unter Folter schreist du irgendeinen Namen heraus: ‚Ja, ja, der ist ein Rebell!‘ In der Nacht holen sie diesen Menschen dann ab, und er verschwindet, während du und deine Familie von da an ihre Geiseln seid. Sie sagen dir: ‚So, Kumpel, du bist doch derjenige, der ihn angeschwärzt hat. Wir können ihnen das stecken, dann fließt nicht nur dein Blut, sondern auch das deiner Familie. Denk an deinen Sohn, an deinen Bruder, deine Neffen.‘ Auf diese Weise haben sie Anfang der 2000er ein Netz von Informanten aufgebaut“, erklärt Orlow. „Und dann die illegitime Gewaltausübung auf tschetschenische bewaffnete Gruppen übertragen. Gleichzeitig übergaben ihnen die Föderalen ein Netzwerk von Informanten. Über dieses Netzwerk konnten sie Stück für Stück, Jahr für Jahr eine ungeheure Atmosphäre der Angst etablieren. Heute verschwinden bedeutend weniger Menschen, aber die Angst ist größer als je zuvor. Jeder denkt, dass die Macht alles über ihn weiß.“

Vor zehn Jahren war Tschetschenien buchstäblich gespickt mit russischen Militärbasen. Überall waren Checkpoints, BTR Panzer, Stacheldraht, Sandsäcke und ausgeblichene Armeezelte. Jetzt ist all das wie vom Erdboden verschluckt. An ihrer Stelle wurden tschetschenische Bartträger herangekarrt, behangen mit teuren importierten Waffen, der Blick düster. 
Ramsan liebt es zu wiederholen, dass er über eine starke Armee verfügt. Das ist keine leere Prahlerei: Unter seinem Kommando stehen ungefähr 12.000 Silowiki. Formell dienen sie dem Innenministerium, aber sie führen ausschließlich die Befehle Kadyrows und seines Umfeldes aus. Wie schlagkräftig diese Armee wirklich ist, lässt sich schwer sagen, aber das Volk ist angesichts ihrer starr vor Angst. Den Namen ihres Chefs sprachen meine Gesprächspartner lautlos aus, mit einer bloßen Lippenbewegung.

Markt in Grosny, September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza

„Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza

„Grosny kann durchaus mit Moskau mithalten – schöne Straßen, alles wie geleckt“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza

Wo der Blick in Grosny auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton  / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 11
Besessenheit

Der damalige Chef von Memorial nannte Ramsan Kadyrow nach Estemirowas Tod einen Mörder. 

„Weshalb sollte Kadyrow eine Frau umbringen, die niemandem etwas nützt? Sie hatte weder Ehre noch Würde noch Gewissen“, erwiderte Ramsan.

Weniger als zwei Monate nach Nataschas Tod entführten Sicherheitsorgane zwei Freunde der Memorial-Leute, Sarema Sadulajewa und Alik Dschabrailow. Sie waren Mitarbeiter der Organisation Wir retten eine Generation, die Kindern und Jugendlichen half, die Opfer des Krieges geworden waren. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen mit Foltermalen im Kofferraum ihres Autos. Das Büro von Memorial in Grosny wurde geschlossen, sein Leiter Schachman Akbulatow musste emigrieren.

Seine Ermittlungen zu den Morden beendete Ojub ziemlich schnell. Wir sahen uns wenige Monaten danach, und er kannte schon sämtliche Namen und Umstände. Aber die Untersuchungskommission hatte nicht vor, die Mörder zu suchen. Sie zu finden wäre nicht schwer gewesen. Natascha hatte mit ihren Entführern gekämpft, und unter ihren Fingernägeln waren DNA-Rückstände haften geblieben. Aber die Moskauer Fahnder dazu zu bewegen, Proben bei den Kollegen in Kurtschaloi zu nehmen, war unrealistisch. Einer Sache nachzugehen, die zu den Untergebenen von Kadyrow führen konnte, war ihnen verboten. Stattdessen versuchten die Fahnder die Beweise zu fälschen, und die Tat Rebellen unterzuschieben, die schon bald nach Nataschas Tod getötet wurden. 
Eine echte Ermittlung konnte Memorial nicht erreichen, aber Ojub und seine Kollegen sammelten unumstößliche Beweise für die Hinfälligkeit dieser Version. Die Untersuchungskommission war ratlos, die Ermittlungen liefen auf. Man untersucht den Fall bereits seit neun Jahren.

Keiner wusste, wie weiter. Die Arbeit von Memorial wiederaufzunehmen, bedeutete, bewusst das Risiko einzugehen, dass es noch mehr Opfer geben könnte. Aber die Kollegen in Grosny entschieden sich dafür.

„Ojub sagte, dass es in diesem Moment geradezu ein Verbrechen von unserer Seite gewesen wäre, die Arbeit einzustellen“, erinnert sich Orlow, „dass wir es Natascha schuldig seien, und dass all die Leute völlig hilflos wären, wenn wir aufhörten. ‚Wozu waren wir all die Jahre hier, wenn wir jetzt gehen?‘ Er setzte sich konsequent für die Offenhaltung des Büros ein und schließlich setzte er sich durch.“

Es stellte sich die Frage, wer die Leitung übernimmt. Niemand traute sich.

„Aber Ojub erklärte sich bereit, blieb dabei auch ganz ruhig“, erinnert sich ein Kollege, „obwohl er es weit hatte von Kurtschaloi. ‚Was soll’s, ich werde fahren.‘ Er kam morgens an, und abends fuhr er als einer der Letzten.“

„Ojub war schon früher äußerst motiviert, aber nach Nataschas Tod, glaube ich, wurde das zu Besessenheit“, sagt Lokschina. 

Es ist kaum vorstellbar, wie schwer es Ojub damals gehabt haben muss. Er hatte doch die ganze Zeit Vergebung erfleht, jahrelang Steintafeln graviert. Und dann war schließlich ein Mensch aufgetaucht, der ihm half. Sie erfüllte sein Leben mit Sinn, lehrte ihn, etwas wahrhaft Wichtiges zu tun, womit er seine Schuld tilgen konnte. Er begann Natascha zu helfen, gab sich die größte Mühe. Und sie brachten sie um.

„Ich kam aus Dagestan und traf mich mit Ojub. Der Friedhof war neben der Straße, auf einem Hügel“, erzählt Sokirjanskaja. „Wir fuhren an ihrem Haus vorbei, liefen über den Friedhof. Man drückt die Handfläche in die Erde, hinterlässt einen Handabdruck, so machen die Tschetschenen das, und danach verlässt man den Ort wieder.“

„Zum Jahrestag von Nataschas Tod gab es diese tschetschenische Tradition des Sadaqa. Man schlachtet ein Tier, und das Fleisch wird den Armen gegeben“, erinnert sich Lokschina. „Ojub kümmerte sich um den Kauf eines Ochsenkalbes. An so einem traurigen Tag eine schwere Aufgabe, meint man. Aber es war geradezu erhellend, ihm zuzusehen. Wie er Geld sammelte, dann dieses Ochsenkalb aussuchte, allen Bildern davon schickte, was für ein tolles Kalb er für dieses Geld gekauft hatte. Darin war er ganz er selbst, er blühte geradezu auf.“

In Ojubs Welt konnte die Opfergabe Erleichterung bringen. Aber jene Welt gab es nicht mehr und das Ochsenkalb konnte daran nicht viel ändern. Den Großteil der Schuld hatte Ojub auf sich genommen. Er war bereit, die Verantwortung für alle zu tragen, und zum Objekt der Rache zu werden.

Kapitel 12
Per Anhalter durch Tschetschenien

Nachdem ich mit Freunden und Verwandten von Ojub gesprochen hatte, bereitete ich mich schon auf die Abreise vor. Aber dann spürte ich, dass mir irgendetwas fehlte. Ich hatte das echte Tschetschenien nicht gesehen, außerhalb der Politik und des vorliegenden Themas. Ich ließ meinen Computer bei Freunden zurück, schnappte mir ein altes Nokia mit lokaler SIM-Karte, stellte mich an den Straßenrand und hob den Daumen. 

Per Anhalter durch Tschetschenien zu reisen ist wunderbar. In den Dörfern, besonders in den Bergen, atmet man sofort freier. Die Menschen sind wesentlich entspannter, keine dieser garstigen Blicke der Bärtigen, ohne diese trügerische, an Dubai erinnernde Atmosphäre und die teuren Karren, der Anschein des reichen Bergbewohners. 

Man musterte mich mit freundlicher Verwunderung, denn Touristen kommen hier sonst nicht her. Meistens dachte man, ich sei ein Soldat, der auf seine Basis zurückkehrt. Einige Male erntete ich schiefe Blicke, aber die überwiegende Mehrheit der Menschen nahm meine Ankunft sichtlich erfreut auf. 
Und dabei geht es nicht nur um die Gastfreundschaft. In den Blicken und dem Lächeln stand etwas geschrieben: „Siehst du, am Ende haben wir uns doch noch versöhnt.“ So als wären wir noch in der Sowjetunion, als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Menschen könnten einander einfach so besuchen. 

Wenn du über Tschetschenien erzählst, spürst du als Reporter schnell deine eigene Eindimensionalität. Du fängst an über Entführungen, Folter und Mord zu erzählen und es kommt ein Horrorfilm über die Zeit des Tschetschenienkrieges dabei heraus. Und direkt neben dir steht eine schöne, moderne Stadt, in der alles wunderbar ist und normale Menschen leben. Wenn du über die Angst schreibst, lassen sich die hübschen Springbrunnen nur schwer erwähnen oder aber die Tatsache, dass sich die Menschen hier an der Ruhe erfreuen. Und wenn du dann von den Springbrunnen, den Kaffees und der Wohltätigkeit Ramsans erzählst, ist es schwer, sich daran zu erinnern, dass sich hinter all dem menschenverachtende Sklaverei verbirgt.

