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„Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

Источник Colta.ru

Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.

Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

Glaubst du das?

Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

Aber doch nicht mit Nawalny!

In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

„Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab's natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

 

Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.
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Liberale in Russland

„Liberal“ kann in der russischen Sprache heute vieles bedeuten. Der Begriff hat mehrere Wandlungen durchgemacht und ist nun zumeist negativ besetzt. Oft wird er verwendet, um Menschen vorzuwerfen, sie seien unfähig, schwach und widersetzten sich dem Staat nur, weil sie zu nichts anderem in der Lage seien. Das liberale Credo vom Schutz der Menschen- und Eigentumsrechte, so heißt es oft, lenke davon ab, dass unter liberaler Führung der Staat zugrunde gehen würde.

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Nawalnys Wahlkampagne

Ein Hinterhof im Zentrum von Jekaterinburg. Pfützen, Schotter, parkende Autos – und eine Tür mit der Aufschrift „Stab Alexeja Nawalnogo“. Dahinter weiße, schlichte Tische mit schwarzen Klappstühlen, an den Wänden der Slogan „Es ist Zeit, zu wählen“ und Plakate mit dem Konterfei Nawalnys. Alles ist in einheitlichem Stil gestaltet, der Schriftzug Nawalny 20!8 allgegenwärtig. In magenta und türkisblau steht er auf weißem Grund. Frische Farben, die entfernt an das rot-blau-weiß der russischen Flagge erinnern. Man mag darin einen Zufall sehen, doch das Bild passt zu einer der Kernaussagen der Kampagne: Russland, aber anders.

Auch wenn die Präsidentschaftswahlen offiziell erst im Dezember 2017 ausgerufen wurden, erklärte Nawalny bereits im Dezember 2016 seine Absicht, zu kandidieren. Nach neun Monaten Kampagnenarbeit hatte sein Team Anfang Oktober 2017 insgesamt 80 Regionalbüros eröffnet, in jedem Büro drei bis vier Mitarbeiter fest eingestellt und tausende Freiwillige mobilisiert, die für ihn auf der Straße und im Internet agitierten.
Doch aufgrund einer Bewährungsstrafe infolge eines zweifelhaften Strafprozesses durfte er laut russischem Gesetz im Endeffekt zur Wahl nicht antreten. Dies hatte die Zentrale Wahlkommission (ZIK) Ende 2017 endgültig bestätigt. Nawalny antwortete auf sein Antrittsverbot mit einer neuen Strategie, die ihm ermöglichen sollte, sich zumindest indirekt an den Wahlen zu beteiligen: Nach der Ablehnung seiner Kandidatur rief er zu Protestaktionen und einem „Streik der Wähler“ auf. Im Gegensatz zu einer passiven Wahlboykott-Haltung sei der Streik ein aktiver Ausdruck zivilen Ungehorsams gewesen, so Gleb Pawlowski.1

Da Nawalny als parteiloser Kandidat angetreten wäre, war seine Zulassung an 300.000 Unterstützer-Unterschriften aus mindestens 40 Regionen gebunden, die er im Zeitraum zwischen Ende Dezember 2017 und Ende Januar 2018 hätte sammeln müssen. So will es das Wahlgesetz. Da diese Zeit zu kurz für eine wirkungsvolle Mobilisierungskampagne schien, sammelten die Regionalbüros seit Mitte 2017 etwas anderes: Versprechen auf Unterschriften. Wenn es dann darauf ankommt, so die Idee, geht es schneller.
Wahlkommissionen erklären Unterschriften für oppositionelle Kandidaten häufig für ungültig: sie stammten von fiktiven Personen, so die übliche offizielle Begründung. Daher nahmen Nawalnys Mitarbeiter zusätzlich die persönlichen Daten jedes Unterstützers auf, jeder Pass wurde gescannt und mit dem amtlichen Personenregister abgeglichen.

Wahlkampf gegen Windmühlen

Sowohl diese hohen formalen Anforderungen als auch informelle Ausschlusspraktiken sind Teil der Funktionslogik des russischen politischen Systems, das oft als elektoral-autoritär bezeichnet wird. Entscheidende politische Ämter werden zwar durch Wahlen vergeben, doch der politische Wettbewerb im Vorfeld wird zugunsten des Status Quo verzerrt: Wahlfälschungen sind dabei nur das letzte Mittel – viel wichtiger sind präventive Maßnahmen wie Diskreditierung, Einschüchterung und Nichtzulassung zu Wahlen.

Die Strategen in Nawalnys Kampagne versuchten, diese Funktionsprinzipien offenzulegen. Daher wurde jede Durchsuchung und jede Verhaftung zum Ereignis in den Sozialen Medien, jeder Gerichtstermin zur Bühne für politische Reden. Und auch die vielen kleinen Nadelstiche in den Regionen wurden genau dokumentiert – ob physische Attacken auf Mitarbeiter, Erstürmungen der Wahlkampfbüros durch Pro-Putin-Demonstranten, Einsatz der Administrativen Ressource in Form von Konfiskationen oder Druck des FSB auf Vermieter der Büroräume. Denn all dies gehörte bei Nawalnys Wahlkampagne zum Alltag.

