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Der Westen als Vorbild?!

Wenn westliche Russland-Experten dasselbe behaupten wie die russische Staatspropaganda, dann zweifeln viele automatisch an diesen Expertenmeinungen. In einem Punkt sind sich jedoch die meisten einig: dass der Westen sich gegenüber Russland oft bigott und arrogant verhalten habe. 

Das Feindbild des arroganten und doppelmoralischen Westens gilt für viele Beobachter als die wichtigste Legitimationsgrundlage für das System Putin. Heißt es aber im Umkehrschluss, dass diese Grundlage ins Bröckeln käme, wenn westliche Länder etwa keine Projektionsfläche für „doppelte Standards“ böten? 

Dieses Gedankenspiel beschäftigt den Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin auf Republic. Seine Überlegungen zum sogenannten Sonderweg Russlands und die Rolle des Westens dabei hat er kürzlich in einem Buch veröffentlicht.

Источник Republic

Ab und zu werde ich von ausländischen Journalisten gefragt, welchen Einfluss die Sanktionen auf die Lage der Dinge in Russland haben. Meine Antwort ist für gewöhnlich, dass sie Putins Regime gestärkt haben. Und: Falls ihr Land die Absicht gehabt haben sollte, den russischen autoritären Führer zu unterstützen, so kann man sagen, dass dies durchaus gelungen ist. 
Die Wahrnehmung von einer belagerten Festung, die durch das Fernsehen bei den Zuschauern entsteht – wobei die Sanktionen eines der Argumente sind – führt zu dem logischen Schluss, dass man „die Pferde nicht mitten im Rennen wechselt“ und somit zu dem Wunsch, sich um Wladimir Putin zu scharen.

Die belagerte Festung

Oft sind meine Gesprächspartner verwundert. Schließlich hatten sie angenommen, dass die Sanktionen für Putin eine Strafe für Krim und Donbass sein sollten. Mich verwundert etwas anderes: Der enge Denkhorizont der westlichen Politiker und Journalisten. 
Manchmal lenke ich das Gespräch auf ein angrenzendes Thema und sage: Falls Sie Russland wirklich helfen wollen, dann kehren Sie erstmal vor der eigenen Tür, machen Sie sich zu einem wahrhaften Vorbild für Entwicklungsländer, wie wir eines sind. Das wäre die beste Unterstützung für die Demokratie in Russland. O weh, nach einer solchen Wendung verlieren die Gesprächspartner gewöhnlich jedwedes Interesse am Thema.

Schade eigentlich. Denn eine echte Auseinandersetzung mit der Frage, was aus Russland wird und wie der Westen der Demokratie in Russland helfen kann, beginnt gerade dort, wo es um den Zustand der Demokratien im Westen geht. Schließlich sind die Sanktionen nicht mehr als eine formale Reaktion auf die Politik des Kreml. Das sind Pflichtübungen des Westens, aber kein Vorgehen nach gesundem Menschenverstand. Politiker mussten reagieren, damit sie von der Opposition nicht der Untätigkeit bezichtigt werden, und sie haben reagiert. Das aber, was den Westen jetzt wieder für uns attraktiv mache könnte, verlangt von den ausländischen staatlichen Akteuren keine Reaktion „aus Pflichtbewusstein“, sondern einen tiefgreifenden Wandel.

Zum Beispiel Katalonien

Ein aktuelles Beispiel: Die spanische Staatsanwaltschaft hat 25 Jahre Gefängnis für den stellvertretenden Ministerpräsidenten Kataloniens gefordert, der des Separatismus beschuldigt wird. Man will jemanden nur deshalb praktisch lebenslang hinter Gitter bringen, weil er die Unabhängigkeit seiner Heimat erreichen wollte, und zwar nicht durch einen Militärputsch, sondern mit demokratischen Mitteln. Man kann über den katalanischen Wunsch, den spanischen Staat zu verlassen, unterschiedlicher Meinung sein, doch gibt es im Grunde keinen Zweifel daran, dass es der aufrichtige Wunsch eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft ist und nicht eines kleinen Grüppchens von Aufrührern. Das heißt, dieser „Separatismus“ ist eine politische Frage, keine strafrechtliche. Und die muss über einen Dialog mit den „Separatisten“ gelöst werden, und nicht so, wie die spanische Staatsanwaltschaft es angeht.