„Bei uns im Dorf gibt’s so einen Alleskönner, der machte früher LKW-Reparaturen. Bei ihm ist’s wunderschön. Es gibt Wald, Berge, Flüsschen. Zu ihm kommen die Leute häufig, um sich zu erholen. Er baute Häuser, unterhielt einen Gemüsegarten und ein bisschen Vieh. 
Der Ort gefiel jemandem aus Zentaroi, dem Heimatort der Kadyrows. Er bot ihm an, ihn zu kaufen, aber er lehnte ab. Als er gerade nicht auf dem Bauernhof war, kamen sie an, zerlegten alle seine Maschinen, nahmen sie mit und versetzten sie als Altmetall. Im Anschluss boten sie ihm noch einmal an zu verkaufen. Diesmal zu einem Drittel des Preises. Er sagt: ‚Nehmt ihn euch doch einfach so, aber ich werde euch das niemals verzeihen.‘ Da kamen sie und schlugen ihn zusammen. Er hatte Glück, dass er am Leben blieb.“

„Man hat entschieden, ein Einkaufszentrum im Dorf zu bauen. Dazu nahmen sie mir einfach mein Grundstück. Keinerlei Kompensation, was denkst du denn! Sie haben eine Abmachung mit der lokalen Führung, mehr brauchen sie nicht. Ja, vor welches Gericht denn!? Weißt du, diese Typen kommen an, sacken dich ein und schlagen dann das gesamte Gericht kurz und klein.“

„Ein Verwandter von mir ist ein hohes Tier in der Verwaltung. Ungefähr 60 Millionen Rubel [etwa 790.000 Euro – dek] zahlen sie jedes Jahr an Chosi-Jurt, unser Bezirk ist klein. Alle zahlen: Institutionen, Organisationen, sämtliche Abteilungen aller Bezirksämter. Sie rechnen fiktive Pensionen ab, Kompensationen, halten Karteileichen in den Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten.“

„Ende April 2018 hielt Kadyrow eine Sitzung ab, auf der er an der Arbeit der Stadtplanung und Haushaltversorgung auf Kosten der Bevölkerung Kritik übte. Das Volk zuckte zusammen: Jetzt geht's los. 
Buchstäblich am darauffolgenden Tag machten sie sich auf, um die Schulden für die Gasversorgung einzutreiben. Ein, zwei Kontrolleure, ein Schweißer und ein Polizist. Sie forderten die sofortige Begleichung irgendwelcher alter Rückstände laut fiktiver Rechnungen. Konnte man nichts vorlegen, wurde das Gas sofort abgedreht. Zahlte einer nicht, wurde das ganze Haus vom Netz genommen: ‚Bewegen sie ihren Nachbarn dazu zu zahlen, dann schalten wir wieder ein.‘ Und die Einschaltung erfolgte nur über das Bürgermeisteramt, entweder über einen Berg von Formularen, oder durch Bestechung.“

Offen redet selbstverständlich niemand über all das. Aber wenn man ein Weilchen mit dem Fahrer gequatscht hat, irgendwo zum „Tee trinken“ angehalten hat (das heißt: bis zum Erbrechen vollgestopft wurde), und zwischendurch eine unschuldige Frage à la „Für wie viel Geld kann man sich bei euch das Recht kaufen?“ stellt, dann wirst du mit größter Wahrscheinlichkeit einige solcher Geschichten zu Ohren bekommen. 

Ist das wirklich noch Russland? Tatsächlich ist die Situation hier eine andere. Es handelt sich nicht so sehr um die totale Korruption, als um ein System der illegalen Besteuerung. Der Großteil des Geldes versinkt nicht in irgendwelchen Manteltaschen, sondern fließt nach oben, in den Achmad-Kadyrow-Fonds, eine Nebenkasse des Regimes. 
Dieser Fonds ist niemandem außer Ramsan unterstellt. Laut Kommersant existiert in der Datenbank des Justizministeriums keine einzige Abrechnung seit Gründung des Fonds, obwohl nicht-kommerzielle Organisationen laut Gesetz zu ihrer regelmäßigen Bereitstellung verpflichtet sind. Zusätzlich verfügt der Fonds über gigantische Unternehmenswerte, ist Gründer der bedeutendsten Firmen von Grosny, und kontrolliert, wie der Kommersant schreibt, den Großteil tschetschenischer Immobilien. 

Jeder Tschetschene gibt von seinem Einkommen monatlich seinen Anteil an den Fonds ab, zehn bis dreißig Prozent. Jedes Unternehmen, ob staatlich oder privat, muss dorthin eine gewisse Summe entrichten. Wie, das ist ihr Problem. Ramsan verteilt diese Gelder dann unter dem Anschein großer Barmherzigkeit an Bedürftige, oder staffiert seine Kämpfer damit aus. 

Natürlich versickert davon auch etwas bei Mittelsmännern, sonst würde das System nicht funktionieren. Aber im Großen und Ganzen ist es Zentaroi, das sich um die Disziplin kümmert. Jeder weiß, was ihm bei Ungehorsam droht. Im besten Falle wird man sofort entlassen, im Schlimmsten kommen sie, sammeln dich ein, ketten dich an den Heizkörper und schlagen dich solange, bis deine Verwandten alles bezahlt haben, was du ihnen schuldest, oder noch mehr. (Wie dieses System funktioniert, hat Jonathan Littell sehr klar und ausgewogen in seinem Buch Tschetschenien. Jahr III beschrieben. Ich empfehle es jedem.)

De facto gelten die Gesetze der Russischen Föderation in Tschetschenien nicht. Das heißt jedoch nicht, dass es gar kein Gesetz gibt. Was existiert und strikt ausgeführt wird, ist der Wille Ramsans. 
Die Unterordnung des nominalen unter das reale Gesetz wird tagtäglich demonstriert, aber das vermutlich deutlichste Beispiel liegt zwei Jahre zurück. Kadyrow hatte dem Vorstand des Obersten Gerichtshofes der Republik, der von Moskau ernannt wird, befohlen, in den Ruhestand zu treten. Aber der stellvertretende Vorsitzende Tachir Murdalow weigerte sich, den Befehl auszuführen. Die Angelegenheit endete damit, dass Lord (Magomed Daudow, die rechte Hand Ramsans) persönlich zum Obersten Gerichtshof fuhr, und dessen Vorsitzenden öffentlich zusammenschlug.

Es gibt eine inoffizielle Abmachung: Moskau mischt sich nicht in die Regierungsangelegenheiten Tschetscheniens ein, im Austausch für die formelle Anerkennung der russischen Souveränität. Russland kann und will die hier begangenen Verbrechen nicht aufklären.

Auf der anderen Seite ist die Gruppe, die die Macht an sich gerissen hat, zur Geisel ihres eigenen Sieges geworden. Was bedeuten tausende Verschleppte, Gefolterte und Ermordete? Dass die Kadyrowzy tausende Todfeinde haben. Das erlaubt es dem Regime nicht, auch nur einen Moment zu schwächeln. Sie können sich nicht entspannen, Pfunde ansetzen oder ihre Kinder nach London schicken. Sie sind gezwungen, sich aneinanderzuklammern und die Atmosphäre der Angst in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, auf dass auch nicht nur ein Gedanke an Rache aufkommt. Sie können es sich nicht erlauben, die Macht abzugeben. 
Dabei verstehen sie, dass Moskau sie nur solange duldet, wie sie die Islamisten im Griff haben. Und diese Strömungen gibt es in Tschetschenien. Der staatliche Terror provoziert sie natürlich selbst und hält sie gleichzeitig davon ab, zu eskalieren. Was dabei herauskommt, ist ein alptraumhafter Knoten, der sich immer fester zuzieht.

Spielende Kinder in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Links – Verkäufer auf einem Markt in Grosny, rechts – Gold- und Devisenhändler an einer Bushaltestelle in Grosny / Fotos © Dmitry Markov für Meduza

„Offen redet selbstverständlich niemand über all das“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza

„Du erzählst über Entführungen, Folter und Morde, und direkt neben die steht eine wunderschöne Stadt, in der normale Menschen leben“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 13
Die Verwandten

Ramsan Kadyrow erklärte mehrmals, wenn Jugendliche in den Bergen verschwinden, um sich den Separatisten anzuschließen, dann müsse man ihre Familien dafür zur Verantwortung ziehen. Die tschetschenische Polizei ging dazu über, die Häuser von Verwandten niederzubrennen. Auf die Rufe der Menschenrechtler antwortete Moskau nicht. Und schon bald weitete sich das Prinzip der kollektiven Verantwortung auf alle aus. 

„Jeden Monat erreichen mich dutzende Briefe aus Tschetschenien“, erzählt der Leiter des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin. „Und jedes Mal kommt es zu ein und demselben Gespräch: ‚Ihr Sohn ist seit vier Tagen weg, das heißt, dass man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gerade foltert. Beim nächsten Mal werden Sie ihn im Gerichtssaal sehen, wo er sich zur Vorbereitung eines Terroranschlags bekennt. Wir können Ihnen einen Anwalt aus Zentralrussland schicken, der innerhalb eines Tages herausfindet, wo ihr Sohn steckt und ein Treffen mit ihm erwirkt.‘ 
Aber die Leute lehnen das ab. Sie haben Angst um andere Familienmitglieder. Warum sie mir schreiben, verstehe ich nicht.“

„Man hat eine Anzeige, die Zeugenaussage dieses Menschen“, sagt eine andere Memorial-Kollegin von Ojub, „auf Video. Aber dann sagt er plötzlich: ‚Nein, ich habe denen das nur vorgelogen, ich habe gar nichts gesagt, die haben sich das alles ausgedacht, um den ehrlichen Namen von Ramsan Achmatowitsch Kadyrow zu besudeln.‘“

„Weißt du, was für mich echt einschneidend war? Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist. Aber dann sind wir bei einem Bekannten Zuhause zu Gast, und bei ihm an der Wand hängt ein Porträt von Kadyrow“, erinnert sich Lokschina. „Du kennst einen Menschen viele Jahre lang, seine Einstellung zu Ramsan Kadyrow ist dir ebenfalls wohlbekannt. Du schaust dir das Porträt an und fragst gar nicht erst. Aber er spricht es selbst an: ‚Du weißt, ich habe eine Familie, Kinder …‘“

Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste jeder Tschetschene, dass er unter dem Schutz der Familie und des Taips stand. Und er selbst lebte nach ihren Interessen, verteidigte ihre Ehre, war bereit sein Fleisch und Blut zu verteidigen. Das war das grundlegende Weltbild, Selbstachtung, das ganze Leben. 
Der Zusammenbruch dieser Ordnung war für Ojub eine Tragödie. Die fundamentalen Gesetze seines Universums verloren vor seinen Augen ihre Wirkung. Die Menschen begannen, an etwas anderes zu glauben. Das Alte wurde überall ersetzt durch hohe Minarette und funkelnde Jeeps. 

In Grosny ist all das natürlich schwer zu bemerken. Wo der Blick auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton. Was fühlen die Menschen dort? Ich vermute, alles zugleich: Erniedrigung, Angst, Liebe zum großen Bruder, Stolz auf seine Errungenschaften, Freude über das Leben in Frieden.

„Am Ende sind wir doch unverwüstlich!“, erzählt mir eine Bekannte aus Grosny. „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen, anstatt die ganze Zeit ans Überleben denken zu müssen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen.“

„Was soll man machen, wenn sich um einen herum alle mit dem abgefunden haben, was passiert?“, überlegt Tscherkassow. „Es hat sich gezeigt, dass schon das Sammeln von Informationen ein Weg ist, das Leben in diesem Irrsinn mit Sinn zu füllen.“

Kapitel 14
Hyperverantwortlichkeit

Nachdem er die Leitung von Memorial in Grosny übernommen hatte, veränderte Ojub die Arbeitsmethodik grundlegend. An erster Stelle stand nun die Sicherheit. Keiner der Mitarbeiter veröffentlichte mehr unter seinem Namen, keiner gab mehr Interviews oder trat irgendwo öffentlich auf. Sämtliche Informationen flossen ausschließlich nach Moskau. Die Mehrheit der Journalisten, darunter auch ich, wussten gar nicht, dass Memorial seine Arbeit vor Ort überhaupt fortsetzt. Nataschas Ära war vorbei, und es begann die Ära Ojubs. Die jetzt vermutlich auch vorbei ist. 