Das Bild, das die Kampagne von ihrem Gegner zeichnete, wurde so für die potentiellen Unterstützer Stück für Stück mit Inhalt gefüllt. Dazu gehörte auch, die Staatsmacht gezielt herauszufordern und zur medienwirksamen Überschreitung von Grenzen zu verleiten. So reizte die Kampagne etwa den Spielraum des Demonstrationsgesetzes voll aus: Wo Kundgebungen von den örtlichen Behörden abgesagt wurden, wurde trotzdem mobilisiert – mit der Begründung, dass das Gesetz keine Absagen, sondern nur Verschiebungen gestattet. So konnte man der Staatsmacht im Falle von Verhaftungen vorwerfen, sich nicht an die eigenen Gesetze zu halten.

Der Staat, dargestellt als brutaler und inkompetenter Leviathan, stand dabei stets dem eigenen Beispiel einer effizienten, modernen Massenorganisation gegenüber. Der einschlägige visuelle Stil der regionalen Büros war dabei kein Zufall, er spiegelte die Organisationsstruktur der gesamten Kampagne wider. Denn zwar warb Nawalny für politische Liberalisierung und Demokratisierung, zwar betonte er, wie wichtig regionale und lokale Selbstbestimmung seien, die Kampagne aber funktionierte straff hierarchisch und vollständig zentralisiert. Jedes Regionalbüro hatte klare Ziele zu erfüllen. In Großstädten galt es beispielsweise, 10.000 Unterschriften zu sammeln, einige hundert Wahlbeobachter auszubilden, eine bestimmte Anzahl Agitationsmaterialien zu verteilen. Dafür zahlte das Hauptquartier jeweils drei bis vier Mitarbeitern Gehälter, finanzierte die Büroausstattung und koordinierte die Kommunikation mit den freiwilligen Helfern. Die Kampagne war effizient – demokratisch war sie nicht.

Programm und Unterstützer

So gab es auch keine Möglichkeit für die Unterstützer, inhaltlich zum Programm beizutragen. Die sechs Thesen seines Wahlprogramms, je in Verbindung mit einigen Forderungen, waren dabei kaum mehr als ein Gerüst.2 Dieses wirkte in der Gesamtschau zudem uneinheitlich: Einerseits wurde die – tatsächlich enorme – ökonomische Ungleichheit angeprangert, es wurden Erhöhungen des Mindestlohns und der Renten versprochen sowie Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen in Aussicht gestellt. Andererseits sollten Steuern und Abgaben für kleine Unternehmen vollständig aufgehoben, Regularien abgeschafft und der Staatsapparat deutlich verkleinert werden. Mehrausgaben sollten durch Kürzung anderer Posten finanziert werden – etwa des Verteidigungsetats. Und durch kolossale Einsparungen, die dem Budget infolge von Nawalnys angekündigten Anti-Korruptions-Reformen hätten zufallen sollen.

Gesellschaftspolitisch war die Richtung hingegen etwas klarer: Nawalny positionierte sich deutlich liberaler als das politische Establishment. Und doch verwies er oft auf seinen orthodoxen Glauben und hielt sich bei Forderungen bezüglich der Rechte sexueller Minderheiten zurück. Seine nationalistische Rhetorik schließlich hatte Nawalny für seine Kampagne stark reduziert. Einzig übriggeblieben war davon die Forderung nach einer Visapflicht für Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien.

In Magenta und Türkisblau ist der Schriftzug „Nawalny 20!8“ allgegenwärtig / Foto © navalny.com

Die Strategie der programmatischen Ausrichtung war klar: Solange Nawalny der einzige blieb, der glaubhaft demokratische Veränderungen und effektive Korruptionsbekämpfung versprach, bot er allen, die diese Forderungen teilten, etwas an. Und er versuchte dabei, möglichst wenige abzuschrecken. Was von seinen Forderungen Taktik, was Überzeugung war, blieb unklar.

Aus diesem Grund fanden sich unter seinen Unterstützern und Mitarbeitern Menschen mit durchaus unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansichten. Verwendet man die europäischen Labels, könnte man sagen: Sozialdemokraten arbeiteten mit Liberalen zusammen, Konservative mit Libertären. Sozialisten hingegen sahen die wirtschaftsliberalen Forderungen meist skeptisch und konnten sich nur in Ausnahmefällen zu Solidaritätsbekundungen durchringen.3 Doch auch im liberal-oppositionellen Lager hatte Nawalny nicht nur Freunde. Manche warfen ihm einen autoritären Führungsstil vor und sahen in ihm keine plausible Alternative zur heutigen vertikalen Organisation von Politik;4 andere beklagten den populistischen Stimmenfang durch Vereinfachung - insbesondere in Bezug auf die linken Elemente in seinem Programm.5

