Nach den Massenprotesten im Sommer 2019 hatte die russische Staatsanwaltschaft gegen 14 Teilnehmer Anklagen erhoben. Im Eilverfahren wurden mitlerweile sieben davon verurteilt.
Vorgeworfen werden ihnen vor allem „Teilnahme an Massenunruhen“ (Artikel 212) und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ (Artikel 318). Gemessen an den Vorwürfen erscheinen ihre Strafen vielen drakonisch: So hatte einer der Verurteilten beispielsweise einen Mitarbeiter der Nationalgarde am Arm gepackt und gezogen. Das Gericht entschied auf zwei Jahre Haft, was viele Menschen in Russland als unverhältnismäßig bewerten: An den Angeklagten im Moskowskoje delo (dt. Moskauer Prozess) werde ein Exempel statuiert, so die Überzeugung.
Aus Protest solidarisieren sich derzeit Zehntausende mit den Verurteilten. So haben über 160.000 Menschen auf change.org gefordert, den Schauspieler Pawel Ustinow freizulassen. Der öffentliche Druck zeigte Wirkung: Der zu dreieinhalb Jahren Haft Verurteilte kam am 20. September frei, sein Fall soll nun neu geprüft werden.
Neben Online-Petitionen unterschreiben außerdem tausende Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen seit dem 16. September offene Briefe zur Unterstützung von Angeklagten und Verurteilten. Lehrer, Geistliche, Ärzte – die Liste solcher offenen Briefe ist inzwischen lang. dekoder bringt Auszüge daraus und stellt einige der Verurteilten im Moskauer Prozess vor.
Juristen:
Für Rechtsstaatlichkeit
In der Novaya Gazeta wenden sich über 20 Juristen an den Präsidenten des Verfassungsgerichts Waleri Sorkin. Sie machen ihn auf die Verfahrensfehler im Moskauer Prozess aufmerksam sowie auf den allgemeinen Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Russland:
erschienen am 18.09.2019, Original
Ärzte:
Für Meinungspluralismus
Mehr als 1000 Ärzte kritisieren in ihrer Petition die Unrechtmäßigkeit und die Härte der Gerichtsurteile:
erschienen am 18.09.2019, Original
Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche:
Für die Liebe, gegen die Furcht
Über 180 Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche haben den offenen Brief unterschrieben, der auf dem Online-Portal Pravoslavie i Mir erschienen ist:
erschienen am 18.09.2019, Original
Bekannte Persönlichkeiten aus dem Ausland:
Für Grundrechte
Das Team um Michail Chodorkowski hat in der englischsprachigen Zeitung The Moscow Times eine Petition veröffentlicht, die rund 80 namhafte Personen des öffentlichen Lebens aus dem Ausland unterzeichneten. Dazu gehören unter anderem die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sowie die Macher von Game of Thrones David Benioff und Dan Weiss:
erschienen am 17.09.2019, Original
Lehrer:
Für das Lernen aus der Geschichte
Über 3400 Lehrer wenden sich in ihrer Petition gegen die als ungerecht empfundenen Verhaftungen und Verurteilungen:
erschienen am 18.09.2019, Original
Journalistenverband:
Für Meinungsfreiheit
Hunderte Journalisten haben sich im Juni 2019 im Fall Golunow solidarisiert. Nun fordern wieder über 500 Medienschaffende in ihrer Petition auf der Website des russischen Journalistenverbands das Ende von Moskowskoje Delo:
erschienen September 2019, Original
KPRF der Moskauer Stadtduma:
Für das Ende von Repressionen
Die Fraktion der kommunistischen Partei in der Moskauer Stadtduma fordert im Namen aller Abgeordneten die Freilassung von Festgenommenen:
erschienen am 11.09.2019, Original
Buchbranche:
Für das Leben jedes Einzelnen
700 Vertreter der Buchbranche wenden sich gegen die Urteile und fordern eine Revision der Moskauer Prozesse:
Wir fordern die unverzügliche Überprüfung aller Urteile des Moskauer Prozesses, deren himmelschreiende Ungerechtigkeit für jeden denkenden Bürger des Landes offensichtlich ist.