„Wer nicht über kommunikative Weisheit verfügt, hat sich bei uns nicht lange gehalten“, sagt Sokirjanskaja. „Du musst in der Lage sein, manchmal mit hochrangigen Beamten zu kommunizieren, musst aber auch das Vertrauen einfacher Leute gewinnen. Und die schreien manchmal, ticken aus, stellen erstmal Forderungen, ziehen Anzeigen wieder zurück, oder lassen dich einfach im Stich. Die Situation ist gefährlich, alle riskieren etwas. Und Ojub war in dieser Hinsicht ein Virtuose. Er kann mit Menschen reden, sie beruhigen, den richtigen Ton treffen, man spürt, dass man ihm vertrauen kann.“

„Ojub machte seine Arbeit sehr leise, schweigend. Er rannte nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erklärt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er gab niemals Interviews. Denn ein Journalist ist ein Mensch von außerhalb, der die örtlichen Besonderheiten nicht kennt. Er tut, was er für richtig hält. Aus redlichen Absichten heraus denkt er, dass es am besten ist, zu publizieren. Aber tatsächlich kann die kleinste Information den Kadyrowzy von Nutzen sein.“

„Ojub sagte uns niemals, woher er was hatte. Er sagte einfach: ‚Ich hab’s raus.‘ Er telefonierte mit jemandem, sagte: ‚Wir müssen uns treffen‘, und fuhr los. Und natürlich vertraute er keinerlei Technik.“

Ojub war absolut frei von persönlichen Ambitionen. Ich denke, zum Teil deshalb, weil in der Bergwelt, aus der er kam, das Individuum überhaupt nicht wichtig ist. Der Mensch kümmerte sich um das Überleben seines Geschlechts und versucht selbst so zu leben, wie sein Vater und Großvater. 
Für Ojub war es von höchster Bedeutung, ein echter Tschetschene und guter Muslim zu sein. Aber persönliche Ambitionen lagen einfach außerhalb seiner Begriffswelt. Er war nicht frei von der Meinung der Gesellschaft, aber seine Gesellschaft war eine andere. Der Respekt der anderen Dorfbewohner hat ihn höchstwahrscheinlich sehr beschäftigt.

„Ojub achtete darauf, dass wir Mädels nicht alleine im Büro blieben“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er ging immer als letztes. Wenn er ging, sagte er den anderen: ‚Geht nicht, bevor die Mädels nicht weg sind.‘ Wenn sich jemand verspätete, rief er sofort an und fragte, was bei ihm los ist.“

„Zu behaupten, dass die Menschenrechtsarbeit meine Berufung und Leidenschaft ist“, schrieb Ojub vor kurzem in einem Brief an Soja Swetowa, „wäre nicht die Wahrheit. Ich empfinde mich nicht als glücklich, und ich gehe nicht meiner Leidenschaft nach. Ich würde viel lieber Kinder trainieren.“

 „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat / Fotos © Dmitry Markov für Meduza

„Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 15
Die Jahrhunderthochzeit

„Normal zu arbeiten, also loszufahren und mit Leuten zu sprechen, wurde außerhalb der Grenzen deines Umfeldes praktisch unmöglich, die immer enger und enger wurden“, sagt Sokirjanskaja. „Du hast Angst um die Menschen, denn sie werden Probleme bekommen, und deine Freunde haben Angst um dich. 
Ojub ließ mich nicht mal im Büro allein, selbst aus dem Auto ließ er mich nicht aussteigen. Sehr sanft und unaufdringlich. Man würde ihm ja aus Respekt nicht widersprechen.“

Im Januar 2015 verwüsteten bewaffnete Maskierte das Büro von Memorial in Gudermes.

„Ich dankte Allah, dass Ojub in diesem Moment nicht auftauchte!“, sagt eine Mitarbeiterin. „Auch wenn es sieben Leute waren, er wäre garantiert auf sie losgegangen. Ich habe ihn direkt angerufen, nachdem sie weg waren. Er stand sofort vor der Tür. Es kam mir vor, als hätte er von Grosny hierher nur zwanzig Minuten gebraucht.“

Eins nach dem anderen beendeten die Memorial-Büros in Sernowodsk, Urus-Martan und Gudermes ihre Arbeit.

„Die Büros schlossen aus unterschiedlichen Gründen“, sagt Tscherkassow. „Unter anderem auch deshalb, weil irgendein Mitarbeiter ein schlechtes Bauchgefühl hatte. Es ist ja nicht schlecht, wenn ein Mensch versteht, dass unter diesen Zeichen keine Arbeit mehr möglich ist. Niemand zwingt dich zu Kamikaze. Naja, also war Grosny jetzt unsere letzte Bastion.“

Viele Mitarbeiter verließen Memorial und wechselten in andere Bereiche.

„Einer sagte, dass er nicht gegangen sei, weil er um sich selbst Angst hatte“, erzählt meine Schwester. „Memorial könne einfach nicht mehr so arbeiten wie früher. Er müsse von Kritik an den Machthabern absehen, vor Kadyrow kuschen. Er hatte das Gefühl, dass es keinen Sinn hat weiterzumachen.“

„Früher hast du die Resultate deiner Arbeit gesehen“, erzählt eine Memorial-Mitarbeiterin, „sie ließen jemanden frei, und man erreichte wenigstens ein wenig Gerechtigkeit. Aber in der letzten Zeit kann man gar nichts mehr machen. Direkt neben unserem Büro hielten sie einen Wagen an, schnappten sich einen jungen Kerl, und nahmen ihn mit. Es ist ein Teufelskreis: Es gibt einen Haufen Information, aber du kannst sie nicht verwenden.“

Ojub hatte aus irgendeinem Grund gar keine Zweifel. Und das obwohl er all die Jahre am Abgrund entlang balanciert war.

„Tatsächlich wurde Ojub mehrmals gewarnt“, sagt ein Kollege. „Sie gabelten ihn auf und nahmen ihn mit in die Polizeidienststelle. Ojub erzählte nie, mit was konkret sie ihn dort bedrohten, aber ich kann es mir vorstellen: ‚Entweder hörst du damit auf, gegen uns zu agitieren, oder dich gibt’s bald nicht mehr.‘ 
Er wusste ganz genau, dass sie Mörder sind, dass sie jeden Moment seine Kinder holen könnten. Damit hat er viele Jahre gelebt.“

„Ich hab’s irgendwann aus ihm herausgebracht, er hat’s mir erzählt“, sagt Sokirjanskaja. „Sie sagten ihm, dass sie ihn umbringen, dass er sein letztes Wort gesprochen hat. 
Aber damals wollte er das nicht erzählen. Selbst die Moskauer wussten davon nichts. Er hat es nicht erzählt, weil er Angst hatte, dass man Memorial in Tschetschenien schließen würde.“

„Es gab viele riskante Situationen“, erzählt Elena Milashina. „Aber ich hielt mich immer an das folgende Prinzip: Wenn Ojub ‚stopp‘ sagt, dann hören wir auf. Außer in einem einzigen Fall, dieser verfluchten Jahrhunderthochzeit. 
2015 kamen Verwandte von Luisa Goilabijewa aus dem Dorf Baitarki auf mich zu. Der Chef der örtlichen Polizeibehörde, Naschut Gutschigow, wollte ein 17-jähriges Mädchen zu seiner zweiten Frau machen. Er war dreimal so alt wie sie. 
Ihre Familie bat uns, darüber zu schreiben. Sie baten Kadyrow, einzuschreiten, denn er hatte Ehen mit Minderjährigen verboten. Ich schrieb, aber Ramsan Achmatowitsch reagierte mit ‚Leck mich am Arsch!‘, und entschied, eine Show daraus zu machen: ‚Die Jahrhunderthochzeit‘. Aber ich musste mit diesem Mädchen sprechen, deswegen fuhr ich hin. 
Ojub war ja spezialisiert auf die bergigen Bezirke, die man nur schwer erreichte. Ich ging zu ihm. Er sagte: ‚Du kannst da nicht hinfahren‘. Ich sagte: ‚Ojub, ich verstehe, dass ich nicht sollte, aber ich werde zum ersten Mal nicht auf dich hören, weil ich muss.‘ 
Ich entschied über Dagestan zu fahren, weil es dort sicherer war und so eine Chance bestand, noch bei Tageslicht zurückzukehren. Morgens früh klingelte mein Telefon. Ojub stand schon am Posten zwischen Tschetschenien und Dagestan. ‚Ohne mich wirst du nicht fahren!‘“

„Ihm war klar, dass ich in jedem Fall fahren würde. Ein zweites Mal das durchmachen, was mit Natascha passiert war, das konnte er nicht“, fährt Milashina fort. „Wir aßen Fladenbrot und fuhren durch die wunderschöne Berglandschaft. Ojub hatte einen Plan. Naja, und der erste Mensch, an den wir uns in Baitarki diesem Plan entsprechend wandten, verriet uns an Kadyrow. Das war uns nach buchstäblich zwei Sätzen klar. 
Trotzdem fuhren wir zu den Goilabijews. Luisa rannte vor uns weg, ihr Vater ebenfalls. Wir sprachen mit ihrer Schwester und fuhren zurück. Da bemerkten wir, dass wir verfolgt wurden. Wie wir in diesem Lada Kalina die Serpentinen entlang gejagt sind! Es regnet, wir nehmen eine Kurve nach der anderen, und da kommt ein Abhang und Erde rieselt in einem fort hinunter. Nun ja, eine ziemlich lustige Fahrt war das mit ihm ... 
Als wir in Grosny ankamen, war es bereits spät in der Nacht. Und Ojub bekam sofort Anrufe: Man warnte ihn, dass er sofort aus Tschetschenien verschwinden müsse.“

Nach der Sache in Baitarki blinkte der rote Alarmknopf wie verrückt. Ramsan und Lord rasten vor Wut. Memorial brachte Ojubs Frau und Kinder umgehend aus Tschetschenien weg, nach Moskau und dann nach Schweden. Ojub verbrachte dort drei Monate mit ihnen und kehrte dann zurück. Ein Leben außerhalb von Tschetschenien und seiner Arbeit konnte er sich nicht vorstellen. 

In die Einzelheiten seiner Arbeit weihte Ojub seine Familie nie ein.

