Fast die Hälfte der Artikel in der ausländischen Presse berichteten „negativ“ über Russland – zu diesem Schluss kommt Oktopus-1, eine Studie von Rossija Sewodnja. Darin wurden knapp 80.000 Artikel von Medien aus G7-Ländern untersucht, die von Januar bis Ende Juni 2019 erschienen sind. Das Ergebnis der Studie schlägt in die Kerbe, das Ausland würde schlecht über Russland reden, und hat somit auch eine politische Dimension: So ließen offizielle Reaktionen nicht lang auf sich warten. Die russische Gesellschaftskammer jedenfalls nahm die Studie zum Anlass, um eine öffentliche Diskussion über die Rechte ausländischer Medien und Journalisten in Russland anzuregen. Bereits Ende 2017 wurden einzelne Auslandssender wie Golos Ameriki (Voice of America) und Radio Swoboda (Radio Liberty) in Russland zu „ausländischen Agenten“ erklärt.
Die Mitarbeiter des Exilmediums Meduza machte all das hellhörig. Alexej Kowaljow, Leiter des dortigen Investigativressorts, war einst Chefredakteur von InoSMI – InoSMI gehört zu Rossija Sewodnja und übersetzt westliche Presse ins Russische. Kowaljow sah sich die Studie genauer an und fand heraus: Die Untersuchung von Rossija Sewodnja stützt sich vor allem auf britische Medien (die mehr als ein Drittel der gesamten Studie ausmachen). Auffällig viele der untersuchten Artikel in diesen wiederum haben laut Meduza denselben Autor.
Er heißt Will Stewart. Unter seinem Namen, so Meduza, werden allerdings vor allem Geschichten veröffentlicht, die Themen aus russischen Boulevardzeitungen aufgreifen. Allein im ersten Halbjahr 2019 hat Meduza auf den Seiten der Daily Mail knapp 220 Artikel gezählt, die unter dem Namen Will Stewart veröffentlicht wurden.
Das bedeutet nicht nur, dass die „negative“ Berichterstattung, die die Studie beklagt, in Teilen sogar aus russischen Medien übernommen wurde. Es wirft auch die Frage auf: Wer ist Will Stewart und wenn ja, wie viele? Meduza hat sich auf Spurensuche begeben.
William Stewarts Identität ist selbst für die Veteranen unter den Auslandskorrespondenten in den Moskauer Büros ein Rätsel. Nicht ein einziger der von Meduza befragten, zum Teil seit Jahrzehnten in Russland tätigen Journalisten hat ihn je persönlich getroffen oder weiß, wer er ist.
Nicht einmal im Außenministerium der Russischen Föderation scheint man das genau zu wissen – obwohl Stewart offiziell in Russland akkreditiert ist und auf den Seiten des Außenministeriums als Chef des Moskauer Büros der britischen Zeitung Daily Express genannt wird.
Dabei ist William Stewart eine ganz reale – wenn auch ziemlich verschlossene – Person. Er taucht nicht in den sozialen Netzwerken auf; in keiner einzigen Zeitung, für die er arbeitet, ist ein Foto von ihm zu finden. Dafür gelang es Meduza, im britischen Handelsregister eine Firma zu entdecken, als deren Geschäftsführer Stewart fungiert: East2West Limited, eingetragen im Januar 1996. Zur selben Zeit taucht sein Name erstmals in den Akkreditierungslisten der in Moskau tätigen Auslandskorrespondenten auf.
Stewart selbst, den Meduza nach mehreren Anfragen per E-Mail erreicht hat, gab an, seit 1992 in Moskau zu arbeiten. Viele seiner Beiträge, die von ausländischen Medien übernommen werden, nennen die Agentur als Quelle.
Anfang 2019 tauchte auf der Internetplattform Reddit die Frage auf: „Kennt hier jemand die russische Nachrichtenagentur East2West? Falls ja, wie vertrauenswürdig ist sie? Ich bin auf einen Bericht über einen grausamen Mordfall gestoßen, aber alle Versuche, die Originalquelle zu finden, führen auf Seiten aus Russland, die auf East2West verweisen. Merkwürdig, dass gleich mehrere Internetseiten auf eine völlig unbekannte Agentur verweisen.“
Ein anderer Nutzer antwortete: „Ich war auch sehr enttäuscht, als mehrere vermeintlich vertrauenswürdige Nachrichtenseiten in Brasilien, wo ich lebe, einen Bericht über ein Mädchen übernommen haben, das angeblich bei der Explosion eines Mobiltelefons gestorben war. Alle berufen sich auf russische Quellen, die ebenfalls auf diese merkwürdige Phantom-Agentur verwiesen. Ich finde das beängstigend.“
Killermäuse in den Kremltürmen
Will Stewarts beeindruckende Produktivität lässt sich damit erklären, dass die unter seinem Namen veröffentlichten Artikel das Produkt eines ganzen Kollektivs von russischen Journalisten sind, die für seine Agentur East2West News arbeiten. Unter ehemaligen Mitarbeitern hat Meduza endlich Menschen gefunden, die Stewart persönlich kennen. Stewart selbst hat nicht beantwortet, wie viele russische Mitarbeiter für seine Agentur tätig sind, er sagte nur, er arbeite ausschließlich mit „erstklassigen Freelancern aus Russland, den Ländern der ehemaligen UdSSR und Osteuropa zusammen“.