Vor dem Hintergrund des Vorgehens der „spanischen Demokratie“ erscheint das Vorgehen des Kreml zur Festigung des „vereinten und unteilbaren“ Russlands (um es mit einer Parole der Weißen im Bürgerkrieg zu formulieren), durchaus akzeptabel. Immerhin legitimiert eines der führenden Länder Europas mit seinem Vorgehen praktisch jedwede Unterdrückung von Separatismus in Entwicklungsländern. Jeder autokratische Politiker kann jetzt sagen, dass das Bestreben eines Volkes, aus einem Imperium auszuscheiden, sogar aus Sicht europäischer Demokratien scharf unterbunden werden muss. 

Autoritäre Bestrebungen in der EU

Ein weiteres Beispiel: Ein Vierteljahrhundert (von dem Moment der Samtenen Revolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa an) wurde davon geredet, dass die Tschechen, Slowaken, Polen, Ungarn, Bulgaren und Rumänen bewusst den Weg der Demokratie gewählt hätten und dass die Erfolge dieser Völker auf deren Streben nach europäischen Werten beruhen würden. Heute jedoch können wir beobachten, wie in Ungarn die Grundlage für ein autoritäres Regime gelegt wird. Und die derzeitige polnische Regierung wurde von einem bekannten demokratischen Politiker des Landes in meiner Anwesenheit als „Liliput-Regime“ bezeichnet – also ein seinem Wesen nach Putinsches Regime, nur weniger hart.

Wobei die Verstärkung autoritärer Bestrebungen in Mittel- und Osteuropa längst nicht das Wichtigste ist, das den Autoritarismus in Russland stärkt. Über Polen und Ungarn wird selbst in unserem Fernsehen nicht viel gesprochen (es ist kein sonderlich bequemes Thema für die Propaganda). Das größte Problem ist die Ukraine. Niemand hat mehr für die Festigung des Putinschen Regimes getan als die Akteure in der ukrainischen Politik in den letzten Jahren. Sie haben mit ihrer absoluten Ineffizienz ein praktisch ideales Beispiel geschaffen, das sich endlos im russischen Fernsehen hin- und her wälzen lässt. Dem Durchschnittsbürger wird dabei Angst gemacht, was mit unserem Land geschieht, falls anstelle des „großen Putin“ ein Maidan kommt und eine antistaatliche Elite antritt, die eine Demokratisierung der Gesellschaft anstrebt.

Vor 15 Jahren (während des ersten Maidan) hatte es viel Hoffnung gegeben, dass die Ukraine Russland beispielhaft eine wirkungsvolle demokratische Entwicklung vor Augen führen werde. Leider ist nichts dergleichen geschehen. Die Ukraine ist ein Beispiel für einen demokratischen, aber ineffizient funktionierenden Staat. In Lateinamerika hat es eine Vielzahl solcher Beispiele gegeben, und auch heute stehen die Dinge in einigen Ländern nicht besser. Aber das ferne Amerika ist eine Sache – die uns (territorial und kulturell) nahestehende Ukraine, die zu einem der ärmsten Staaten Europas geworden ist, eine andere.

Natürlich lässt sich die Oberhand des heutigen Russlands in Bezug auf die Ukraine nicht an den Vorteilen der Putinschen Autokratie gegenüber einer schwachen Demokratie festmachen. Aller Wahrscheinlichkeit nach befände sich die Wirtschaft in Russland – wenn wir nicht all das Öl und Gas hätten – ungefähr auf dem gleichen Niveau wie die der Ukraine. Das sind aber „Feinheiten“, in denen die Experten graben können. Für den russischen Durchschnittsbürger ist die Ukraine ein klassisches Beispiel dafür, was man nicht tun sollte. Nicht umsonst widmet das russische Fernsehen diesem Land derart viel Aufmerksamkeit. Gäbe es das Phänomen Ukraine nicht – der Kreml müsste es im eigenen Interesse erfinden.

