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Wörterbuch des Krieges

Folgt man der Berichterstattung in russischen Staatsmedien, so führt Russland keinen Krieg in der Ukraine, sondern setzt eine „militärische Spezialoperation“ um, um die Zivilbevölkerung zu beschützen. Die Ukraine würde demnach zum „Hauptzentrum des ultrarechten Extremismus“ und in Kyjiw regiert eine „Marionettenregierung", die von „Angelsachsen" gelenkt wird. Das Ziel der „Angelsachsen" bestehe darin, „das einige und unteilbare Volk der Russen und Ukrainer“ zu spalten, was an sich jedoch nur der erste Schritt für die volle Ausrottung der russischen Nation sei. Russische Soldaten kämpfen demzufolge in der Ukraine gegen Nazis und Terrormilizen und falls es für die russische Armee schlecht laufen sollte, zieht sie als „Geste des guten Willens" die Truppen zurück. 

Das Online-Medium Mediazona hat die wichtigsten Wörter und Begriffe gesammelt und eingeordnet, mit denen russische Beamte und Staatsmedien den russischen Angriffskrieg erklären. dekoder hat einen Auszug aus diesem Wörterbuch übersetzt: von A wie „Angelsachsen“ bis Z wie „Zwangsumregistrierung“.

Источник Mediazona

Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

A

Angelsachsen (anglosaksy). Laut der russischen Propaganda ein bestehender Zusammenschluss von diversen englischsprachigen Ländern. Historisch gesehen: zwei Stämme im Süden der Britischen Inseln, die nach der Invasion von 1066 von den Normannen erobert und assimiliert wurden.  

Anti-Russland (anti-Rossija). Auch „Projekt Anti-Russland“. Herkunft vermutlich: Anpassung des Begriffs „antisowjetisch“ an die neuen Realia. Etwa ein halbes Jahr vor dem 24. Februar 2022 räsonierte Putin ausführlich über die Ukraine als „Anti-Russland“.

Antirussische Enklave (antirossiiski anklaw). Eine territoriale Einheit, die Wladimir Putin am 1. September 2022 im Rahmen der öffentlichen Unterrichtsstunde „Gespräche über das Wichtige“ ↓ in Kaliningrad erwähnte. Die Liquidation dieser Enklave, so die damals erstmals verkündete Version, sei das Ziel der sogenannten „Spezialoperation“, obwohl Putin in seiner Rede am 24. Februar gesagt hatte, dass „die Volksrepubliken im Donbass Russland um Hilfe gebeten“ hätten und das Ziel der Offensive der Schutz ihrer Bewohner sei.

Atomterror (jaderny terror). Häufige Formulierung in den gegenseitigen Beschuldigungen der russischen und ukrainischen Seite, wenn es um den Beschuss des Kernkraftwerks Saporishshja geht.

Aufträge ausführen (wypolnjat sadatschi). Kämpfen; an Kriegshandlungen teilnehmen. Der Begriff wird häufig in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums und in Nachrufen auf die in der Ukraine gefallenen Soldaten verwendet.

Ausländischer Agent (inostranny agent). Eine Person bzw. Organisation, deren Tätigkeit der Regierung extrem missfällt oder die sich gegen den Krieg ausspricht.

Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

B

Banderowzy/Benderowzy/Binderowzy. Ukrainische Nationalisten, die Stepan Bandera als ihren Held verehren. Meistens als „Benderowzy“ oder „Binderowzy“ ausgesprochen. Vermutlich ein Erbe der sowjetischen Leitfäden des KGB, verstärkt durch den Einfluss der bekannten Film-Komödie Solotoi teljonok.

Befreiung (oswoboshdenije). Besetzung von Ortschaften in der Ukraine.

