Der russische Fotograf Max Sher lebt im Exil in Berlin. Er fotografiert die Stadt – hauptsächlich den Westteil – und interpretiert das, was er entdeckt, als postsowjetischen Raum. Doch das ist keine Nostalgie, wie er sagt, sondern Zeichen eines Übergangs im Leben – für ihn und für hunderttausende andere Menschen, die Russland verlassen haben.
Die Serie ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
„Ich habe diese Fotos in Berlin mit einem alten Handy gemacht, hauptsächlich im ehemaligen Westteil der Stadt.
Schon seit einigen Monaten ist Berlin mein neues Zuhause. Davor war ich 10 Jahre in Moskau, 13 Jahre in Piter (die Petersburger mögen dieses Wort nicht), 12 Jahre in Kemerowo und die ersten 11 Jahre im spätsowjetischen Leningrad.
Man könnte meinen, diese Bilder seien ‚Symptome‘ von Nostalgie: Darauf sind Orte und Details der urbanen Landschaft festgehalten, die jedem aus der ehemaligen UdSSR irgendwie vertraut vorkommen.
Nostalgie ist überhaupt eines der wichtigsten Themen für die migrantische Kultur. Doch alles mit Nostalgie Verbundene wirkt auf mich höchst anachronistisch – vielleicht wegen meines eigenen halben Nomadenlebens. Obwohl ich in allen Dokumenten jetzt Immigrant oder Migrant bin, bevorzuge ich für mich die Bezeichnung ‚Expat‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung, frei von allen Konnotationen: ein Mensch, der einfach ex patria, außerhalb seines Geburtslandes, lebt. Zudem ist die Bezeichnung, auch wenn das vielleicht persönlich und symbolisch ist, eine Herausforderung für die etablierte Hierarchie unter den verschiedenen Kategorien von Zuwanderern.
Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie.
Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. Dieser Blick hat sich innerhalb eines Jahrzehnts geformt, während meiner Erkundungen im Bereich der Landschaftsfotografie und während meiner Reisen durch den postsowjetischen Raum (der Begriff ist veraltet, doch einen anderen gibt es wohl leider noch nicht). Und infolge dieser ‚déformation professionelle‘, dieser eigenartigen künstlerischen Entstellung, erfasst mein Blick in der Landschaft Berlins nun ähnliche Orte und Details, auch wenn sie nicht gerade typisch für die Stadt sind. Im Übrigen sehen die nur dann ‚postsowjetisch‘ aus, wenn man sie oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Ähnlichkeit.
Vielleicht ist es so, dass ich mit Hilfe dieser Flashbacks eine weitere Lebensphase abschließe und eine neue beginne.“
Fotografie: Max Sher
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 24.11.2022