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„Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?  

Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.

Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.

Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin  trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert. 

Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.

Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien? 
Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten. 

Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen. 

Источник Ljudi Baikala

Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.

Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.   

„Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“

Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“

Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle. 
An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. 

Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert. 
Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins. 
Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter. 
Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam. 

An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand. 

Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft

Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter. 

Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten. 

Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk. 
Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft. 
Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut. 

Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.

Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände

Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen. 

Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
„Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
„Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
„Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals
„Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.   

Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen

In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht. 

Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
„Wer sind Sie?“
„Presse.“
„Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
„Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“  

Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.

Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.

„Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
„Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
„Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“  

‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht 

Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend. 
Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
       
Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht. 
Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden. 
„Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“

Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen 

Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.

Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“   
Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.

Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen

Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.   

Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.   

Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren. 
„Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“

Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘ 

Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
„Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat. 
Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause. 

Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“

Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.

2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab. 

Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.     

Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘

Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.

Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.  
Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“ 
Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.   

Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken. 

„Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“    

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Rechtsstaatlichkeit

Immer wieder belegt Russland in internationalen Rankings zur Rechtsstaatlichkeit Plätze in den hinteren Reihen. So auch im Rule of Law Index 2019 des World Justice Project: Hier findet sich Russland auf Rang 88 von 126 Staaten.1 Auffallend in der Analyse sind Russlands Platzierungen in zwei Kategorien: Bei Menschenrechten befindet sich das Land punktgleich mit Sambia und Tansania auf Platz 104, in der Kategorie „Bindung von Regierung und Staat an Recht und Gesetz“ steht Russland auf Rang 112, punktgleich mit Honduras.

Ist Russland also kein Rechtsstaat, obwohl die Verfassung von 1993 dies erklärt und Russlands Mitgliedschaft im Europarat ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit mit sich bringt? Zwar entspricht die Rechtswirklichkeit in keinem Land der Welt allen Anforderungen des Rechts. Doch ist die Kluft zwischen Recht und Rechtswirklichkeit laut World Justice Project in den meisten Staaten kleiner als in der Russischen Föderation. Im Kreis der Europarat-Mitglieder schneidet allein die Türkei noch schlechter ab.

Der russische Begriff prawowoje gosudarstwo ist eine Lehnübersetzung vom deutschen „Rechtsstaat“. Beide Begriffe sind etwas missverständlich. Denn durch das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts (Rule of Law) verkehren sich die historischen Voraussetzungen: Freiheit und Recht existieren nicht mehr, weil sie ein starker Staat garantiert, sondern im Gegenteil – der Staat existiert, weil Freiheit und Recht ihn erschaffen. Recht ist Grundlage allen staatlichen Handelns. Handelt ein Staat außerhalb des rechtlich vorgegebenen Rahmens, dann handelt er nicht rechtsstaatlich.

Schwammige Rechtsbegriffe

De jure bietet die russische Verfassung auf vielen Ebenen einen starken Schutz vor staatlicher Willkür. Zum Beispiel erhebt sie den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Grundrecht aller Russen. 
De facto besteht in Russland aber ein starkes Spannungsverhältnis zwischen Staatsgewalt und Verfassung: Sehr oft kippt es zugunsten der Staatsgewalt, unter anderem wegen der Schwäche solcher Kontrollorgane wie des Verfassungsgerichts oder des Parlaments. Die russische Staatsgewalt nutzt Recht und Gesetz oftmals allein als Mittel des Machterhalts. Sowohl Parlament als auch Justiz stützen diese Herangehensweise eher, als dass sie ihr entgegentreten.

Damit gilt in Russland nur eines von sechs wesentlichen Elementen, die die Venedig-Kommission herausgearbeitet hatte – nämlich nur Gesetzlichkeit auf formeller Ebene. Die Kommission dagegen hatte etwa auch festgehalten, dass der Gesetzgebungsprozess transparent, nachvollziehbar und demokratisch sein muss. Rechtssicherheit muss gewährleistet sein, es gibt unter anderem auch ein Willkürverbot, und jeder muss Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten haben. Neben der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte besteht auch ein Diskriminierungsverbot, das unter anderem Prinzipien des Pluralismus garantiert.2

Die Verfassungen der meisten Mitgliedstaaten gehen über diese Anforderungen und Mindestmaße an Rechtsstaatlichkeit auf der einen oder anderen Ebene deutlich hinaus. In Russland dagegen sind Gesetze zwar formell Grundlage staatlichen Handelns, diese Gesetze – und damit letztlich wiederum auch das staatliche Handeln – entsprechen aber faktisch nicht den materiellen Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit.