Мы требуем незамедлительного пересмотра всех приговоров по "московскому делу", вопиющая несправедливость которых очевидна всем думающим гражданам страны.
erschienen am 18.09.2019, Original
Verurteilte in Moskowskoje Delo
Viele Unterzeichner dieser Petitionen argumentieren, dass die unverhältnismäßige Härte der Haftstrafen nur der Einschüchterung diene: Diese Strafen sollen abschrecken und Wiederholungstaten verhindern, so die Logik. Daneben kritisieren die Teilnehmer der Solidaritäts-Kampagne auch, dass Beweisstücke gerichtlich nicht zugelassen wurden.
Im Fall von Pawel Ustinow hat sich die Staatsanwaltschaft nun dem öffentlichen Druck gebeugt: Der zu dreieinhalb Jahren Haft Verurteilte kam am 20. September frei.
Gegen weitere Teilnehmer der Massenproteste wird noch ermittelt. Fünf der Teilnehmer sitzen bereits ihre Haftstrafen ab. Vedomosti hat ihre Gerichtsverfahren zusammengefasst:
Danil Beglez
Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat einen Polizisten am Handgelenk gepackt und dabei stark zugedrückt und die Hand zur Seite gedreht, so dass dieser physischen Schmerz erlitt.
Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte war auf dem Weg zur Metro, sah, wie ein Demonstrant festgenommen wurde, hob die von ihm fallen gelassenen Kopfhörer auf und versuchte sie ihm zurückzugeben. Er hat gestanden, der Fall wurde vorgerichtlich behandelt.
Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318)
Urteil: 2 Jahre
Kirill Shukow
Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat versucht, das Visier des Helms eines Mitarbeiters der Nationalgarde anzuheben, und hat ihm dabei physischen Schmerz zugefügt.
Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte hat dem Mitarbeiter an den Helm gegriffen, um dessen Aufmerksamkeit auf eine Frau mit einer Kopfverletzung zu lenken.
Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
Urteil: 3 Jahre
Iwan Podkopajew
Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat Pfefferspray in das Gesicht von Mitarbeitern der Polizei und der Nationalgarde gesprüht.
Darstellung der Verteidigung: Der Angeklagte hat gestanden, der Fall wurde vorgerichtlich behandelt.
Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
Urteil: 3 Jahre
Jewgeni Kowalenko
Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat eine Mülltonne auf einen Mitarbeiter der Nationalgarde geworfen und ihm dadurch physischen Schmerz und moralischen Schaden zugefügt.
Darstellung der Verteidigung: Das Werfen der Tonne war die Reaktion eines schockbedingten emotionalen Ausbruchs darauf, dass die Rechtsschützer ungerechtfertigt hart gegen die Protestierenden vorgingen.
Beurteilung: Anwendung von für Leben und Gesundheit nicht gefährlicher Gewalt gegen einen Staatsvertreter (Strafgesetzbuch Teil 1, Art. 318).
Urteil: 3 Jahre 6 Monate
Konstantin Kotow
Darstellung der Anklage: Der Angeklagte hat am 10. August nach der genehmigten Kundgebung auf dem Sacharow Prospekt an einer nicht genehmigten Aktion im Stadtzentrum teilgenommen, wo er Losungen skandierte und den Fußgänger- und Autoverkehr behinderte.
Darstellung der Verteidigung: Am 10. August verließ der Angeklagte an der Station Kitai-Gorod die Metro, ging schweigend einige Meter auf dem Fußgängerweg, woraufhin er von Polizisten festgenommen wurde.
Beurteilung: Wiederholter Ordnungsverstoß bei der Organisation oder Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung (Strafgesetzbuch Art. 212.1)
Urteil: 4 Jahre