„Wir dachten, er macht einen ganz normalen Beamtenjob“, sagt seine Schwester. „Alles war so offiziell, die Organisation hatte einen guten Namen. Memorial arbeitet ja nicht nur in Tschetschenien, sondern überall. Deswegen waren wir nicht beunruhigt.“

„Die Familie war sich nicht bewusst, wie ernst die Lage war“, erklärt ein Kollege. „Ansonsten wären sie natürlich nicht zurückgekehrt. Ich erinnere mich an diese Unterredungen. Ojub sagte ihnen ‚Nein‘, aber sie verstanden nicht. ‚Du wohnst doch auch zu Hause. Das wollen wir auch.‘“

Ein halbes Jahr später kehrten sie zurück. Sie ließen einfach alles stehen und liegen, flogen zu Ojub und pfiffen auf ihren Flüchtlingsstatus.

Kapitel 16
Zwei Kapitäne

Dass das tschetschenische Memorial nach Nataschas Tod neun Jahre durchgehalten hat, ist ein echtes Wunder. Das hat zum Teil auch damit zu tun, dass an Ojubs Seite 2010 völlig unerwartet ein Mitkämpfer auftauchte.

Igor Kaljapin erinnert an eine Bulldogge – stämmig, ernst, furchtlos und mit eisernem Händedruck. Er hatte Physik studiert, wurde während der Perestroika aufgrund seiner Teilnahme an den Studentenprotesten aus der Universität ausgeschlossen und war in den 1990er Jahren als Geschäftsmann in Nishni Nowgorod tätig. Er wurde unter falschem Vorwand verhaftet, und unter schwerer Folter holte man ein Geständnis aus ihm heraus. Nach seiner Freilassung gründete Igor das Komitee gegen Folter und wurde als Menschenrechtler aktiv. 

Stück für Stück wurde das Komitee zu schlagkräftigsten Organisation Russlands, die folternde Polizisten und Gefängniswärter hinter Gitter bringt. Das Komitee ist dafür bekannt, dass es strafrechtliche Ermittlungen auf sehr hohem, professionellem Niveau durchführt. Sie kennen sich hervorragend in der Strafprozessordnung aus und sind in der Lage, sich wie eine Klette an die Fersen der offiziellen Strafverfolger zu hängen und so zu verhindern, dass die aus der Ausübung ihrer Pflichten flüchten.

Nach der Ermordung Estemirowas, als klar wurde, dass die tschetschenischen Menschenrechtler in Tschetschenien unter tödlicher Gefahr arbeiteten, traf Kaljapin die überraschende Entscheidung, Memorial zu Hilfe zu eilen.

„Wir wendeten eine neue Methodik an“, erzählt er. „Je drei Leute wechselten sich ab. Sie saßen einen Monat in Tschetschenien und wurden dann abgelöst. 
Wir kopierten die Arbeit des Ermittlungskomitees. Die machen sich niemals mit weniger als drei Leuten an einen Fall ran. Zwei arbeiten, der Dritte beobachtet aus der Ferne, hält den Sichtkontakt, und überall sind Geräte, die alles dokumentieren. In Tschetschenien wusste man, dass wir einen Haufen Spezialtechnik haben, und davor haben sie gezittert. Obwohl das natürlich auch nicht vor Kugeln schützt.“

Ich glaube, Ojub erkannte in Kaljapin sofort den Profi. Das war natürlich nicht das Einzige, was sie verband. Sie sind sich überhaupt ähnlich. Beide sind sehr ernsthaft, starrköpfig und verfügen über eine ungewöhnliche Mischung aus Pragmatismus und Idealismus. Kaljapin hängte sich hinter acht Fälle von Entführung und Mord durch die Kadyrowzy.

„Ojub führte uns mit Geschädigten und Zeugen zusammen, und das nicht an den ungefährlichsten Orten. Aber seine Bedachtsamkeit hat er niemals, unter keinen Umständen verloren. Er ist ruhig wie ein Panzer“, sagt Kaljapin. „Ich zum Beispiel bin sehr schreckhaft. Wenn solche Sachen passieren, brauche ich erstmal ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Ich bin das reinste Nervenbündel. Aber Ojub macht den Eindruck, als gäbe es bei ihm keinerlei Reaktion auf den Schreck. 
Außerdem denkt er blitzschnell nach. Er kann sämtliche Umstände auf einmal erfassen. Das macht ihn zu einem erstklassigen Kundschafter. 
Ich hatte immer das Gefühl, dieser Mensch reflektiert sehr genau, so wie ich, nur dass ihn Emotionen dabei nicht stören. Unter anderem solche wie Wut oder Leidenschaft, die habe ich bei ihm überhaupt nie gesehen. 
Und er machte niemals den Anschein falschen Heldentums. Wir teilten das Risiko gerecht auf: Jetzt nimmst du mehr Risiko auf dich, jetzt ich. Grob gesagt, haben wir die Löcher gebohrt, und Memorial hat die Gräben gebuddelt.“

Ermittlungen in den Fällen, hinter die sich das Komitee gegen Folter gehängt hatte, gab es natürlich nie. „Wir haben permanent aufgezeigt, dass das dort ein anderer Staat ist. Wir sagen, dass russische Gesetze in Tschetschenien nicht gelten, und erklären, wie das geht. Beispielsweise will ein Ermittler aus Moskau bei einer Polizeistation vorbeischauen, in der man Leute, an die Heizkörper gefesselt, festhält. Die Wache am Tor lässt die Tür ins Schloss fallen und sagt: ‚Hau ab, oder ich mach dich fertig!‘ Dann holt der Ermittler aus Chankala Verstärkung, aber die russischen Sondereinheiten weigern sich einfach, aus den Bussen zu steigen. Sie haben Angst. 
Oder ein anderes Beispiel: Der Innenminister Alchanow ordnet auf unser Gesuch hin an, die Gefangenen freizulassen, und ein Mitarbeiter der Polizeibehörde sagt: ‚Ich pfeife auf die Anordnung von Alchanow, denn Alchanow ist ein einfacher General, aber ich bin ein Verwandter Ramsans!‘“

Wären sie Tschetschenen gewesen, so wären sie schon lange tot oder im Knast, aber es gab keine Genehmigung, Russen zu töten. Trotzdem riskierten die Leute aus Nishni Nowgorod wahnsinnig viel. Man hätte sie jeden Moment ohne jede Genehmigung ausschalten können, als Folge eines spontanen Impulses, und man hätte die Mörder niemals gesucht. Ich frage Kaljapin, weshalb er keine Angst hatte.

„Weißt du, ich musste mich schon einige Male von meinem Leben verabschieden. Erst haben mich die Bullen gefoltert, dann haben mich Gangster gefoltert und aufgehängt. Und ich weiß einfach, was man in solchen Momenten denkt. Ich bereute, dass ich das und das nicht gemacht habe, weil ich vor irgendwas Angst hatte. Aber vor was hatte ich Angst? Jetzt ist es doch eh scheißegal. Wahrscheinlich ist es die Erkenntnis, dass das Leben definitiv enden wird, die bei mir ausgeprägter ist, als bei einem normalen Menschen. 
Und Folgendes hat mich immer gewundert: Was ist so toll daran, in seinem Bett an einer Krankheit zu sterben? Was ist daran so toll, ich versteh’s nicht. Und sich deswegen in die Hosen machen? Irgendwas Wichtiges nicht tun? Dass sie einen umbringen, das schreckt mich absolut nicht. Es sind die Schmerzen der Folter, vor denen ich mich fürchte.“

Klar, das sind Igors Gedanken, aber auch zu Ojub, scheint mir, haben sie eine Beziehung.

Die Arbeit des Komitees gegen Folter hatte einen zweiten, geheimen Effekt, über den nur wenige Bescheid wissen. Kaljapin machte einen derartigen Lärm, dass er die ganze Aufmerksamkeit der Machthaber auf sich lenkte, während Ojub seine Arbeit im Stillen fortsetzen konnte. Einzig die Anwesenheit des Komitees erlaubte es Memorial, so lange in Tschetschenien durchzuhalten. Unter Ojubs Leitung half Memorial mehr als zweitausend Menschen. 

Die Aktivisten aus Nishni Nowgorod waren permanenter Überwachung ausgesetzt. Im Dezember 2014 zertrümmerten Bewaffnete das Büro des Komitees in Grosny und brannten es anschließend nieder. 
Im Juni 2015 traten Maskierte die Tür ein und demolierten und plünderten das Büro erneut. Den Mitgliedern der mobilen Gruppe gelang es, aus dem Fenster zu flüchten. Im März 2016 wurde ein Bus des Komitees an der Grenze Tschetscheniens mit Inguschetien gestoppt. Ein maskierter Mob mit Baseballschlägern schleifte die Menschenrechtler, Journalisten und den Fahrer unter „Allahu Akbar"-Rufen heraus, schlug sie brutal zusammen und raubte sie aus. Den Bus übergossen sie mit Benzin, und zündeten ihn an. Gleichzeitig wurde das Büro des Komitees in Inguschetien von einem Dutzend Menschen mit Maschinenpistolen zerstört und geplündert.

„In schwierigen Situationen reichte es aus, einander anzusehen, um zu verstehen“, sagt Kaljapin. „Nachdem sie unseren Bus abgefackelt hatten, fuhr ich sofort nach Grosny, um bei Memorial nach dem Rechten zu sehen. Ich sagte: ‚Mädels, die U-Boot-Kapitäne müssen reden.‘ Ich ging zu Ojub, und ich sah schon die Frage in seinem Blick: Dir ist doch klar, dass sie dich jede Minute holen könnten? Ich sagte: ‚Mir ist alles klar, deswegen haue ich jetzt ab. Lass uns schnell reden.‘“

Noch am selben Abend überfielen sie Kaljapin. Es war klar, dass das Komitee seine Basis in Tschetschenien nicht länger würde halten können. Ojub war jetzt allein.

Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 17
Salam Aleikum

„Es gab Fälle“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial, „da bemerkten wir, dass uns ein Auto verfolgt. Aber am zweiten Tag war das Auto nicht mehr da und am dritten auch nicht. Also maßen wir dem nicht allzu große Bedeutung bei. Uns war klar, dass sie jedenfalls wissen, dass es uns gibt. Sie verstanden nur nicht so recht, was genau wir tun. In den letzten Jahren war zu jeder Zeit klar, dass alles passieren könnte. Selbstverständlich hat einen das nicht kalt gelassen. Aber wenn man ständig damit lebt, gewöhnt man sich daran.“

„Das ist merkwürdig“, sagt ein Kollege von Ojub. „Man versteht alles, aber gleichzeitig kommt es einem so vor, als würde man selbst drumrum kommen, solange man sich an die Sicherheitsvorkehrungen hält. Um andere sorgt man sich natürlich, aber selbst kann man nicht die ganze Zeit mit dieser Angst leben. Man hört einfach auf, darüber nachzudenken, schließt diese Option für sich aus. Das ist kein Ausweg, aber so läuft es eben.“

2016 startete die Kampagne gegen „Junkies“. „Diejenigen, die in der Republik Tschetschenien den Frieden stören, werden zum Teufel gejagt. Nichts ist von Bedeutung. Gesetz hin oder her … Es wird geschossen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum, Problem gelöst. So sieht das Gesetz aus!“, kündigte Kadyrow auf einer Versammlung an, die dem Kampf gegen Drogensucht galt. 
Die Polizei fing an, das in die Tat umzusetzen. Allein 2017 wurden laut Kadyrow eintausenfünfhundert Menschen verhaftet. Drogen hingen sie jedem an, der besoffen aufgegriffen wurde. 
Man schlug sie und forderte sie auf, Drogenbesitz zu gestehen. Man drohte, dass man ihnen andernfalls die Planung von Terroranschlägen oder die Mitgliedschaft in einer verbotenen paramilitärischen Organisation anhängen würde. 
Der Großteil der Fälle war identisch. „Der Angeklagte beschnitt und trocknete wild wachsendes Cannabis.“ Absolut alle Beschuldigten legten ein Geständnis ab und wurden in einem „Spezialverfahren“ verurteilt: Man brachte sie zum Gericht, wo das Urteil sofort verhängt wurde. 