Bunker-Opa (bunkerny ded). Spitzname, der Putin seit der Hochphase der Corona-Pandemie in Russland anhängt. Der Begriff erlebte nach Beginn des Angriffskrieges eine Renaissance angesichts von Spekulationen über Putins geheime Bunker, in denen er sich versteckt halten soll. Bedeutung: inkompetent, durch vorsätzliche Isolation problemlösungsvermeidend. Die russische Propaganda benutzt den Begriff wiederum für den ukrainischen Präsidenten Selensky, weil er sich angeblich entweder in einem Keller versteckt oder seine Videos von Polen aus aufnimmt.

C

Canceln der russischen Kultur (otmena russkoi kultury). Absage von Konzerten russischer Kulturschaffender im Ausland, die den Krieg öffentlich befürworten. Achtung: Das Absagen von Konzerten von Künstlern, die in Russland gegen den Krieg auftreten, gilt nicht als „Canceln der russischen Kultur“.

D

Demilitarisierung. Gleichbedeutend mit „Denazifizierung“ ↓. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

Denazifizierung. Gleichbedeutend mit „Demilitarisierung“ ↑. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

Desatanisierung. Eine spontane Wortbildung, mit der man die „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑ ersetzen wollte. Hat sich nicht eingebürgert.

Deukrainisierung. Die Weiterentwicklung von „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑.

E

Entscheidungszentren (zentry prinjatija reschenii). Tatsächlich weiß niemand wirklich, was das ist. Nach zig Ankündigungen von „Angriffen auf Entscheidungszentren“ entpuppen sich die Ziele der Raketenschläge meist als Transformatoren. Eine Zeitlang kursierte der Ausdruck „Angriffe auf Entscheidungszentren auf der Bankowa“, aber das verleiht der Ukraine eine Subjekthaftigkeit, die der Botschaft der Propaganda widerspricht, Kyjiw sei nichts als eine Marionette in den Händen des „kollektiven Westens“ ↓. Möglicherweise ist der „Washington-Obkom“ ↓ gemeint, aber das ist unsicher.

Exaltierte, blutrünstige Clowns (eksaltirowannyje, krowawyje klouny). Russlands Feinde, die eines Tages „schlagartig vom Jüngsten Gericht ereilt“ werden, so der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Dimitri Medwedew.

F

Fakes über die russische Armee (feiki o rossiiskoi armii). Syn. „das öffentliche Verbreiten von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation“ ↓.

Faschismus (faschism). Ein Wort, das in der russischen Propaganda alles Mögliche bezeichet, außer den tatsächlichen Faschismus – ein antiliberales Regime, das auf Revanchismus, Führerkult und der uneingeschränkten Macht des Staates aufgebaut ist.

Filtration (filtrazija). Durchsuchung und Verhör ukrainischer Staatsbürger beim Verlassen der besetzten Gebiete. Häufig unter Folter.

Fünfhunderter (ptjatisotyje). Soldaten, die den Kampf in der Ukraine verweigern. Viele von ihnen werden wegen Dienstverweigerung verurteilt. Der Begriff vervollständigt die Liste der „Zweihunderter“ (Tote) und „Dreihunderter“ (Verwundete).

G

Gespräche über das Wichtige (rasgowory o washnom). Unterrichtsfach an russischen Schulen, in dem Kinder über den Krieg in der Ukraine erzählt bekommen. Bei Nichterscheinen droht Schulverweis.

Geste des guten Willens (shest dobroi woli). Rückzug der russischen Truppen von der Schlangeninsel (Insel Smeiny) Anfang des Sommers nach dem Untergang des Kreuzers Moskwa und regelmäßigen erfolgreichen Beschüssen der Insel sowie Schiffen der Schwarzmeerflotte durch die ukrainische Armee. Siehe „peregruppirowka“ ↓, Umgruppierung.

Goida-a-a-a-a! In der Version von Iwan Ochlobystin handelt es sich um einen „altrussischen Ausruf“. Der Schauspieler verwendete ihn in seiner schillernden Rede anlässlich des Konzerts zu Ehren der Angliederung der DNR, LNR und der Oblaste Cherson und Saporishshja. Vermutlich ist die Wiederentdeckung dieses Schlachtrufs inspiriert durch Vladimir Sorokins Roman Der Tag des Opritschniks.

Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

H

Helden-Schultisch (parta geroja). Schultische mit Porträts von russischen Helden, die die Partei Einiges Russland in den Schulen gefallener Soldaten installiert.

Hybrider Konflikt (gibridny konflikt). Das Zusammenspiel von verschiedenen Formen der militärischen Konfrontation, von Kampfhandlungen bis hin zu verdeckter Sabotage und psychologischer Beeinflussung des Gegners. In russischen Schulen und Strafkolonien wird ein Fach mit diesem Namen unterrichtet.

I

Importsubstitution (importosameschtschenije). Der Versuch, aus dem Westen importierte Waren durch einheimische Produkte zu ersetzen. Oft werden chinesische Markenzeichen durch eigene überklebt oder sogar Waren von AliExpress mit Stoff getarnt [gemeint ist ein chinesischer Roboterhund, der mit einem schwarzen Stoff überzogen auf der Rüstungsmesse Armija-2022 als russische Innovation präsentiert wurde – dek].

J

Jugendarmee (junarmija). Der private Komsomol des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, der im vergangenen Jahr endlich seine Bestimmung gefunden hat: Kinder und Jugendliche halten Ehrenwache bei den Beisetzungen der „auf dem Territorium der Spezialoperation ↓“ Gefallenen.

Junta (chunta). Begriff, der die ukrainische Regierung charakterisieren soll. Von offiziellen russischen Vertretern und der Propaganda verwendet seit der Flucht von Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch aus Kyjiw.

K

Knall (chlopok). Euphemismus für Explosion. Der Begriff existierte auch vor dem 24. Februar 2022, erlebte jedoch dank der zunehmenden Häufigkeit der „chlopki“ einen Aufschwung.

Kollektiver Westen (kollektiwny sapad). In der russischen Elite gebräuchlicher Ausdruck, der eine bösartige Koalition europäischer Länder bezeichnet, „die zunehmend bemüht ist, Russland einzudämmen“. In der Lesart von Außenminister Sergej Lawrow gehören zu diesen Ländern „die USA und ihre Satelliten“.

Kriegskorries (wojenkory). Korrespondenten staatlicher Fernsehkanäle, deren Beruf nach Ansicht der russischen Propaganda „nicht minder gefährlich ist als der der Soldaten“ und deren Ziel es ist, „den Hass auf den Feind zu schüren“.

M

Militärische Spezialoperation (spezialnaja wojennaja operazija). Krieg.

N

Nicht freundschaftlich gesinnte Länder (nedrushestwennyje strany). Alle Länder, die den russischen Überfall auf die Ukraine nicht unterstützen.

O

Öffentliche Verbreitung von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation (publitschnoje rasprostranenije loshnoi informazii o Woorushonnych silach Rossiiskoi Federazii). Paragraph im Strafgesetzbuch; bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug. Betrifft jede Äußerung, die den Berichten des Verteidigungsministeriums widerspricht. Das sensibelste Beispiel für „Falschinformation“ sind Äußerungen zu den Massenmorden in Butscha [siehe Verurteilung von Ilja Jaschin – dek].

P

Planmäßige Umgruppierung der Truppen (planowaja peregruppirowka woisk). Rückzug. Diese Formulierung wurde von den Chefs der russischen Besatzungsbehörden und vom Verteidigungsministerium beim Abzug der russischen Truppen aus den Oblasten Charkiw und Cherson verwendet. Beim Rückzug aus der Oblast Kyjiw und Tschernihiw Ende März verwendete das Verteidigungsministerium die Formulierung „Reduzierung der Kampfaktivitäten“. Siehe auch „Geste des guten Willens“ ↑.

Präzisionsschläge (wyssokototschnyje udary). Das, womit die russische Armee in der Version des Verteidigungsministeriums Militärobjekte in der Ukraine zerstört (Wohnhäuser und zivile Opfer ausgeschlossen).

Provokation (provokazija). Alles Mögliche.