Eine ehemalige Mitarbeiterin, die bis 2011 für die Agentur tätig war, hat Meduza erzählt, wie die Vorbereitungen zu einer Nachrichten-Ausgabe abliefen: „Wir waren mehrere freie Mitarbeiter, am Morgen ging es los mit dem Monitoring: das Wichtigste aus der Welt der Politik, amüsante Ereignisse, Persönlichkeiten, die in Großbritannien von Interesse sind – wie Arschawin, Abramowitsch, der damalige [Premierminister] Tony Blair, Nasarbajew. Und Trash à la Killermäuse in den Kremltürmen. Will wählte die interessantesten Themen aus, ging ihnen nach. Sehr sorgfältig, mit Liebe zum Detail. Mehrere Tage lang, manchmal sogar Wochen, bis sich die Fakten zu einer Geschichte fügten.“
Die ehemaligen Mitarbeiter von East2West News, mit denen Meduza gesprochen hat, lobten Stewarts Professionalität, journalistische Sorgfalt und seine tiefe Russland-Kenntnis. Dabei unterscheiden sich die ersten Reportagen, die Stewart in den 1990ern in Moskau veröffentlichte, deutlich von seinen heutigen Arbeiten: Im Oktober 1992 brachte der Daily Express eine Analyse zum Konflikt zwischen Boris Jelzin und Ruslan Chasbulatow, 1996 folgte ein großes Porträt über Alexander Lebed, der damals als möglicher Jelzin-Nachfolger gehandelt wurde.
Andere Journalisten, die mit seiner Arbeit vertraut sind, bewerten sein Verhältnis zu den Fakten kritischer. Oliver Carroll, der für die britische Zeitung The Independent in Moskau schreibt, machte auf einen Artikel aufmerksam, der am 26. Juni 2019 in der Daily Mail erschien: „Ich war sein Futtervorrat – Russe gleicht Mumie nach einem MONAT in Bärenhöhle. Das Raubtier hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen und als Futter in seine Höhle verschleppt.“ Unter Berufung auf eine Meldung des Nachrichtenportals EADaily berichtete Stewart von dem in der Überschrift genannten Schicksal eines Mannes aus Tuwa namens „Alexander“. Die ursprüngliche Nachricht versah er mit neuen schockierenden Details: Demnach musste der Held den eigenen Urin trinken, um zu überleben.
Der Daily Mail-Artikel war ein Hit in den sozialen Medien: Der Zähler auf dem Internetauftritt der Daily Mail zeigt 72.000 Reposts an. Daraufhin drehte die Geschichte eine zweite Runde durch die russischen Medien, diesmal unter Berufung auf die Daily Mail und Will Stewart. Oliver Carroll veröffentlichte im Independent einen Gegenbericht: Er entlarvte die Story mit der Bärenhöhle als Fake und den ausgemergelten Mann im Video als einen Patienten aus Kasachstan, der an einer schweren Form von Schuppenflechte leidet. Daraufhin änderte die Daily Mail den Inhalt und die Überschrift des Artikels. In der neuen Version beruft sich Stewart auf die Agentur East2West News, die mit dem Gesundheitsministerium in Tuwa gesprochen und herausgefunden habe, der Mann sei in Wirklichkeit Psoriasis-Patient. Dass die Agentur ihm selbst gehört, wird dabei nicht erwähnt.
Westliche Medien berichten
Stewarts Artikel, die auf russischen Quellen basieren, werden oft von genau diesen Quellen wieder aufgegriffen und neu belebt – dann mit dem respekteinflößenden Verweis auf „westliche Medien“. So brachte beispielsweise [die russische Nachrichtenagentur] Regnum 2016 eine Meldung unter folgender Überschrift heraus: „Mirror: Putin will Sibirien per Zeppelin erschließen“. Darin heißt es, unter Berufung auf einen Artikel von Will Stewart in der Daily Mail: „‚Putin setzt wieder auf den Zeppelin, so die britische Zeitung The Daily Mirror.“ (In Wirklichkeit ist in Stewarts Artikel keine Rede davon, dass Putin „auf den Zeppelin setzt“.)