Schwammige Definitionen

Daraus haben sich in den vergangen Jahren viele Probleme entwickelt, die auch internationale Aufmerksamkeit erregten. Schwammige Definitionen der Rechtsbegriffe, die bei entsprechender Argumentation beliebig angewendet werden können, wurden in entscheidenden Gesetzen implementiert. So kann zum Beispiel ein kritischer Artikel als extremistisch eingestuft werden, wenn darin von „ukrainischer Krim“ die Rede ist – stellt er doch die gesetzmäßig verankerte territoriale Integrität Russlands in Frage. 
Auch der Begriff der politischen Tätigkeit ist im sogenannten Agentengesetz äußerst vage formuliert: Darunter fällt beispielsweise auch die Tätigkeit des Meinungsforschungsinstituts Lewada. Länger bekannt sind die Gummiparagraphen zum sogenannten Chuliganstwo (Rowdytum) oder zur Verletzung religiöser Gefühle, die bei der Verurteilung von Pussy Riot-Mitgliedern Anwendung fanden. Seit 2013 gibt es auch den Rechtsbegriff der sogenannten Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Verhältnissen. Damit indizierte beispielsweise die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor 2018 die Website Gay.ru und setzte sie auf die schwarze Liste mit gesetzwidrigen Medien und Inhalten. Neueren Datums ist die missverständliche Legaldefinition von sogenannten Falschnachrichten oder respektlosen Äußerungen über Vertreter der Staatsmacht im Internet. Beide Gesetze traten im März 2019 in Kraft, bei konsequenter Anwendung werden sie den Meinungspluralismus in Russland zusätzlich einschränken.

Kein politischer Wert?

Da die Eingriffstatbestände dieser Gesetze derart weit und unbestimmt formuliert sind, standen sie immer wieder wegen der Gefahr der Willkür zur Diskussion. In Hinsicht auf Agentengesetze unternahm der Gesetzgeber Präzisierungsversuche, weitete den Begriff jedoch letztlich aus, anstatt den Interpretationsrahmen zu verengen. Angesichts der Vielzahl dieser unbestimmten Regelungen und des offenkundigen Unwillens des Parlaments, auf die Kritik an den genannten Gesetzen zu reagieren, ist der Schluss naheliegend, dass die Rechtsstaatlichkeit in Russland keinen politischen Wert darstellt.

Dass nicht nur eine Gefahr der staatlichen Willkür besteht, sondern die Gesetze tatsächlich willkürlich Anwendung finden, zeigen viele, teils höchstinstanzliche Gerichtsverfahren zu den genannten Tatbeständen.3 So wurde ein Tierschutzverein zunächst zum ausländischen Agenten erklärt, obwohl das Gesetz den Tierschutz als „nicht-politisch“ deklariert, weil er dem Gouverneur eine Jagdsaison vereiteln wollte. Die Rechtsanwendung ist uneinheitlich und hängt stark von der jeweiligen Person oder Gruppe ab, auf die das Gesetz angewendet werden soll. Andersdenkende generell – aber insbesondere Oppositionelle, Minderheiten und Menschenrechtsorganisationen – leiden am meisten unter den Möglichkeiten, die die vagen Gesetze der Staatsgewalt bieten.

Vor allem die Rolle der Staatsanwaltschaft ist dabei von Bedeutung. Nach dem Ende der Sowjetunion büßte sie Kompetenzen ein, ist jedoch noch immer eine einflussreiche Einrichtung in direkter Nähe zur politischen Machtzentrale. Anträge der Staatsanwaltschaft werden von Richtern häufig nur „durchgewunken“. Eine selbständige, geschweige denn kritische Auseinandersetzung mit der Rechtseinschätzung der Staatsanwaltschaft findet oftmals nicht statt. Die Justiz erscheint somit als verlängerter Arm der Exekutive. Die Gewaltenteilung ist an dieser Stelle faktisch aufgehoben.