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R

Rauchentwicklung (sadymlenije). Euphemismus für Feuer. Der Begriff existierte lange vor dem Angriffskrieg, erlebte mit seinem Ausbruch jedoch eine Renaissance.

Russophobie (russofobija). Mit diesem Begriff wird erklärt, warum die „nicht freundlich gesinnten Länder“ ↑ die „militärische Spezialoperation“ ↑ nicht unterstützen.

S

Schmutzige Bombe (grjasnaja bomba). Verteidigungsminister Sergej Schoigu erwähnte sie im November in Telefongesprächen mit seinen westlichen Amtskollegen. Er sagte, die Ukraine habe den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ vorbereitet, um Russland für den Einsatz von Atomwaffen verantwortlich zu machen. Später verschwand der Begriff wieder aus der offiziellen Rhetorik.

T

Teilmobilmachung (tschastitschnaja mobilisazija). Massenhafte Einberufung von Männern im arbeitsfähigen Alter in den Krieg, die am 21. September von Putin ausgerufen und formell bis heute nicht beendet ist.

Territoriale Unversehrtheit. Das, was in Russland per Gesetz nicht angefochten werden darf, und zum Schutz dessen Putin droht, „alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen“.

U

Ukrainische Nationalisten (ukrainskije nazionalisty). Menschen, die sich gegen die russische Invasion mit der Waffe in der Hand wehren, aber auch Zivilisten, die mit der Okkupation unzufrieden sind. Meist in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums zu finden – selbst nach fast einem Jahr seit Beginn des Angriffskriegs kann Russland nicht zugeben, dass es mit einem Land und einer Armee kämpft und nicht mit einer „Junta“ ↑ oder „Bandentruppen“.

Umbau der Wirtschaft (perestroika ekonomiki). Das fortdauernde Existieren Russlands unter den westlichen Sanktionen.

V

Verehrte Partner (uwashajemyje partnjory). Euphemismus für „nicht freundschaftlich gesinnte Länder“ ↑ und den „kollektiven Westen“ ↑. Vor dem 24. Februar 2022 oft von Putin verwendet, jetzt ironisch von seinen Befürwortern.

Vereinfachte Automobilmodelle (uproschtschennyje modeli awtomobilei). Autos mit „reduzierter Ausstattung“, deren Produktion der Hersteller AwtoWAS im August angekündigt hat. Zuvor hatte die russische Regierung erlaubt, Autos ohne ABS, ESP und Airbags auf den Markt zu bringen.

Verweigerer (uklonist). Jemand, der den Einzug in die Armee konsequent vermeidet. Seit dem 24. September gelten Änderungen im Gesetzbuch, die die Strafen wegen Dienstverweigerung, Fahnenflucht und der Beschädigung oder Vernichtung von Waffen verschärfen.

Vorfall, der nicht mit der militärischen Spezialoperation  zusammenhängt (inzident, ne swjasanny so spezialnoi wojennoi operazijei). Eine Phrase, die man noch im Frühjahr verwendete, um die russische Bevölkerung in den an die Ukraine grenzenden Gebieten im Falle eines Ausnahmezustands zu beruhigen. Veraltet.

W

Washington-Obkom. Scherzhafter Ausdruck aus den späten 1980er Jahren, der heute ernsthaft verwendet wird. Damit gemeint ist ein Entscheidungszentrum ↑, das hinter den Kulissen die Welt regiert, von dem aber niemand weiß. Das Pendant zum Deep State in amerikanischen Verschwörungstheorien.

Wirtschaftskrieg gegen Russland (ekonomitscheskaja woina protiw Rossii). Sanktionen.

Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

Z

Zuversicht in den morgigen Tag (uwerennost w sawtraschnem dne). Das, was den staatlichen Medien zufolge die Einwohner der besetzten Gebiete in der Ukraine erlangen sollen.

Zwangsumregistrierung (prinuditelnaja pereregistrazija). De facto der Diebstahl von Passagierflugzeugen ausländischer Leasingunternehmen, die sich zu Beginn des großflächigen Angriffkriegs in Russland befanden.

