In Fellmantel und dicken Filzstiefeln marschiert Putin an den Reportern vorbei. Mantel und Stiefel abgelegt, taucht er anschließend zu feierlichen Gesängen versammelter kirchlicher Würdenträger und vor laufenden Kameras ins eiskalte Wasser des Seligersees, ein Kreuz über der nackten Brust – nicht ohne sich zu bekreuzigen.
Am 19. Januar feiert die orthodoxe Kirche das Epiphanias-Fest. Das traditionelle Untertauchen im Eiswasser soll dabei an die Taufe Jesu im Jordan erinnern und die Gläubigen von den Sünden reinwaschen. So öffentlichkeitswirksam wie Putin 2018 beging allerdings noch kein russischer Herrscher den orthodoxen Feiertag.
Dass ausgerechnet der Ex-KGBler die orthodoxen Bräuche pflegt – nicht nur an Epiphanias – verwundert manche. Kurz vor dem Epiphanias-Fest am 19. Januar wurde im staatsnahen Fernsehkanal Rossija 1 außerdem eine Doku über das Kloster Walaam ausgestrahlt. Darin verglich Putin die Mumie Lenins mit Reliquien christlicher Heiliger.
Andrej Loschak schimpft auf colta.ru darüber, dass die Staatsführung sehr unterschiedliche Ideologien zusammenmische. Mit diesem Sud würde in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspült. Das ist Loschaks optimistische Prognose. Er hat auch eine pessimistische.
Putin hat die Mumie Lenins mit christlichen Heiligtümern verglichen. Der Vergleich eines blutbefleckten Atheisten mit Märtyrern spiegelt wunderbar die ideologischen Prozesse wider, die in der Staatsführung vor sich gehen. Anders gesagt, er zeigt anschaulich, was für ein höllischer Brei sich da in den Köpfen zusammenbraut.
Höllischer Brei in den Köpfen
Ich kenne keine Kreml-Insider, aber wenn ich die Stimmungen in den oberen Rängen mitkriegen möchte, stöbere ich manchmal einfach auf der Website meines Kommilitonen aus dem Journalismusstudium. Der war mal ein lieber, freundlicher Typ – jetzt ist er einer der Chef-Reporter von RTR. Für ihn und seinesgleichen ist das Thema Liberale schon lange erledigt. Die sind Müll, Dreck unter den Füßen, ihre bloße Erwähnung schon eklig. Ein paar angewiderte Posts, unter anderem homophobes Gewitzel über Serebrennikow, das ist alles, was der Reporter in den letzten drei, vier Monaten auf Facebook zum Thema „Liberasten“ von sich gab.
Viel unterhaltsamer und emotionaler ist der Streit, den er – der überzeugte Stalinist und sowjetische Revanchist – mit orthodoxen Monarchisten führt. Sogar beim Sender Spas war er dafür. Die Monarchisten regten sich über die Verbrechen des Sowjetregimes auf (schimpften nebenbei natürlich auf den Westen und die Liberalen), und der stalinistische Reporter empörte sich ernsthaft über die „schleichende Ent-Sowjetisierung, bei der die orthodoxe Kirche aus irgendeinem Grund mitmacht“.
Wenn man sich die Polemik auf Spas ansieht, wird einem klar, dass Russland in den nächsten sechs Jahren genau von diesem verkrampften Ringen der Stalinisten und Monarchisten bestimmt sein wird. Aus dem für das 21. Jahrhundert lächerlichen Streit zweier überholter Ideologien will die Staatsmacht neue Klammern generieren. Prozessionen von Verkehrspolizisten, Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler im ganzen Land und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen. Mit der Zukunft der restlichen Menschheit wird das nichts zu tun haben – das größte Land der Welt hat einfach nur wieder mal beschlossen, einen Sonderweg zu gehen. Den Preis solcher Alleingänge kennen wir gut aus der Geschichte, aber mit sadomasochistischer Sturheit schlagen wir uns immer wieder am selben Rechen den Schädel an.
Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen
Für die Ideologen des Regimes sind all diese Battles von Revanchisten gegen Orthodoxe Balsam für die Seele. Früher gab es eine Religion, die kommunistische, jetzt gibt es zwei – ist doch klasse!
Interessanterweise nimmt keiner von denen, die sich ständig einen auf den Sowok runterholen (ein erstaunlich passender Ausdruck), je das Wort Kommunismus in den Mund. Niemand glaubt an ihn oder erwähnt ihn auch nur. „Mit dem Pflug übernommen, mit der Atombombe hinterlassen“ ist das wichtigste Mantra. Sie huldigen dem Sowok gerade als totalitärem Staat und vergessen dabei ganz, für welche Idee dieser gigantische Gulag eigentlich aufgezogen wurde. Denn die ungeheure soziale Ungleichheit, wenn 25 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, und daneben eine Handvoll Milliardäre (Freunde des Präsidenten) – das ist so ganz und gar nicht kommunistisch.
Ähnlich ist die Situation mit Putins Orthodoxie. Keiner der Hierarchen und Staatsmänner spricht von der zentralen Botschaft Christi: von Liebe und Vergebung. Das Wort Gottes ist hinter all diesen heiligen Mächten, wundertätigen Ikonen und Kirchenbannern auf pompösen Prozessionen überhaupt irgendwo verloren gegangen. Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen wie im Großinquisitor. Weil er andernfalls umgehend all diese fettgesichtigen Popen verjagen würde, die in Kathedralen Handel treiben und gegen die zehn Gebote verstoßen.
Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen
Die Staatsmacht braucht keine frohe Botschaft, sondern ein weiteres Sicherheitsorgan – ein furchterregendes ideologisches Amt, das Gedankenverbrechen ahndet.
Als Folge lässt sich eine interessante Metamorphose beobachten: In vielen Köpfen sind Sowjetwichserei und orthodoxer Monarchismus zu einer bizarren Figur verschmolzen; sowas in der Art haben die Nachtwölfe bei ihrem Festival auf der Krim präsentiert: ein sowjetisches Wappen mit einem zaristischen Doppeladler. Die Apotheose: Sjuganow wünscht alles Gute zu Weihnachten – „dem Fest der Zukunft“. Vor unseren Augen entsteht eine rot-orthodoxe Ideologie.
Der Film Walaam, in dem unter anderem berichtet wird, wie gut die Rotarmisten mit den Kirchendienern umgingen, ist ein Meilenstein auf diesem Weg: „Spirituell, stark, heiter“ – mit diesen Schlagwörtern kündigten kremlfreundliche Websites den Filmstart an. Diese neue Richtung lässt sich mit Besonderheiten in der Biografie und mit persönlichen Vorlieben unseres Präsidenten leicht erklären. Einerseits entstammt er dem KGB, besucht aber andererseits an Feiertagen den Gottesdienst und bekreuzigt sich vor laufender Kamera. Das muss man ja irgendwie vereinen – und so vereinen sie es so gut es geht. Eine Dekonstruktion von Bedeutungen läuft da, eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus, das Lieblingswerk von Putins Ideologen. Und mit diesem elenden Sud wird man offenbar in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen. Das wäre die optimistische Prognose.
Es passiert eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus. Und mit diesem elenden Sud wird man in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen
Die pessimistische Prognose ist im Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben beschrieben. Wie alle Geächteten von Weltrang greift Putin immer häufiger zur Waffe und fuchtelt damit als einzigem Argument dem verehrten Publikum vor der Nase herum. Der ganze militaristische Schaum, der nach der Annexion der Krim geschlagen wurde, schien sich im letzten Jahr wieder aufzulösen. Putin wird kaum Lust darauf haben, zur Karikatur eines Bösewichts à la Kim Jong-un zu mutieren, der die Welt mit Atomwaffen terrorisiert; andererseits lässt er sich selbst keine andere Wahl. Der Krieg mit der Ukraine wird schwelen, solange Putin an der Macht ist. Daher werden sich zum Kalaschnikow-Denkmal bestimmt noch andere Symbole dazugesellen, daran besteht kein Zweifel. Aber hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.