„Wen man einsperren kann, den sperr ein. Wenn die Möglichkeit besteht, jemandem etwas in die Tasche zu stecken, dann steck ihm was in die Tasche. Mach, was du willst, und töte, wen du willst! Der Herrscher hat gesagt, ich soll ihm das so übermitteln. Ich schwöre auf Allah, ich unterstütze das!“, sagte der erste Stellvertreter des Chefs des tschetschenischen Innenministeriums, Apti Alaudinow, auf einer Sitzung in Urus-Martan. Allgemein reden die Anführer der Republik auf Tschetschenisch äußerst offenherzig. 

Im April 2016 wurde Schalaudi Gerijew entführt, ein tschetschenischer Korrespondent des Kawkaski Usel. Die Entführer zogen ihn aus einem Bus, schlugen ihm eins über den Schädel und drängten ihn in einen schwarzen Priora. Sie fesselten ihm die Arme mit Draht und brachten ihn in einen Wald. Dort schlugen sie ihn, würgten ihn mit Plastiktüten und drohten damit, ihn zu erschießen. Sie sagten ihm, dass er nur dann aus dem Wald zurückkehren würde, wenn er Drogenbesitz gesteht. Ansonsten würde er verschwinden. 
Im Untersuchungsgefängnis widerrief er sein Geständnis, aber selbstverständlich verurteilten sie ihn trotzdem. Er sitzt bis heute. (Vor ihm, im Jahr 2014, wurde nach dem gleichen Artikel der tschetschenische Dissident Ruslan Kutajew verurteilt, der es gewagt hatte, entgegen der Anweisung Moskaus und Kadyrows, dem 23. Februar als 70. Jahrestag der Deportation des tschetschenischen Volkes zu gedenken.)

Im Frühling und Sommer 2017 veröffentlichten Elena Milashina und Irina Grodijenko in der Novaya Gazeta ihre berühmte Recherche zur Jagd auf Homosexuelle und deren Ermordung im Januar des gleichen Jahres: In der Nacht auf den 26. Januar hatte es in Grosny auf einem Polizeirevier eine Massenerschießung gegeben. Ohne Gerichtsurteil waren mindestens siebenundzwanzig (möglicherweise gar doppelt so viele) Menschen erschossen worden, die man des Wahhabismus verdächtigte. Verwandte der meisten Opfer unterschrieben ein Papier: „Mein Sohn/Bruder hat die Republik Ende Februar gen Moskau verlassen. Es bestehen keine Ansprüche gegen die tschetschenische Polizei.“ Oder sie unterschrieben eine Erklärung, wonach ihr Sohn nach Syrien gegangen war, um zu kämpfen. Ojub half den Journalisten, die Information zu überprüfen. Das war eine seiner letzten Nachforschungen. 
Im Frühling begann in Tschetschenien die organisierte Ermordung von Homosexuellen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, sehr viele gefoltert und ermordet. Die Angelegenheit wurde zu einem internationalen Skandal, sodass die föderale Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa sogar eine Untersuchungskommission mit der Überprüfung beauftragte. 
Ende des Jahres wurde Ramsan Kadyrow, nach Daudow und Anaudinow, auf die Magnitski-Liste gesetzt, „wegen der Beteiligung an verbrecherischen Gewalttaten, Folter und Menschenrechtsverletzungen“. 
Im Anschluss daran wurde Kadyrows Instagram-Account blockiert. Es ist schon beinahe lustig, dass ausgerechnet dies die heftigste Reaktion durch die tschetschenische Führung nach sich zog. „Kadyrow wurde nicht nur um sein liebstes Spielzeug gebracht. Das war auch sein persönliches Massenmedium mit einem Publikum von mehr als drei Millionen Abonnenten“, erläutert Tscherkassow, der Leiter von Memorial.
Am 25. Dezember gab Magomed Daudow eine offizielle Erklärung ab, dass die Menschenrechtler die Schuld tragen an der Abschaltung des kadyrowschen Instagram: „Wenn die Todesstrafe in Russland nicht verboten wäre, hieße es für die Feinde des Volkes ‚Salam Aleikum‘, und das wars.“
„Ojub wartete darauf, dass man ihn holen würde“, erzählt Lokschina. „Ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung reiste er in einer Sache nach Moskau und nahm mich vorher zur Seite. ‚Tanja, ich habe eine große Bitte an dich. Kannst du mir etwas versprechen?‘ ‚Naja, ich verspreche ungerne Dinge, bevor ich nicht weiß, was genau.‘ Für Ojub war so ein Gesprächsbeginn absolut untypisch. ‚Du musst mir versprechen, dass, falls mir etwas passiert, du Orlow und Tscherkassow überredest, unter keinen Umständen unser Büro zu schließen.‘ Ich sage: ‚Hör auf, ich werde mit dir solche Sachen nicht besprechen!‘ ‚Dir hören sie zu, sie respektieren dich. Das wäre das absolute Ende. Das wäre ein Verrat an Nataschas Andenken. Wo sollen denn die Leute hin?! Du musst es mir versprechen!‘ 
Naja, was sagt man ihm da?“
„Manchmal konnte man anhand einiger Sätze verstehen, worüber er nachdenkt“, sagt Sokirjanskaja. „Dann wurde einem bange. Schon davon, wie überaus bewusst er das alles tat. Das war derart tief in ihn eingesickert, er war derart erfüllt von den Geschichten all dieser Leute, all dem Leid, dass er einfach genau in die Schussbahn lief.“
„Ich erinnere mich, wir waren mit dem Monitoring beschäftigt“, erzählt eine Kollegin von Ojub. „Wir fuhren an irgendeiner Straße vorbei, und plötzlich kam er mit Einzelheiten zu einer Sache heraus: ‚Du musst wissen, dass hier ein Mensch wohnt, der an einem Verbrechen beteiligt war‘, mit unangenehmen Einzelheiten. Anfangs hörte ich geistesabwesend zu, ich war müde, schlief beinahe ein. Aber dann fing es langsam an, mir zu dämmern. Er war permanent darauf vorbereitet, dass er bald nicht mehr da sein würde. Also dachte ich mir, dass ich nachfragen muss. Ich hatte ja nicht alles gehört.“
Ojub konnte nicht aufhören. Er war schon alt, es war zu spät sich einzugestehen, dass nichts dabei herumgekommen war. Hinter ihm standen Menschen, um die er Angst hatte, aber er zog die Sache durch.
„Ich habe ihn im Scherz gefragt: ‚Du bist ja mittlerweile quasi in die Sporthalle eingezogen. Du gehst jeden Tag hin, nicht?‘“, sagt Lokschina. „Er antwortet ‚Ja‘ und fügt ganz ernst hinzu: ‚Ich glaube einfach, wenn sie mich mitnehmen und mich foltern, dass es hilft, physisch gut in Form zu sein, um das auszuhalten.‘ Er sagte das ohne einen Anflug von Ironie, ohne auf Mitgefühl aus zu sein, auch nicht auf Mitleid. Es war eine Feststellung.“
„Bei den Tschetschenen gilt es viel, sich in Form zu halten“, erklärt meine Schwester. „Wenn ein Mann einen Bauch hat, dann ist das unschicklich und führt zu Geringschätzung ihm gegenüber. ‚Wie ein Kolchosenvorsteher‘ werden sie sagen. Ojub ist ja auch noch Sportlehrer. Aber er ist sechzig Jahre alt und geht jeden Abend in die Sporthalle. Ich fragte mich wofür. Wie sehr er sich auch aufpumpt, die Kräfte sind in keinem Fall gerecht verteilt. Die sind doch bewaffnet, jung und in der Überzahl. Aber dann erzählte einmal ein mir bekannter Lehrer von einem Dorfbewohner, den die Kadyrowzy in den Kofferraum eines Autos gezwängt hatten. Und Ojub hat gesagt: ‚Mich wird man lebend nicht in einen Kofferraum zwängen.‘ 
Das heißt, ihm ist es wichtiger, die Demütigung zu verhindern, als den Tod. Auf diesen Fall bereitete sich Ojub vor.“

Stück für Stück, Jahr für Jahr wurde eine Atmosphäre der Angst etabliert / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Kapitel 18
200 Gramm

„Er rief im Dezember 2017 an, es waren Winterferien, man hatte uns schon freigegeben“, erinnert sich eine Kollegin von Ojub. „Er sagt mir: ‚Wirst du über's Wochenende in der Stadt sein? Geh beim Büro vorbei. Auf dem Schrank liegen Pakete, nimm die mit.‘ Ich ging vorbei und sah, dass da Geschenke für meine Kinder lagen. Das war unser letztes Gespräch.“

Am 9. Januar, dem ersten Arbeitstag im Jahr 2018, verließ Ojub sein Haus, um sich mit einem Freund im Dorf Maitrup zu treffen. Der Freund wartete etwa eine Stunde auf ihn, dann rief er bei Ojub an, aber der nahm den Hörer nicht ab. Unverrichteter Dinge machte sich der Freund auf den Weg und lief Ojub auf der Straße entgegen. 
Nach kurzer Zeit sah er Ojubs Lada Kaliva am Straßenrand und daneben Polizeiautos vom Typ Niva und UAZ-Patriot sowie Männer in Camouflage mit Ärmelstreifen der Spezialeinheit GBR. Der Freund hielt an und stieg aus seinem Wagen, aber Ojub gab ihm ein Zeichen weiterzufahren. Er wollte niemanden da mit reinziehen. 

Der Freund fuhr weiter, wendete, aber Ojub gab ihm erneut ein Zeichen, dort nicht stehen zu bleiben. Beim dritten Mal waren Ojub und die Polizisten verschwunden, aber der Freund hatte verstanden, dass sie nach Kurtschaloi gefahren waren. Auf dem Hof der Polizeistation sah er Ojubs Wagen. 