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Erster Kanal

Die Geschichte des Senders reicht bis in die Sowjetunion zurück. Der Perwy Kanal (dt. Erster Kanal) des Zentralen Sowjetischen Fernsehens war bis 1965 der einzige, der in alle elf Zeitzonen des Landes ausgestrahlt wurde. Einige Sendungen von damals sind noch heute im Programm – etwa die einflussreiche Nachrichtensendung Wremja (dt. Zeit), das Studentenkabarett KWN (Klub Wesjolych i Nachodtschiwych, dt. Club der Lustigen und Findigen) oder die Kult-Spielshow Tschto? Gde? Kogda? (dt. Was? Wo? Wann?), nach deren Vorbild im ganzen Land und in der russischen Diaspora begeisterte Spielzirkel entstanden.

Auch seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Programm aus Informations- und Unterhaltungssendungen ausgesprochen beliebt. Anders als viele Privatsender, die in den Machtkämpfen der 1990er Jahre teilweise zu Waffen politischer Herausforderer des Kreml wurden, befand sich der Erste Kanal dabei stets unter direkter oder indirekter Kontrolle des Staates. Als eine seiner ersten Amtshandlungen formte Präsident Boris Jelzin im Dezember 1991 den sowjetischen Rundfunk zur staatlichen Fernseh- und Radioanstalt Ostankino um. 1994 wurde Ostankino in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in Russisches Öffentliches Fernsehen (ORT) umbenannt. Der Staat besaß und besitzt noch immer 51 Prozent der Aktien, den Rest hielten Banken und Konzerne verschiedener Großunternehmer, unter anderem des Oligarchen Boris Beresowski.1 Der Sender unterstütze mit Beresowskis aktiver Beteiligung 1996 die Wahlkampagne des politisch angeschlagenen Jelzin und verhalf in den Jahren 1999 und 2000 dem noch relativ unbekannten Wladimir Putin zu hoher Popularität – und damit zum Wahlsieg. Als Beresowski kurze Zeit später aufgrund einer Auseinandersetzung mit der politischen Elite das Land verlassen musste, verkaufte er seine ORT-Aktien an den kremlnahen Oligarchen Roman Abramowitsch.2  Im Jahr 2011 gab dieser rund die Hälfte davon an die Nationale Mediengruppe des Unternehmers Juri Kowaltschuk ab.3 2016 beschloss die Duma eine Gesetzesänderung, wonach ausländische Bürger nur 20 Prozent der Anteile an einem russischen Medium halten dürfen. Da Abramowitsch 2018 israelischer Staatsbürger wurde, verkaufte er weitere vier Prozent der Aktien an die Nationale Mediengruppe. Schließlich trennte er sich im März 2019 von den restlichen 20 Prozent der Anteile: Das Paket ging an die Bank VTB Kapital, die zur Staatsholding VTB gehört.

2002 wurde ORT in Perwy Kanal  (dt. Erster Kanal ) umbenannt, auch um an die Bezeichnung aus sowjetischer Zeit anzuknüpfen.4 Er ist auch aufgrund seiner oft aufwendig produzierten Serien und Filme in der Bevölkerung enorm populär – und erreicht eine überwältigende Mehrheit der Haushalte. Einer Umfrage des Lewada-Zentrums zufolge ist das Fernsehen für 93 Prozent der Russen die wichtigste Informationsquelle. Die Nachrichtensendungen des Ersten Kanals nehmen dabei eine Spitzenstellung ein: 82 Prozent der Fernsehzuschauer gaben an, sie regelmäßig zu sehen. Zudem vertrauen 50 Prozent der Befragten den Informationen, die sie im Fernsehen erhalten.5

Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass die staatlich kontrollierten Fernsehsender6 eine zentrale Rolle in der politischen Kommunikation des Kreml spielen. Die Kontrolle über die politischen Aussagen und gesellschaftlichen Werte,7 die durch das Fernsehen an die Bevölkerung transportiert werden, erlaubt es dem Staat nach Ansicht der Politikwissenschaftler Petrow, Lipman und Hale, in den übrigen Medien Pluralismus zu tolerieren. Durch positive Darstellung der Regierung im Fernsehen könne Legitimität erzeugt werden, ohne dass man vollständig auf die investigativen Recherchen freier Medien, die auch für die Regierung wichtige Informationen enthalten, verzichten müsse.8

Als wichtige Stütze der staatlichen Informationspolitik vertritt der Sender die Regierungslinie und übt Kritik an der politischen Opposition sowie – seit den Massendemonstrationen von 2011/12 und dem Ukraine-Konflikt – an der so genannten Fünften Kolonne. Wichtige Formate bei der Verbreitung politisch gewünschter Positionen sind die Talkshows Politika und Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen), die der explizit regierungstreue Journalist Pjotr Tolstoj moderiert. Im Zuge des Ukraine-Konflikts verbreitete der Erste Kanal außerdem Falschmeldungen über die Handlungen der neuen Kiewer Regierung sowie die Gründe für den Absturz des Fluges MH-17 über der Ostukraine.9 Gleichwohl gibt es auch im Ersten Kanal begrenzten Raum für regierungskritische Stimmen. So hat der Journalist Wladimir Posner dort im Nachtprogramm eine Nische für seine professionellen und empathischen Interviews10 gefunden. In diesen Gesprächen äußert Posner auch eigene Positionen, die sich – insbesondere in gesellschaftspolitischer Hinsicht – stark vom offiziell sanktionierten Konservatismus unterscheiden. Posner selbst hat jedoch im Mai 2015 erklärt, dass der Sender die Auswahl seiner Gesprächspartner strikt kontrolliere und sein Format jederzeit auf Drängen der Regierung absetzen könne.11 Mindestens ein Fall von direkter Zensur eines Interviews ist bekannt: Aus einem Interview wurde eine Passage über die Medienfreiheit und den Blogger und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny entfernt.12

Stand: 12.03.2019


1.Oates, Sarah (2006): Television, democracy and elections in Russia, London, S. 36f.
2.The Moscow Times: Abramovich buys 49% of ORT
3. Kommersant: Jurij Kovalčuk +1
4.The European Audiovisual Observatory (2003): Television in the Russian Federation - Organisational structure, programme production and audience, Strasbourg, S. 37
5.Die zitierten Lewada-Statistiken sind in den Russland-Analysen Nr. 294 (S. 8ff.) in deutscher Übersetzung erschienen
6.Neben dem Ersten Kanal sind das der Zweite Kanal, die Sender Rossija-1 und Rossija-24 sowie einige Dutzend regionale Sender.
7.Für eine Darstellung zur Verbreitung gesellschaftlicher Normen durch fiktionale Mini-Serien siehe Rollberg, Peter (2014): Peter the Great, Statism, and Axiological Continuity in Contemporary Russian Television, in: Demokratizatsiya, 22 (2), S. 335-355
8.Petrov, Nikolay, Lipman, Maria & Hale, Henry E. (2014): Three dilemmas of hybrid regime governance: Russia from Putin to Putin, S. 7 in: Post-Soviet Affairs, 30 (1), S. 1-26
9.Eine Gruppe russischer Intellektueller forderte im Oktober 2014 Konstantin Ernst, den Chef des Senders, dazu auf, die Falschmeldungen zuzugeben, siehe: The Moscow Times: Russian intellectuals ask state run TV to acknowledge falsifications in Ukraine-Reports
10.Eine Auswahl der Gespräche gibt es auf Youtube – einige auch mit englischen Untertiteln.
11.Dw.com: Wladimir Posner: W Rossii segodnja net shurnalistiki
12.Siehe dazu einen Artikel der russischen Nachrichtenagentur auf Interfax aus dem Jahr 2012: Posneru nadoela zensura (dt. Posner ist die Zensur leid).
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