Symbole eines ehrlichen Neuanfangs

Wichtiger als konkrete Programmpunkte – hier sind Nawalny und Putin einander ähnlich – erwies sich die emotionale Seite der Kampagne, die Vertrauen in Nawalnys Person schaffen sollte. Nawalny und sein Team, allen voran Kampagnenchef Leonid Wolkow, fungierten als Symbole eines ehrlichen Neuanfangs. Gleichzeitig setzte die Kampagne gezielt darauf, Protagonisten der Machtelite als verbraucht, gestrig und verlogen darzustellen. Die technisch aufwändigen, in unterhaltsamer YouTube-Manier präsentierten und mit beißendem Sarkasmus kommentierten Enthüllungsvideos angeblicher Korruption hoher Amtsträger sprachen ein ums andere Mal dieselbe Botschaft: Wenn Putin diese Exzesse duldet, verdient er nicht das Vertrauen der Wähler.

Genaue Daten zu Freiwilligen und Unterstützern bleiben auch nach der Wahl offen. Augenfällig ist jedoch die hohe Zahl von Schülern und Studenten, insbesondere bei den Demonstrationen und Kundgebungen. Doch dass Nawalny auch andere Unterstützer hatte, lässt sich an den Spendensummen ablesen: insgesamt 168 Millionen Rubel (rund 2,5 Millionen Euro) seien es von Dezember 2016 bis kurz vor der Wahl gewesen. Zwar basierte die Kampagne auf Online-Crowdfunding (Stabschef Wolkow war der erste, der diese Methode in Russland für politische Arbeit einsetzte). Doch es ist gut vorstellbar, dass zur Crowd neben Kleinspendern auch gut situierte Unternehmer gehörten, die sich von einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und von der angekündigten Bekämpfung der Oligarchen eigene Vorteile versprachen6

Eine Million Unterschriften

Das erklärte Ziel Nawalnys Kampagne war es gewesen, durch schiere Mobilisierungskraft seine Zulassung zu erzwingen. Ende Dezember hatte Nawalny bereits über 630.000 Unterschriften, eine Million sollten es bis zur Wahl werden. Dazu kommen die Protestaktionen vom 26. März und 12. Juni, die in knapp 100 Städten so viele Menschen auf die Straßen brachten, wie zuletzt dieProteste nach den Parlamentswahlen 2011. So viele Bürger könne der Kreml nicht ignorieren und müsse dann dafür sorgen, dass das Urteil gegen Nawalny revidiert wird, so das Kalkül.

Es sind beeindruckende Zahlen, die Nawalny vorlegen konnte, doch sollte die Schlagkraft der Kampagne trotzdem nicht überschätzt werden. Umfragen sprachen ihm eine Bekanntheit bei 55 Prozent der Gesellschaft zu – ein Wert, der im Sommer vor der Wahl trotz der Proteste stagnierte.7 Das Fernsehen verbreitete Schmähungen, die politische Elite schwieg Nawalny tot. Und auch bei der Jugend, die so zahlreich die Proteste unterstützte, war nur ein Bruchteil von demokratisch-oppositionellen Themen zu begeistern.8 Nach der Entscheidung der Zentralen Wahlkommission war klar geworden, dass die politische Führung sich nicht auf einen Wahlkampf mit Nawalny einlässt. Doch seine Kampagne in den Regionen konnte bereits einen anderen, möglicherweise nicht einmal beabsichtigten Effekt vorweisen: Sie brachte Menschen zusammen, stimulierte Koordination und Diskussion, förderte Solidarität. Daraus kann noch immer etwas Neues erwachsen – auch ohne Nawalny. Ob dafür allerdings der Zusammenhalt unter den Aktivisten ausreicht, die vor allem der Kampf für ihren Kandidaten einte, ist ungewiss.


1.zit. nach: svoboda.org: „Vybory zakončilis’“
2.2018.navalny.com: Bazovye punkty predvybornoj programmy Alexeja Naval’nogo
3.Eine dieser Ausnahmen: jacobinmag.com: Not Just an Artifact
4.The New York Times: Will Russia’s Only Opposition Leader Become the Next Putin?
5.znak.com: „Naval’ny čudoviščno upraščaet: On chočet vlasti zdes’ i sejčas“
6.Die Kampagne veröffentlicht keine Details zu Spendern oder einzelnen Summen, Aussagen dazu sind also spekulativ. Aus persönlichen Gesprächen mit der Kampagne nahestehenden Personen lässt sich jedoch schließen, dass Navalnyj auch Unterstützung aus der Wirtschaft erfährt.
7.Siehe die Umfragen des Levada-Zentrums vom März und Juni 2017
8.Krawatzek, Felix (2017): Russische Jugend zwischen Rebelion und Integration, in: Russlandanalysen Nr. 341, S. 7-9
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