Man forderte Ojub auf, ein Geständnis bezüglich Drogenbesitzes zu unterzeichnen, wobei man ihm drohte, dass man ansonsten seinen Sohn wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bewaffneten Organisation rankriegen würde. 
Ojub lehnte ab. Er sagte, dass die „gefundenen“ Drogen ohne Zeugen keinerlei Beweiskraft hätten. Das hatten die Polizisten nicht erwartet, zumal doch absolut alle „Junkies“ das Schuldeingeständnis unterschrieben. Man fuhr Ojub zurück zur Straße und inszenierte eine Festnahme durch eine Streife und die Beschlagnahmung von Drogen mit Zeugen. 
Die Kameras in der Polizeistation und in den Autos, die diesen ganzen Zirkus normalerweise hätten aufnehmen sollen, funktionierten natürlich nicht. Entlang des gesamten Weges, welchen die Polizeiwagen in Kurtschaloi zurücklegten, hatten gleichzeitig 15 weitere Videoüberwachungssysteme „den Geist aufgegeben“, darunter Kameras in Verwaltungsgebäuden und Banken. Ojubs abgeschlossener Wagen wurde auf dem Parkplatz der Polizeistation aufgebrochen und dessen Videoaufzeichnungen sowie Satellitennavigation gestohlen. 

Nun galt es, ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Aber das gelang ihnen einfach nicht. Nachdem er Ojubs Auto erkannt hatte, rief sein Freund bei Memorial an. In Kurtschaloi machte sich ein Anwalt auf den Weg, aber man ließ ihn nicht in die Polizeistation und behauptete, Ojub wäre nicht dort. 
Aber in Moskau hatten sie bereits ein Fass aufgemacht: Oleg Orlow war mit den Vertretern der Menschenrechtskommission, Michail Fedotow und Tatjana Moskalkowa, in Verbindung getreten. Abends war der Chef der Polizeibehörde gezwungen, offenzulegen, dass Ojub bei ihnen war, sowie, dass man ihn des Drogenbesitzes beschuldigte. In seinem Wagen hatte man vermeintlich 200 Gramm Marihuana gefunden. 

Offenbar wurde Ojub nicht gefoltert. Aber man setzte ihn stark unter Druck und bedrohte seine Familie. Das wurde klar, als er nach drei Tagen seinem Anwalt einen Zettel mit einer Erklärung an den Vorsitzenden der Ermittlungsbehörde, Alexander Bastrykin, übergab: 

„Am 09.01.2018 wurde ich durch Beamte der Polizei von Kurtschaloi festgenommen, und in meinem Wagen wurde Rauschgift platziert. Es wurde ein Strafverfahren gegen mich inszeniert. Die Beweise für meine Schuld sind zur Gänze manipuliert. Ich habe keinerlei Schuld eingestanden und werde dies auch nicht tun. 
Ich möchte Sie darauf hinweisen: Sollte ich mich der mir angehängten Taten in irgendeiner Weise schuldig bekennen, so bedeutet dies, dass man mich zu diesem Geständnis auf dem Wege physischer Einflussnahme oder Erpressung gezwungen hat.“ 

Wenn schon Ojub sich nicht mehr seiner sicher war, bedeutete dies, dass die Situation verzweifelt war. 

Ramsan Kadyrow trat im tschetschenischen Fernsehen auf, nannte Titijew einen Drogensüchtigen und erklärte: „Sie [die Menschenrechtler] sagen Dinge, die nicht stimmen, und selbst wenn es so wäre und er darüber reden oder Zettelchen schreiben würde, bedeutete dies, dass er sich gegen sein Volk gestellt hat. Er ist ein Volksfeind. Sie haben keine Heimat, keine Nation, keine Religion. Ich wundere mich wirklich über diesen Menschen, der für die arbeitet und gleichzeitig behauptet, dass er ein Tschetschene sei. Deswegen sage ich euch, wir werden die Wirbelsäulen unserer Feinde brechen.“

In der Nacht auf den 17. Januar zündeten Maskierte das Büro von Memorial in Nasran an. Am 19. Januar fand im Büro von Grosny eine Hausdurchsuchung statt, in deren Verlauf angeblich zwei Zigaretten mit Rauschgift gefunden wurden. Am 22. Januar wurde in Machatschkala ein Dienstwagen des dagestanischen Memorial angezündet, dessen Mitarbeiter sich in Ojubs Sache eingeschaltet hatten. Eine SMS wurde an das Bürotelefon gesendet: „Euer Leben hängt am seidenen Faden. Macht den Laden dicht! Nächstes Mal verbrennen wir euch zusammen mit eurem Büro. Das Auto war eine Warnung.“ 

Die Polizeibeamten zuckten mit den Schultern: „Nach wem sollen wir da suchen? Das sind doch Kadyrowzy.“

Seinen Freunden war klar, dass es mit Ojub kein gutes Ende nehmen würde. Er hatte nicht vorgehabt zu verschwinden, und die einzige Alternative war der Tod. Als ich hörte, dass man Ojub Drogen untergejubelt hatte, war mein erster Gedanke: „Gott sei Dank!“ 

„Ich denke, hat vielleicht Allah das alles so eingerichtet, damit das Büro geschlossen wird?“, sagt eine seiner Kolleginnen. „Denn mittlerweile ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Es ist schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber es macht keinen Sinn gegen sie anzukämpfen, es werden nur noch mehr von unseren Leuten dahingerafft.“

„In diesem Moment empfanden wir alle nichts anderes als Dankbarkeit für das tschetschenische Innenministerium: Danke, dass er am Leben ist“, schreibt Elena Milashina.

Außer dem ihm untergeschobenen Paket wurde noch ein „Zeuge“ namens Amadi Baschanow organisiert, der gesehen haben will, wie Ojub am hellichten Tag auf der Straße Cannabis rauchte. Aber bei der Zeugengegenüberstellung gabs eine Panne. Der Anwalt Pjotr Saikin bemerkte, dass Ojub zu leicht von den Komparsen zu unterscheiden war: Er trug Latschen, während alle anderen mit Stiefeln bestückt waren. Und er bestand darauf, dass dieses Detail verändert wird.

Milashina beschrieb die Gegenüberstellung in der Novaya Gazeta so: „Der Zeuge zeigte alle Anzeichen eines Drogenrausches. Die Pupillen waren riesig, sodass die Iris kaum noch zu sehen war. Er bewegte sich sehr langsam. Er schwankte leicht und reagierte überhaupt nicht auf den Ermittler. Bekleidet war der Zeuge mit einer sauteuren Lederjacke, die eindeutig jemand anderem gehörte, und gleichzeitig einer zerrissenen Hose und zerschlissenen Schuhen ohne Schnürsenkel. Er kannte Ojub nicht, das war völlig offensichtlich."

Der verärgerte Ermittler notierte im Protokoll zunächst die Wahrheit, dass der Zeuge Ojub nicht hatte erkennen können. Aber später erklärte er, dass er sich vertan hatte. Die Gegenüberstellung hätte zur Identifizierung geführt. Er hätte es lediglich falsch notiert.

Auf den Anwalt Saikin setzte man einen demonstrativen Spitzel an und setzte sein Auto in Brand. Ojubs anderer Anwalt, Aslan Telchigow, war aufgrund von Drohungen gezwungen, aus Tschetschenien zu fliehen. 

Drei Wochen nach Ojubs Verhaftung erklärte Kadyrow: „Dass sie sich verkauft hat, haben wir erst im Nachhinein erfahren. Sie hat das Image unseres Volkes vor dem Westen und Europa diskreditiert. Wir erkannten erst, was für ein Miststück sie war, nachdem wir sie mit Drogen erwischten.“ 

Ramsan sprach von Ojub in der weiblichen Form, so wie er es zuvor mit dem ermordeten schwulen Sänger Selim Bakajew getan hatte.
Frau und Kinder von Ojub flüchteten sofort nach seiner Verhaftung aus Tschetschenien. Aber im Mai erfüllte die Polizeibehörde von Kurtschaloi ihr Versprechen: Ein Neffe von Ojub wurde verhaftet. Man erhob Anklage gegen ihn wegen Drogenbesitzes. 

Kapitel 19
Das Gericht

Ojub sitzt hinter den Gitterstäben und wirkt fast scheu. Es scheint, als wäre es ihm ein bisschen unangenehm, dass alle nur seinetwegen hergekommen sind. In der Pause dränge ich mich zu seinem Käfig durch und sage, dass ich in einer Woche mehr Gutes über ihn gehört habe, als jemals überhaupt über irgendjemanden. Ojubs Gesicht bleibt eine reglose Maske. Er ist offensichtlich verlegen.

„Für Ojub war Junkie ein schlimmes Schimpfwort“, sagt Lokschina. „Wenn er über tschetschenische Silowiki sprach, die besonders viel Dreck am Stecken hatten, presste er zwischen den Zähnen hindurch: ‚Junkie‘. Er konnte sich vermutlich nicht vorstellen, wie ein Mensch solche schrecklichen Dinge tun konnte, ohne dabei unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen. Und dass nun ernsthaft jemand denken könnte, dass er selbst ein Junkie ist, ein Dealer, das muss für Ojub ungeheuerlich sein.“

In den ersten Reihen sitzen die Menschenrechtler, in den hinteren Bauern aus Kurtschaloi, Verwandte und Nachbarn von Ojub. 

„Im Dorf glaubt kein Mensch, dass man Drogen bei ihm gefunden hat“, erzählt ein Nachbar. „Das kann einfach nicht sein. Als wir in der Schule waren, schimpfte er selbst mit dem Direktor und der Schulleitung, weil die rauchten. Und den Typen, den sie im Fernsehen hingestellt haben, der angeblich ein Nachbar ist, der ihn verleumdet hat, den kennt im Dorf niemand. Wenn ihn jemand kennen würde, gäb's ihn längst nicht mehr, so wütend wie alle waren.“

„Hätten sie ihm eine Pistole untergeschoben, hätte das weitaus glaubwürdiger ausgesehen“, sagt ein Freund. „Aber Drogen – es weiß doch jeder, dass er nicht mal Rauch aushält. Ich bin sicher, für ihn wäre es leichter zu ertragen, wenn sie gesagt hätten, dass er einen Menschen getötet hat. Aber das ist bei ihnen schon ein altbewährtes Spielchen: Sie haben dieses Paket, 200 Gramm, das geht aus dem Safe hier- und dorthin und wieder zurück.“

„In der Moschee bei uns versammeln sich fünftausend Menschen“, sagt Jakub Titijew. „Jeder Einzelne von ihnen ist bereit für Ojub auszusagen. Die ersten Tage gab es zu Hause keine Ruhe. Alle kamen vorbei, um ihr Beileid auszudrücken.“

„Er hat mir diese Gebetskette hier gegeben.“ Ein Neffe zeigt mir eine lila Kette mit einer kleinen Quaste. Wie alles, was aus Ojubs Händen stammt, ist sie hervorragend gearbeitet. „Er hat sie im Gefängnis gemacht, aus Brot und Kaffee. Er schreibt immer: ‚Entschuldigt, dass all das wegen mir passiert, dass ihr im Gerichtssaal weint.‘ Meine Tante fragt immer: ‚Hast du gegessen? Hast du genug?‘ und er: ‚Mehr Fragen hast du nicht? Immer redest du über's Essen. Jetzt gerade ist mir nicht nach essen zumute‘, und einen Tag später schreibt er dann: ‚Entschuldige, meine Liebe, ich wollte dich nicht beleidigen.‘ 
Ich bin auch vorbeigegangen: ‚Ojub, sag mal, was kann man dir bringen?‘ Er sagt: ‚Bring mir eine Cola.‘ Ich wundere mich: ‚Du trinkst doch gar keine Cola?‘ ‚Die mit mir in der Zelle sitzen aber schon.‘“

„Er hat im Traum seinen älteren Bruder gesehen, der verstorben ist“, sagt der Neffe, „und er sagte uns: ‚Ich habe meinen Bruder im Traum gesehen, er hat mich um Geld gebeten. Ist mein Gehalt angekommen? Verteilt es an die Armen.‘ Selbst jetzt will er noch allen helfen.“

Ich war nur an einem Verhandlungstag dabei, den Rest weiß ich aus dem Stenogramm und aus Texten von Kollegen, hauptsächlich von Elena Milashina.