Abhängigkeiten der Richter

Sowohl die russische Verfassung als auch der Europarat legen die Unabhängigkeit der Richter als grundlegendes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit fest. Doch auch der Justizapparat konnte sich nach seiner Reform 1991 nicht grundlegend verändern. So werden Richter in Russland vom Staatspräsidenten ernannt. Die berufenen Richter stehen in starker Abhängigkeit zu ihrem Gerichtspräsidenten, der frei über die Zuweisung der Fälle entscheidet und selbständig und auf Anweisung informelle Anweisungen zur Urteilstendenz gibt. Eine Weigerung den Weisungen zu folgen, kann disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Zudem kann einem Richter das Verfahren in jedem Stadium entzogen werden. Es gibt viele Fälle, in denen Richter und auch Gerichtsvorsitzende, die auf unabhängigen Entscheidungen beharrten, ihre Posten verloren. Zudem ermöglicht ein sogenanntes Aufsichtsverfahren der Staatsanwaltschaft, gegen jedes Urteil zu protestieren, wonach die richterliche Entscheidung überprüft werden kann. Einem karriereorientierten Richter werden damit Anreize geboten, sich auch ohne direkte Anweisung bei seinem Vorsitzenden zu erkundigen, welches Urteil das geringste Risiko birgt, wieder aufgehoben zu werden. Denn dieser entscheidet zu guter Letzt auch über die Zuweisung von Bonuszahlungen und Dienstwohnungen.

Das russische Verfassungsgericht sorgte zu Beginn seiner Tätigkeit mit mutigen Urteilen dafür, dass man es als die „Krönung des Rechtsstaats“ wahrnahm.4 Aus der Verfassungskrise 1993 ging es jedoch geschwächt hervor und entwickelte sich in der Regierungszeit Putins zu einem Verfechter der Machtvertikale. Nahezu absurderweise vertritt insbesondere der Verfassungsgerichtspräsident Waleri Sorkin eine Konzeption des starken Staats, dessen Schutz im Mittelpunkt stehen müsse, da dieser (und nicht die Verfassung) der Garant der Stabilität und die Voraussetzung für die Freiheit sei. Sorkin ist zudem der Auffassung, dass Minderheitenrechte und der Schutz von Andersdenkenden nur soweit gehen dürfen, wie es die Mehrheit wünsche. 
Beide Positionen sind mit dem Pluralismus des modernen Rechtsstaats – und der russischen Verfassung – unvereinbar. Zwar sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts immer noch wichtig. Die persönliche Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtspräsidenten spiegelt sich jedoch deutlich in der Spruchpraxis des Gerichts, das sich in politischen Fragestellungen im Zweifel nicht gegen die Machthaber stellt.

Demokratischer Sonderweg?

Neben diesen institutionellen Schwächen, erscheint die Vielfalt der Verfassungskritik als problematisch. Sowohl der staatsnahe als auch der regimekritische Teil des Diskurses drehen sich immer um die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen: Während die eine Seite die Verfassung als Exzess des Individualismus und Liberalismus kritisiert, sehen die Anderen die Machtkonzentration beim Präsidenten und somit die autoritären Entwicklungen des Landes als verfassungskonform. In dieser Kritik wird der Bedeutungsverlust der Verfassung und des in ihr verbrieften Rechtsstaats in Russland deutlich.

Oftmals wird in diesem Zusammenhang auf die rechtsnihilistischen Traditionen Russlands verwiesen, die letztlich von Slawophilie bis zur  sogenannten souveränen Demokratie reichen sollen. Außerdem argumentieren die Kritiker, dass die Werte der Verfassung von 1993 keine eigenen seien, sondern aus „dem Westen“ übernommen oder durch ihn aufgezwungen worden seien.

Tatsächlich ist nach dem Ende der Sowjetunion zwar viel Neues aus dem Westen übernommen worden, demokratische Ideen und das Konzept der Rechtsstaatlichkeit waren dabei aber nicht vollkommen fremd: Sowohl in sowjetischer als auch zarischer Zeit spielte die Idee des Rechtsstaats im juristischen Diskurs immer wieder eine bedeutende Rolle. Das Narrativ der rechtsfremden russischen Kultur ist auch deshalb ein Klischee, weil sich russische Rechtsgelehrte schon im 19. Jahrhundert intensiv mit rechtlichen Ideen und Konzepten ihrer Zeit auseinandersetzten und sich intensiv an der internationalen rechtswissenschaftlichen Debatte zur Rechtsstaatlichkeit beteiligten: Sei es um die Ideen zu unterstützen, sei es, um ihnen zu widersprechen. Dieser Austausch kann einzig als Ausdruck des damaligen politischen Willens zur Öffnung verstanden werden.

