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Schöne, heile Wirtschaft

Gestern [am 17. Februar] begann in Minsk der Prozess gegen Viktor Babariko, der 2020 als Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen antreten wollte. Der populäre Gegenspieler Alexander Lukaschenkos wurde bereits im Vorfeld des 9. August 2020 festgenommen. Dem ehemaligen Chef der Belgazprombank werden Korruption und Geldwäsche vorgeworfen. Kritiker werten den Prozess als politisch motiviert. 

Bereits vor zwei Wochen waren zahlreiche Bankiers und Geschäftsleute in Belarus festgenommen worden. Möglicherweise zielen die Machthaber mit Repressionen nun auch auf den privatwirtschaftlichen Sektor des Landes. 

In Belarus ist die ausgeprägte Staatswirtschaft ein bedeutendes Herrschafts- und Kontrollinstrument für den Machtapparat Lukaschenkos, wie der bekannte Ökonom Roland Götz in seiner Gnose zum Thema erklärt. Tiefgreifende Reformen der Staatsunternehmen sind also kaum denkbar, was auf der Allbelarussischen Volksversammlung, die am 11. und 12. Februar 2021 in Minsk stattfand, einmal mehr bestätigt wurde. Premierminister Roman Golowtschenko erteilte umfassenden Reformvorhaben eine Absage.

Dass die weitgehend unrentable Staatswirtschaft aber eine Last für die Weiterentwicklung der ohnehin dauerkriselnden belarussischen Wirtschaft ist, konstatieren Experten seit vielen Jahren. So beispielsweise auch die Analyse des IPM Research Center und des Zentrums für ökonomische Forschung BEROC aus dem Herbst 2020. 

Jеkaterina Bornukowa, akademische Direktorin des BEROC, seziert in einer aktuellen Analyse für das belarussische Medium Onliner.by, die offiziellen Wirtschaftsprognosen. Und sie fragt sich, woher die belarussischen Autoritäten ihren Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung nehmen. 

Источник Onliner.by

Das angebrochene und das vergangene Jahr sehen wirtschaftlich bei Gott nicht rosig aus. Die ganze Welt hat schon zu spüren bekommen, wie die Einkommen sinken und die Arbeitslosigkeit wächst. Oft ist zu hören, dass die Folgen der Pandemie mehr als ein Jahr zu spüren sein werden. Laut Prognosen des IWF wird das weltweite Wirtschaftswachstum kontinuierlich sinken: Von 5,2 Prozent in der Erholungsphase des Jahres 2021 auf 3,5 Prozent in 2025. 

Schon zum wiederholten Mal macht die belarussische Regierung in diesem Chor allgemeinen Trübsinns und Pessimismus eine Ausnahme. Kurz: Zum Jahr 2025 ist ein Einkommenszuwachs von 20 Prozent geplant, das Bruttoinlandsprodukt soll um 21,5 Prozent steigen, die Arbeitsproduktivität in der Industrie um den Faktor 1,3.

Das soll jetzt kein motivierendes Mantra sein, um das Übel der an vielen Krankheiten leidenden belarussischen Wirtschaft schönzureden, sondern es sind ernsthafte Prognosen, die auf höchster Ebene erstellt wurden. Deswegen sehen wir uns einmal genauer an, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt und wie derart beeindruckende Werte erreicht werden sollen.

Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sie verlassen das Land

Gehen wir die wesentlichen Punkte einmal durch: In den vergangenen fünf Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Belarus um 3,5 Prozent. Ich möchte das noch einmal unterstreichen: nicht im letzten Jahr, sondern in den letzten fünf Jahren zusammen. Natürlich waren es nicht die glücklichsten für die belarussische Wirtschaft, am Anfang stand das Krisenjahr 2016, am Ende das krisengezeichnete 2020. Aber wer garantiert denn, dass es in Zukunft besser wird? Derzeit gibt es wenig Anlass für Optimismus, weder auf weltwirtschaftlicher noch auf belarussischer Ebene. Doch unsere Regierung prognostiziert bis 2025 mutig ein Wachstum des BIP von 21,5 Prozent.

Schauen wir uns die Jahre einzeln an: Dieses Jahr soll das Wachstum des BIP bescheidene 1,8 Prozent betragen, was unter gewissen Umständen möglich ist; denn diese prognostizierte Wachstumsbeschleunigung ist geringer als der weltweite Durchschnitt und niedriger als im benachbarten Russland. