Für den Kreml sind sie Verräter, doch auch im Exil schlägt ihnen nicht selten Ablehnung entgegen: Laut Schätzungen haben seit dem 24. Februar 2022 bis zu einer Million Menschen Russland verlassen. Aus Angst vor Repressionen oder davor, in den Krieg geschickt zu werden, aus Protest gegen den Kreml, aus Scham oder Ekel – die Exilgründe sind zahlreich, ebenso die Zielländer. Viele hat es in die EU oder etwa nach Serbien verschlagen, andere in die südkaukasischen Länder oder in die Türkei. Die zentralasiatischen Staaten sind beliebt, einige fliegen nach Argentinien: Dort geborene Kinder erhalten automatisch die argentinische Staatsbürgerschaft, ihre Eltern können dann ebenfalls recht unkompliziert Argentinier werden.
Manche Exilanten empfinden, dass „Russen die neuen Deutschen“ sind: In ihrer neuen Heimat fühlen sie sich nicht willkommen, die Diskussion, ob es „gute Russen“ gibt, ist wohl ähnlich heftig, wie die Diskussionen über „gute Deutsche“ nach dem Zweiten Weltkrieg – Stichwort kollektive Verantwortung. Andere berichten etwa, dass einige Einheimische in Zentralasien nun den Spieß umdrehen – und sie genauso schlecht behandeln wie Russen die Gastarbaitery aus Zentralasien.
Schon lange vor dem Krieg haben hunderttausende Russen mit den Füßen abgestimmt. Mit der sukzessiven Verschärfung der Repressionen seit der Zerschlagung der Bolotnaja-Bewegung 2011–2012 haben vor allem junge und gebildete Menschen Russland verlassen. Seit dem Beginn der russischen Großinvasion ist weiterer Braindrain zu beobachten – was laut Analysten einerseits Wirtschaftswachstum in die Exilländer bringt, andererseits aber auch Preissteigerungen. Zunehmend werden Russen im Exil als Gentrifizierer wahrgenommen.
Das Bild, das dabei gezeichnet wird, ist jedoch einseitig: Nicht nur junge ITler mit sechsstelligen Jahreseinkünften haben Russland den Rücken gekehrt, auch viele Kreative, Medienschaffende und zivilgesellschaftliche Akteure sind ins Exil gegangen. Der Fotograf Maximilian Gödecke und der Journalist Fabian Schäfer haben fünf von ihnen in der georgischen Hauptstadt Tbilissi aufgesucht. Aus dem Exil heraus bilden sie eine aktive Zivilgesellschaft, die sich ganz unterschiedlich gegen den Krieg und für ihre neue Heimat engagiert.
Agatha, 22, schaut auf das nebelige Tbilissi. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bedrohte und observierte sie, weil ihr Vater in der Opposition engagiert ist. „Am 24. Februar hat mich mein Vater angerufen. Es war sofort klar, dass wir nicht in Moskau bleiben können.“ Die Modedesign-Studentin engagiert sich in einer georgischen Ehrenamts-Gruppe auf Telegram. / Foto © Maximilian Gödecke
Agatha sitzt auf dem Balkon und raucht mit ihrer Mitbewohnerin eine Zigarette. / Foto © Maximilian Gödecke
Ksenija, 35, arbeitete zuletzt für eine Organisation, die russische Beamte bei Fragen der Digitalisierung berät und schult. „Als ich auf Telegram vom Kriegsbeginn gelesen habe, war ich gelähmt. Ich wusste, dass jetzt alles anders wird.“ Seit Herbst engagiert sie sich bei Motskhaleba – eine NGO, die ukrainischen Geflüchteten in Georgien hilft. „In Russland war ich bei einer NGO aktiv, die politische Häftlinge unterstützt. Ich verachte die russische Propaganda – aber was kann ich tun? Menschen helfen, die Hilfe brauchen.“ / Foto © Maximilian Gödecke
Der Kasache Artur, 23, kam für seine Ausbildung als Koch nach Jekaterinburg. Dort eröffnete er eine vegane Bäckerei, die anarchisch organisiert war und als Treffpunkt von Regimekritikern bekannt war. „Eines Tages rief mich die Polizei an, die mich für einen Extremisten hält. Ich würde aus Russland ausgewiesen. Wenn ich das Land nicht freiwillig verlasse, würde ich in Abschiebehaft kommen.“ In Tbilissi gründete er mit Mitstreitern das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. „Ich kann mir ein Leben ohne Aktivismus nicht vorstellen. Wir wollen die vegane Küche in Georgien bekannter machen und einen Raum für linke Gruppen bieten. Alle Trinkgelder spenden wir an die Ukraine.“ / Foto © Maximilian Gödecke
Das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. / Foto © Maximilian Gödecke
Links: Portrait von Artur in seiner Wohnung. / Rechts: Die Theatermacherin Polina stellt die Figuren in ihrem kleinen Theater zurecht. / Foto © Maximilian Gödecke
Polina, 29, kam mit besonderem Gepäck aus Sankt Petersburg nach Tbilissi: Ein kleines Figurentheater. Das brachte sie auch zu ukrainischen Waisenkindern aus Cherson, die aus der Ukraine geflohen sind. „Am Anfang hatte ich total Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich kannte den krassen Hintergrund der Kinder, dass ich aus Russland bin, war gar kein Problem. Wir haben ein kleines Stück mit den Puppen kreiert. Alles war voller Liebe und Hoffnung und Verspieltheit.“ / Foto © Maximilian Gödecke
Polina zieht die Gardine zu. / Foto © Maximilian Gödecke
Der Journalist Danil, 45, hat es seit dem Krieg nicht mehr in Sankt Petersburg ausgehalten – auch wenn er seine Frau und seine Kinder dafür zurücklassen musste. „Ich wollte sofort raus aus Russland.“ In Tbilissi arbeitet er für Paper Kartuli, ein lokales zweisprachiges Online-Magazin. „Georgier:innen und Russ:innen haben oft wenig miteinander zu tun. Wir wollen sie aus ihren Bubbles herausholen.“ Im Keller der Redaktion hat er zusätzlich im Januar eine Bar eröffnet, in der sich vor allem oppositionelle Journalistеn aus Russland austauschen. / Foto © Maximilian Gödecke
Fotografie: Maximilian Gödecke
Text: Fabian Schäfer
Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am: 10.08.2023