Durch die Oktoberrevolution brach der den Rechtsstaat unterstützende Teil des öffentlichen Diskurses freilich weg. Nichtsdestotrotz beschäftigten sich die sowjetischen Rechtswissenschaften weiterhin mit dem Rechtsstaat, wenngleich als dessen Opponenten. Das Konzept wurde nach dem Ende der Sowjetunion also keineswegs von der westlichen Staatenwelt ausgeborgt, es kam vielmehr zurück in einen konstitutionellen Kontext, in dem es sich samt seiner positiven Bewertung vor 1917 bereits befand.

Klare Worte für die Entwicklung des Rechtsstaats in Russland findet die ehemalige Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa. Sie meint, dass es nicht die Besonderheiten der russischen Kultur oder Mentalität seien, die den Rechtsstaat in Russland unterminierten. Vielmehr, so Morschtschakowa, würden die Gegenreformen seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin die Rechtsstaatlichkeit untergraben. Insgesamt schlägt das Pendel der Bewertung von Recht und Rechtsstaat in Russland seit dem Anfang der 2000er Jahre zurück ins Negative.

Diese Tendenz setzt sich auch auf völkerrechtlicher Ebene fort. Bisher schuf der EGMR einen rechtsstaatlichen Ausgleich für die innerrussischen Defizite. Seit der Annexion der Krim ist das Verhältnis Russlands zum Europarat aber gestört: Russland wurde das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung entzogen, als Reaktion setzte es die Beitragszahlungen an den Europarat aus. Seit 2015 müssen EGMR-Urteile außerdem vom Verfassungsgericht darauf geprüft werden, ob sie nicht gegen die russische Verfassung verstoßen – eine gravierende Einschränkung der Entscheidungen des EGMR in Russland.

Vor diesem Hintergrund war es für viele überraschend, als Russland im Juni 2019 sein Stimmrecht im Europarat zurück bekam. Eigentlich war das Ende des Entzugs an eine Bedingung geknüpft: die Rückgabe der Krim. Da Russland dadurch allerdings immer mehr aus dem europäischen Menschenrechtsrahmen fiel, entschieden die Abgeordneten, diese Sanktionen gegen Russland wieder rückgängig zu machen.

Befürworter dieses Schrittes argumentieren, Russlands Abwendung von Europa sei damit zumindest zum Teil gestoppt worden. Demgegenüber betonen die Kritiker, dass die europäische Politik vor Russland eingeknickt sei – schließlich habe das Land keinen Schritt zur Veränderung der Situation unternommen. Viele russische Menschenrechtler sprachen sich dagegen schon im Vorfeld für die Aufhebung der Europarat-Sanktionen aus: Der Gang nach Straßburg, so die Argumentation, sei für russische Bürger die letzte Instanz für ihren Menschenrechtsschutz.

Stand: 25.06.19


1. World Justice Project: Rule of Law Index 2019 
2.European Comission for Democracy through Law (Venice Comission): Rule of Law Checklist 
3.Schmidt, Carmen (2006): Der Journalist als potentieller „Extremist“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 409-415; Safoklov, Yury (2012): Das Pendel des russischen Versammlungsrechts, ebd., S. 67-89; Reeve, Benjamin: Kommentar zum Urteil des Verfassungsgericht der Russischen Föderation vom 08. April 2014, Nr. 10 : Paragraph „Ausländische Agenten“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 372-376 
4.Nußberger, Angelika (2011): Verfassungsgerichtsbarkeit als Krönung des Rechtsstaats oder als Feigenblatt autoritärer Regime? Zu den rechtskulturellen Voraussetzungen für das effektive Wirken von Verfassungsgerichten am Beispiel des Russischen Verfassungsgerichts, JuristenZeitung, 65. Jahrg. Nr. 11, S. 533-540 
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