Die US-amerikanische Tragödie

Lassen wir nun trotzdem die Politik beiseite und wenden uns der Wirtschaft zu. Hier gibt es ein für uns äußerst wichtiges Beispiel: Griechenland, ein Land, das in eine ernste Krise gestürzt ist, weil es nicht in der Lage war, mit seinen Mitteln zu haushalten. Der Fall Griechenland führte aller Welt (auch den russischen Normalverbrauchern) vor Augen, dass die westlichen Länder eine Pyramide aus Staatsschulden anhäufen. In der Regel brechen solche Pyramiden nicht zusammen, aber wer weiß schon, wie das in Zukunft sein wird? Und so wird in der Bevölkerung Russlands die Vorstellung immer populärer, dass die USA überhaupt nichts außer grünen Papierchen produzierten und dieses Land nur ein Parasitendasein friste. Statt von effizienten amerikanischen Unternehmen zu lernen, wie eine Marktwirtschaft zu führen ist, richtet Russland seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Ineffizienz des amerikanischen Staates, auf die Ineffizienz des Militarismus und der sozialen Sicherungssysteme, durch die die Staatsschulden genährt werden.

Das wichtigste Problem mit Amerika liegt allerdings weniger in der Pyramide der Staatsschulden. Ich erinnere mich sehr wohl, wie leicht in der Ära von Gorbatschows Perestroika Überlegungen aufgenommen wurden, dass die USA nicht so sehr unser Feind als vielmehr ein interessantes Beispiel einer effizienten Wirtschaft sind, die es ernsthaft zu studieren gilt. Die langjährige antiamerikanische Propaganda der Sowjetunion hat kaum zu einer tiefen Verwurzelung antiamerikanischer Gefühle geführt. Das Durcheinander in unserem Land erzeugte bei normalen Leuten das natürliche Bedürfnis, positive Beispiele im Ausland zu suchen. Da sich die Erwartungen, dass wir wirtschaftlich genauso erfolgreich wie Amerika sein würden, nicht erfüllten, änderte sich die Lage in den 1990er Jahren jedoch allmählich. Den heftigsten Schlag für die eigene Reputation fügten sich die Amerikaner allerdings selbst zu. Der Krieg im Irak und das aktive Bestreben, in diversen Regionen der Welt den politischen Einfluss der USA zu verstärken, führten zu einer Akzentverschiebung im Diskurs – weg von den Erfolgen der amerikanischen Wirtschaft hin zu den Niederlagen der amerikanischen Außenpolitik. Und heute ist es selbst im Gespräch mit eher intellektuell angehauchten Menschen sehr viel schwieriger, über positive amerikanische Erfahrungen zu sprechen als noch vor 30 Jahren.

Große Reformen oder Great Depression?

Die Wahl unseres Weges wird zu großen Teilen davon abhängen, ob die Länder des Westens in der Lage sein werden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen, bevor das Putinsche Regime in die Krise gerät und in Russland erneut über Veränderungen nachgedacht wird. In der Geschichte Russlands ist es mehrfach so gewesen, dass durch positive Erfahrung in Europa eine Verwestlichung angeregt wurde, während negative Erfahrungen nach einem Sonderweg suchen ließen.

Die Petrinischen Reformen sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass der junge Zar den klaren Vorsprung der führenden europäischen Länder beim Schiffbau, bei der Organisation der Armee, im Finanzwesen und bei der Entwicklung jener Bürokratie gesehen hatte, ohne die keine Steuern eingetrieben, kein Militärhaushalt erstellt und keine Armee mit Essen, Kleidung und Munition versorgt werden können. 
Die Großen Reformen Alexanders II. waren zu erheblichen Teilen dadurch bedingt, dass es in verschiedenen europäischen Ländern mehr Freiheiten gab und damit auch ein wirtschaftlicher Fortschritt verbunden war: Man denke nur an die Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen und Österreich-Ungarn und die Umsetzung der Freihandelspolitik in England und Frankreich. Die Perestroika unter Michail Gorbatschow wurde durch die deutlichen Erfolge der westlichen Wirtschaft angeregt – während sämtliche sowjetische Versuche scheiterten, das Warendefizit zu beseitigen und die Bürger der UdSSR wenigstens mit einem Mindestmaß an Waren zu versorgen, die für ein normales Leben gebraucht werden.