Das Gericht befragt einen Zeugen nach dem anderen. Achtundzwanzig Mitarbeiter der Polizeibehörde von Kurtschaloi, die sich an nichts erinnern. Tschetschenische Gerichte sind absolut nicht anspruchsvoll, also ist die Arbeitserfahrung der Ermittler in der Regel dünn, und sie sind schlecht auf das Verfahren vorbereitet. Die Mitarbeiter der Polizeibehörde sind selbstverständlich instruiert worden. Ihre Aussagen, die sie in der Beweisaufnahme abgeben, sind Wort für Wort identisch: Titijew kenne ich nicht, habe ich noch nie gesehen, nicht festgenommen oder abgeführt. 

Die Idee dahinter ist, Ojubs Aussage über die erste Festnahme zu widerlegen. Die Streifenpolizisten haben ihn auf der Straße angehalten und die Ermittler herbeigerufen, aber wir haben damit gar nichts zu tun! Offenbar hat man bei der Instruktion einfach nur alle zusammengerufen und ihnen befohlen: Ihr sagt „Das weiß ich nicht mehr“. Daran, dass die Anwälte unterschiedliche Fragen stellen, haben sie wohl nicht gedacht. 

„Mit welchen Autos gehen sie auf Streife?“
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Welche Farbe hat ihre Uniform?“
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Wie lautet ihr Kennzeichen?“
„Das weiß ich nicht mehr.“

„Die Verteidigung versucht, die Zeugen zu veralbern!“, entrüstet sich der Staatsanwalt. „Ich beantrage, das im Protokoll festzuhalten!“

Wie viele Mitarbeiter die Einheit hat, wer die Leitung innehat, wie mit den Festgenommenen verfahren wird, wem gegenüber diese während der Ermittlungen Aussagen gemacht haben – keiner weiß es. Ein Zeuge nach dem anderen wiederholt, dass er Titijew nicht festgenommen hat und er ihm nicht bekannt ist. 

Als die Reihe an denen ist, die unmittelbar an der Platzierung der Drogen beteiligt waren, ändert sich das Verhalten. Die Polizisten antworten aggressiv und viele lachen hinter vorgehaltener Hand. Nurid Salamow, der ehemalige zuständige Ermittler, der nach der Panne bei der Gegenüberstellung abgesetzt wurde, findet alles zum Lachen komisch: die Frage des Anwalts, welches Datum auf dem Schild stand, mit dem er Ojubs Wagen versiegelt hat, die Frage, ob Titijew Waffen bei sich hatte, der Versuch zu klären, welche Untersuchungen er durchführte.

„Ich bin nicht dazu verpflichtet, das zu wissen. Ich erinnere mich nicht, was ich da überprüft habe, es gab viele Untersuchungen. Meinen Sie“, lacht er, „dass ich nur eine Sache auf dem Tisch habe?“

Von dem bei Ojub „gefundenen“ Päckchen mit Marihuana nahm Salamow nicht einmal Fingerabdrücke. 

Es ist ein endloses Ping-Pong, Variationen ein- und desselben Dialoges. 

Anwalt: „Du kannst ja nicht einmal richtig lügen!“ 
Zeuge: „Und du wirst so oder so nichts rausfinden, leck mich!“

„Bist du gläubig?“, fragt plötzlich Ojub den Ermittler.
„Ja …“
„Und welchen Glauben hast du?“
„Wie jetzt?“, antwortetet Salamow verwirrt, „Islam, natürlich.“
„Es kann ja sein, dass es ein Glaube ist, der dir erlaubt zu lügen. Aber im Islam ist das eine Sünde. Wenn man dir einen Fall übergibt, hast du, als gläubiger Muslim, was zu tun – die Wahrheit herauszufinden oder meine Schuld zu beweisen?“
„Die Wahrheit herauszufinden …“, antwortet Salamow sehr leise.
„Und was hast du getan?“
„Angeklagter, Frage abgelehnt. Wir sind hier nicht in einem Scharia-Gericht!“

Am 22. August trat Ramsan Kadyrow vor tschetschenischen Polizisten auf. „Die käuflichen Taugenichtse aus allen Ecken der Welt, aus jedem Land, kommen in dieses Gericht. Als ob es bei uns in Russland oder in der Welt keine anderen Probleme gäbe außer einem Junkie“, sagte er. „Meine Rechte verteidigen sie nicht! Mich haben sie illegal auf die Sanktionsliste gesetzt, ohne jeden Grund meine Accounts blockiert. Sogar die Pferde haben sie mir weggenommen, ich kann sie nicht zurück nach Hause holen! Wenn ich nicht das Recht habe, nach Europa oder in den Westen zu reisen, sage ich: Menschenrechtler haben nicht das Recht, sich auf meinem Territorium zu bewegen! Ich habe Sanktionen gegen sie erlassen! Noch erlauben wir es, sollen sie kommen! Kommt nach Schali, nach Grosny, aber nach Prozessende war’s das! Hiermit erkläre ich den Menschenrechtlern offiziell: Nach dem Ende des Prozesses ist Tschetschenien für sie verbotenes Territorium, genauso wie für Terroristen und Extremisten.“

Allerdings warteten sie das Urteil gar nicht erst ab: Am 20. September beantragte der Staatsanwalt unerwartet, dass der Prozess gegen Titijew unter Ausschluss der Öffentlichkeit weitergehen sollte, da persönliche Daten von Polizeibeamten ein Staatsgeheimnis seien und ihre Veröffentlichung deren Sicherheit bedrohe. Das ist Feenstaub: Als Staatsgeheimnis gelten die persönlichen Daten der Angehörigen von Anti-Terror-Einheiten, aber nicht von Dorfpolizisten aus Kurtschaloi. Die von dieser Wendung verdutzten Anwälte Ojubs beantragten eine Unterbrechung, um Widerspruch einzulegen.
„Sie werden tatsächlich Widerspruch einlegen? Was hat das für einen Sinn?“, wunderte sich die Richterin geradeheraus. In ihrer Entscheidung wiederholt sie schließlich Wort für Wort den Antrag des Staatsanwalts. Wir werden wohl nicht mehr zu Ojub ins Gericht gehen können. (Am 27. September, bereits nach der Veröffentlichung dieser Reportage wurde die Sitzung wieder für die Öffentlichkeit freigegeben. Anmerkung von Meduza)

Wie ist Ojub zu dem geworden, der er ist? Wahrscheinlich hatte er einfach Mitgefühl mit seiner Mutter. Sein ganzes Leben hat er versucht, das Richtige zu tun. Die Welt war anders, als die Großeltern ihm gelehrt hatten. Sie hatten gesagt, wenn man wie einer der Helden aus den Märchen ist, dann rettet man alle. Aber das hat nicht funktioniert. Die Schüler, die er liebte, starben, Natascha starb, die Sache, der er sein Leben gewidmet hat, ist zerstört. Sie sperrten ihn in einen Käfig und stellen ihn im Fernsehen als Drogendealer dar.

Ojub Titijew wirkt vor Gericht fast scheu / Foto © Dmitry Markov für Meduza

Epilog

Nach der Verhandlung sitzen wir mit den Leuten von Memorial im Café Central Park, benannt nach der Serie Friends, auf dem Putin-Prospekt. An den Wänden hängen alte Fotos von New York, zwischen den Stühlen laufen hübsche Kellnerinnen in Hidschabs hin und her. Hier erreicht Tscherkassow eine Nachricht. „Es heißt, dass sie in Komsomolskoje auf der Polizeistation einen Typen umgebracht haben. Es gibt einen Namen und die Telefonnummer des Vaters.“ „Na dann, los geht’s“, sagt einer.

Wir schließen uns mit dem Moskauer Büro kurz.

„Ruft jetzt nicht an, das Telefon des Vaters wird mit Sicherheit abgehört. Fahrt ins Dorf, ruft von dort an, fragt nach der Adresse und lauft sofort hin.“

„Und wenn wir niemanden erreichen?“

„Dann könnt ihr einfach hinfahren und nach der Adresse fragen. In diesem Moment gehen alle vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Wenn ihr euch entsprechend einkleidet, werdet ihr keine Aufmerksamkeit auf euch ziehen.“

Die Mädels ziehen sich Kopftücher und Kleider an. Beide sind Russinnen, das ist erkennbar, aber was soll’s, auch unter Tschetscheninnen gibt es Unterschiede im Aussehen. Nur die Hipsterschuhe verraten ihre Trägerinnen auf hundert Meter Entfernung. 

„Fahren wir mit Delimobil?“

Es stellt sich heraus, dass es in Grosny Carsharing gibt. Alles wie in Europa. 

Wir kommen in Komsomolskoje an. Die Situation ist schlimm. Wir rufen an, aber niemand nimmt ab. Wir treffen eine Gruppe alter Männer, die vor einem Haus sitzen, und fragen, wo der Vater des Getöteten lebt. Sie starren uns verwundert an, aber erklären uns den Weg sehr genau. Auf dem Weg erfahre ich die Umstände: Die Polizei suchte den Mann, der sich, als er erkannte, was ihm bevorstand, versteckte. Aber sein Vater glaubte, dass sich die Sache klären und sie den Sohn wieder laufen lassen würden, also brachte er ihn persönlich zur Polizeistation. Einen Tag später brachten sie ihm eine Leiche zurück, die Spuren von Folter aufwies. Und sie nahmen direkt einen Mann aus der Nachbarschaft mit. 