Weiter berichtet Regnum: „Der russische Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Wladimir Putin hat ein Projekt zum Bau eines Luftschiffs bewilligt, das der Erschließung Sibiriens dienen soll. Die Kosten für einen dieser futuristisch anmutenden Zeppeline (Arbeitsname: East2West) belaufen sich auf rund 23 Millionen Pfund.“
Natürlich existiert überhaupt kein futuristischer Zeppelin, der East2West heißen und den Hohen Norden mit der Transsibirischen Magistrale verbinden soll. Der Autor des Regnum-Artikels hat die Bildunterschrift im Daily Mirror, wo der Urheber genannt wird, fälschlicherweise für den Namen des Luftschiffs gehalten: East2West – William Stewarts Agentur.
Dabei stammen die Bilder im Daily Mirror gar nicht von ihm. Die umgekehrte Bildersuche bei Google führt auf die Internetseite Siberian Times, die – am selben Tag wie der Daily Mirror – einen fast identischen Bericht über gemeinsame Pläne des Sicherheitsrates und der Russischen Akademie der Wissenschaften herausbrachte, abgelegene Gebiete mithilfe von Heißluftballons zu erkunden. Die Illustrationen auf der Seite der Siberian Times sind mit RosAeroSystems unterschrieben.
Das Phänomen Siberian Times
Das Internetportal Siberian Times sitzt in Nowosibirsk und veröffentlicht Artikel in englischer Sprache, die Will Stewart in seinen Beiträgen häufig zitiert. Obwohl auf der Seite das Impressum fehlt, ist die Chefredakteurin der Siberian Times bekannt: eine gewisse Swetlana Skarbo, Absolventin der Londoner City University und ehemalige Mitarbeiterin des Daily Express.
Im britischen Handelsregister taucht Swetlana Skarbo als ehemalige Geschäftsführerin der Agentur East2West auf (im Juli 2018 übergab sie die Geschäfte offiziell an William Stewart). Verschiedene Quellen behaupten, Siberian Times sei ein Projekt von Stewart persönlich, der es mit den Honoraren für seine Artikel bei den führenden britischen Zeitungen betreibt – in denen er wiederum auf seine eigene Webseite als Quelle verweist. Stewart selbst wollte sich zu seiner Verbindung zu Siberian Times oder Swetlana Skarbo nicht äußern und riet, sich mit allen Fragen direkt an sie zu wenden. Eine Antwort liegt der Redaktion bislang nicht vor.
Von der Politik zum Boulevard
Der britische Journalist und Propagandaforscher Peter Pomeranzew ist einer der wenigen, die Stewart persönlich kennen. 2008, als Pomeranzew ebenfalls in Moskau arbeitete, half Stewart bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm von Channel 4 über den „dicksten Jungen der Welt“ – Dshambulat Chachotow aus Kabardino-Balkarien. Pomeranzew erklärt Stewarts Werdegang – weg von ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen hin zur Regenbogenpresse – mit dem Wandel in der Redaktionspolitik des Daily Express selbst: „Er [William Stewart] war damals so etwas wie der politische Redakteur des Daily Express. Aber da war das Blatt auch noch eine halbwegs ernstzunehmende Zeitung für die Mittelschicht, sie gehörte nicht zur Kategorie der Red Tops wie The Sun oder der Daily Mirror.“ Aber irgendwann sei auch der Daily Express zu diesem Format übergegangen, meint Pomeranzew, wobei der reißerische Charakter der Schlagzeilen vergleichbare Blätter bald noch übertrumpfte.
Stewart selbst äußerte gegenüber Meduza, er beziehe das Ergebnis der Studie von Rossija Sewodnja nicht auf sich. Die darin erwähnten Artikel hätten es wegen ihrer „exotischen“ Überschriften hineingeschafft, für die aber nicht er verantwortlich sei, sondern seine Redakteure. Außerdem sagte Stewart: „Überall auf der Welt wird Auslandskorrespondenten negative Berichterstattung und Voreingenommenheit vorgeworfen. Wie Sie wissen, passiert das russischen Journalisten, die in Großbritannien arbeiten, genau so.“
Auf die Frage, warum es in seinen Beiträgen von blutigen Details und entstellten Kindern wimmelt, reagierte Stewart mit Unverständnis: „Wenn Sie den Artikel über das Mädchen meinen, das ohne Gesicht geboren wurde, dann bin ich froh, dass ich mit Hilfe der Leser wenigstens einen kleinen Teil der Summe sammeln konnte, die für die Behandlung in Russland und Großbritannien nötig war.“