In jenen Zeiten jedoch, als die Vorzüge des Westens eher zweifelhaft waren, in denen sich der Westen in seinen eigenen Widersprüchen verfing und riesige menschliche und ökonomische Verluste erlitt, verhielt Russland sich anders. So beförderte die Krise, die durch den Ersten Weltkrieg mit seinen gewaltigen Opfern ausgelöst wurde, eindeutig die Russische Revolution und – wichtiger noch – den Umstand, dass anschließend der fatale Weg des Bolschewismus eingeschlagen wurde. 
In jener Zeit schien es, als würden die Phantasien der Marxisten eine Chance für Erfolg bedeuten, da der Weg, den die westliche bourgeoise Welt bereitet hatte, garantiert – wie Lenin schrieb – in einen monopolistischen, vor sich hin faulenden und parasitären Imperialismus führen werde, der in blutige Kriege mündet. Darüber hinaus trug die Weltwirtschaftskrise, die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in den Ländern des Westens ausbrach, dazu bei, dass sich die Illusion von der Effizienz des Stalinschen Wirtschaftsmodells verbreitete: Da werden Fabriken gebaut, da zeigt die Statistik nach oben, da bekommen die Menschen neue Arbeitsplätze und irren nicht – wie im Westen – als Arbeitslose umher.

Wenn der Westen nicht bis zu dem Zeitpunkt, da eine Reform des Putinschen Systems einsetzt, als gutes Beispiel für Russland dasteht, wird es erneut eine Suche nach einem Sonderweg geben. Umso mehr, als nebenan China heranwächst, ein autoritär regiertes Land mit starkem BIP-Wachstum, beeindruckenden Bauten, strenger Disziplin … und mit vielen Problemen, die sorgsam vor fremden Blicken versteckt werden.

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Russland und Europa

Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

Fenster nach Europa

Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

Abklatsch westlicher Vorbilder

Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

Russland als neuer Kulturtyp

Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

Gemeinsames europäisches Haus

Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

Gayropa

In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

 

Aktualisiert am 21.12.2021


1.Es handelt sich um eine Anmerkung des Künstlers Ivan Kuskov (1927–1997), die vom Literaturwissenschaftler Michail Gasparov aufgeschrieben wurde, vgl.: Gasparov, Michail (2001) Zapiski i vypiski, Moskau
2.Uffelmann, Dirk (1999): Die russische Kulturosophie: Logik und Axiologie der Argumentation. Frankfurt am Main, S. 389 
3.Schelting, Alexander von (1948): Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern, S. 180-187
 4.Albert, Gleb J. (2017): Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917-1927, Köln, Weimar, Wien, S. 74-87 
5.Neuman, Iver B. (1999):  Uses of other. "The East" in European identity formation. Minneapolis, S. 165f.
6.Šlykov, Konstantin V. (2014): Pervyj vizit M. S. Gorbačeva v Velikobritaniju: Vzgljad čerez 30 let, in: Vestnik MGIMO-universiteta, 35, S. 99
7.Gorbačev, Michail (2008): Sobranie sočinenij, IV, Moskva, S. 134
8.Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass der Ausdruck bereits von Leonid Breshnew 1981 bei einer Rede in Bonn und von Außenminister Andrej Gromyko an einer Pressekonferenz ebenfalls in Bonn 1983 verwendet wurde. Gromyko, Andrej A. (1984): Leninskim kursom mira, Moskva, S. 461
9.Kremlin.ru: Vystuplenie v bundestage FRG
10.Gutorov, V. A. (2016): Rossijskij liberalizm kak istoričeskij i političeskij fenomen: ot utopii k real'nosti, in: Liberalizm: Pro et contra: Russkaja liberal'naja tradicija glazami storonnikov i protivnikov: Antologija, Sankt-Peterburg, S. 14
11.Levada.ru: Rossija i Evrosojuz; Rossija i Evropa

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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