Das Dorf ist hervorragend wiederaufgebaut worden. Straße, Zäune, Tore, und im Kontrast dazu die angespannten Blicke der Jugend aus der Nachbarschaft. Der Vater ist nicht da, sie haben ihn vor drei Stunden aufs Revier geholt. In der Tür steht die Mutter, eine betagte Bäuerin mit gräulichem Gesicht. Höflich, leblos bedankt sie sich für die Beileidsbekundungen, dann sinkt sie auf eine kleine Bank nieder. Zum Stehen fehlt ihr die Kraft. Den Ermordeten hat man gestern bestattet, ohne Totenmahlzeit, wie es die Kadyrowzy befohlen haben, damit die Leute die Folterspuren nicht sehen und kein Lärm entsteht. Aus der sommerlichen Küche lugt die Witwe hervor, ein ganz junges Mädchen. Sie kocht etwas, das Gesicht versteinert, kreidebleich. Ihr restliches Leben wird sie entweder alleine mit zwei Kindern verbringen müssen, oder erneut heiraten, dafür aber die Kinder verlieren. 

Der Vater erscheint. Man hat ihn aus dem Polizeirevier entlassen, wo man ihm erklärte, wie er sich zu verhalten habe. Ein durchschnittlicher Dorfmensch, mit schleppendem, etwas wackeligem Gang. Wir erklären, wer wir sind.

„Ich danke ihnen, danke. Alles gut, hier war nichts.“
„Aber ihr Sohn ist tot?“
„Stimmt, ist tot.“
„Weshalb?“
„Naja, hat einfach aufgehört zu atmen.“

Nachdem ich diese Reportage beendet hatte, habe ich sie Ojub ins Gefängnis geschickt. Als Antwort erhielt ich einen Brief. Er handelte fast ausschließlich von seinen verstorbenen Schülern. Nach dreiundzwanzig Jahren dachte er immer noch an sie:

„Sie sind nicht mit mir gegangen, wir sind uns gar nicht über den Weg gelaufen. So ein Idiot aus unserem Dorf hat sie mitgenommen. Jeder dieser Jungs hätte ablehnen können, und man hätte es keinem von ihnen zum Vorwurf gemacht. Überhaupt hatte damals niemand das Recht, jemand anderem Befehle zu erteilen. Alles war freiwillig. Die Gruppen haben sich selbstständig auf den Weg gemacht und Widerstand geleistet, wo sie konnten.

Ich wusste, dass sie gegangen waren, aber nicht, wohin. Man teilte sie ein auf dem leeren Feld einer Kolchose, und sie alle trafen die Entscheidung zu sterben. Meine Schuld liegt darin, dass ich ihnen nicht gefolgt bin, nicht bei ihnen war, sondern alles dem Zufall überlassen habe. Wenn ich bei ihnen gewesen wäre, hätte ich sie da ohne Widerstand rausgeholt. Neunzehn Menschen sind dort gestorben, die meisten ehemalige Schüler von mir, und drei Cousins und Neffen, die ich mit großgezogen habe. Am vierten Tag gelang es uns, elf Leichen da rauszuholen. Ich habe sie aufgesammelt, einige in Einzelteilen. Das ist schwer aus dem Gedächtnis zu streichen. Ich würde Vieles dafür geben, in diesem Moment an ihrer Seite gewesen zu sein, ihr Los zu teilen, um nicht sehen zu müssen, was aus Tschetschenien geworden ist.“

Schura Burtin
Mitarbeit: Julia Wischnewezkaja und Sergej Bondarenko

Fotos: Dmitry Markov für Meduza

Übersetzung: Dario Planert

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Als Vaterländischer Krieg  ging Napoleons gescheiterter Feldzug gegen Russland in die russische Geschichtsschreibung ein, der am 24. Juni 1812 seinen Anfang nahm. Nikolaus Katzer über den Krieg, der im kollektiven Gedächtnis Europas den Platz im 19. Jahrhundert einnimmt, der dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert zufällt. 

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Anna Politkowskaja

Anna Stepanowna Politkowskaja (* 30. August 1958 in New York, † 7. Oktober 2006 in Moskau) war die national wie international wohl bekannteste russische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin der Putin-Ära. Geboren und aufgewachsen als Tochter sowjetischer Diplomaten in New York, kehrte sie in den 1970er Jahren in die Sowjetunion zurück und absolvierte dort ein journalistisches Studium. Ab 1982 arbeitete sie für verschiedene Verlage und seit Mitte der 1990er Jahre vermehrt für unabhängige und kritische Printmedien, wie etwa die Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta und zuletzt die oppositionelle Zeitung Novaya Gazeta. Am 7. Oktober 2006 wurde sie im Fahrstuhl ihres Moskauer Wohnblocks mit vier Schüssen in den Kopf getötet. Die Art und Weise, wie die Tat ausgeführt wurde – es wurden keine Wertsachen entwendet und die Tatwaffe wurde am Tatort zurückgelassen –, lässt auf einen Auftragsmord schließen.

Bekannt wurde Anna Politkowskaja durch ihre couragierte, oft regierungskritische Berichterstattung über den zweiten Tschetschenienkrieg, in Deutschland insbesondere durch ihr Buch Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg.1 In ihren Arbeiten prangerte sie vor allem die Brutalität des Krieges und die vielen Menschenrechtsverletzungen an, die sowohl auf Seiten der russischen Sicherheitskräfte als auch auf der Seite der paramilitärischen tschetschenischen Einheiten begangen wurden.

Kritik an Gewalt und Gewaltkultur

Sie berichtete von Folterungen, Verschleppungen, Vergehen an der zivilen Bevölkerung und den menschenunwürdigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Darüber hinaus kritisierte Politkowskaja auch immer wieder grundsätzlich die Gewaltkultur und – damit einhergehend – den Missbrauch staatlicher Macht durch die russischen Behörden. In ihrer als Buch erschienenen Reportage In Putins Russland2 gibt sie Präsident Putin, seinem nach ihrer Aussage autoritären Führungsstill und dem von ihm forcierten Einfluss der Geheimdienste eine erhebliche Mitschuld daran, dass sich in Russland Zynismus und Rechtlosigkeit im Justizsystem, ausufernde Korruption und die moralische Zersetzung innerhalb der Bürokratie verfestigen konnten.

Heftige Kritik übte sie am Umgang der russischen Führung mit dem Geiseldrama im Dubrowka-Theater in Moskau 2002, bei dem über 100 Menschen ums Leben kamen, als die Sicherheitskräfte Giftgas zur Beendigung der Geiselnahme einsetzten. Politkowskaja fungierte mit einigen anderen als Vermittlerin in den Verhandlungen zwischen den tschetschenischen Terroristen und der russischen Regierung. Später warf sie der Regierung vor, den Einsatz von Giftgas vorschnell angeordnet und die Versorgung der Geiseln an Ort und Stelle verhindert zu haben sowie an einer nachträglichen Aufarbeitung des Giftgaseinsatzes nicht interessiert gewesen zu sein.

Politkowskaja polarisiert

Ihre Informationen bezog die Journalistin in der Regel aus dem direkten Kontakt mit Opfern oder auch Tätern. All dies brachte ihr international Bekanntheit, Respekt und Auszeichnungen ein; in Russland selbst erntete sie neben vielen Sympathien für ihren Mut allerdings auch Missachtung, sie machte sich viele Feinde und bekam immer wieder konkrete Morddrohungen, wurde sogar entführt und wieder freigelassen.

In den Monaten vor ihrer Ermordung beschäftigte sich Anna Politkowskaja intensiv mit der Figur Ramsan Kadyrow und seiner Rolle bei Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Ramsan Kadyrow und die von ihm geführten Milizen waren, so Politkowskaja, maßgeblich für Verschleppungen, brutale Folterungen und Morde in Tschetschenien verantwortlich. In ihrem letzten Interview kurz vor ihrem Tod äußerte sich Politkowskaja ausgesprochen kritisch gegenüber Kadyrow, bezeichnete ihn als „Feigling“, der für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müsse, und als „Stalin unserer Zeit“.3 Politkowskaja selbst äußerte immer wieder Vermutungen, Ramsan Kadyrow könnte versuchen, sie aus dem Weg zu räumen. Mehrfach habe er, so ihre Aussage, zum Mord an ihr aufgerufen.4

Mordhintergründe weiter ungeklärt

Der Mord an Anna Politkowskaja reiht sich ein in eine Serie unaufgeklärter Todesfälle russischer Aktivisten und Oppositioneller, bei deren Aufarbeitung sich weder die russische Justiz noch die Politik mit Ruhm bekleckert haben. Es dauerte acht Jahre, bis der Todesschütze und mutmaßliche Auftragskiller Rustam Machmudow zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Zwischendurch verschwanden Beweismittel, Machmudow konnte untertauchen. 2008 präsentierte die Staatsanwaltschaft unter dem Druck der Öffentlichkeit und der politischen Führung, die ebenfalls eine „schnellstmögliche Aufklärung“ forderte, vier „Mittäter“, zwei davon Brüder des flüchtigen, aus Tschetschenien stammenden Todesschützen. Die vier Angeklagten wurden allerdings 2009 vor einem Militärgericht freigesprochen (aus Mangel an Beweisen, wie es hieß), nur um 2012 für dieselbe Tat wieder vor Gericht gestellt zu werden. Diesmal kam es zu einer Verurteilung; und auch weitere Mitglieder des Machmudow-Clans sowie Mitarbeiter der russischen Sicherheitsbehörden wurden als Komplizen identifiziert und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Obwohl festgestellt wurde, dass die Tätergruppe insgesamt 150.000 US-Dollar für die Vorbereitung und Ausführung des Mordes erhielt, bleibt ungeklärt, von wem dieses Geld gezahlt wurde – wer also den Mord in Auftrag gegeben hat.5 Bis heute kursieren unterschiedliche Versionen darüber: Präsident Putin selbst bzw. die russische Regierung, die eine unbequeme und unabhängige Stimme in Russland habe ausschalten wollen, der 2013 im Londoner Exil verstorbene Putin-Kritiker Boris Beresowski, der mit dem Mord an Politkowskaja Putin habe diskreditieren wollen, oder Ramsan Kadyrow und verbündete tschetschenische Klans, über deren illegale Machenschaften Politkowskaja zuletzt berichtet hatte. Wie dem auch sei: Im zynischen Spiel um Macht und Vorteilsnahme dürften viele von Anna Politkowskajas Tod profitiert haben. All dies zeigt nicht zuletzt auch, wie stark die informellen Gesetze der Straflosigkeit und Willkür, die Anna Politkowskaja Zeit ihres Lebens angeprangert hat, das Russland von heute prägen.

 

 
1. Politkowskaja, A. (2003): Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg, Köln
2. Politkowskaja, A. (2005): In Putins Russland, Köln
3. RFE/RL (2006): Politikovskaya’s last interview, 09.10.2006.
4. Hearst, D. (2006): Anna Politkovskaya - Crusading Russian Journalist famed for her exposés of corruption and the Chechen war, in: The Guardian, 08.10.2006.
5. Kavkazkij Uzel (2014): Anna Politkowskaja byla ubita za svoi publikacii v SMI, utverzhdaet gosobvinenie, 28.01.2014; Dejewsky, M. (2014): Who really did kill Russian journalist Anna Politkowskaya? The conviction of five men for the contract-killing of the Kremlin critic has not revealed who ordered the hit, in: The Independent, 13.06.2014
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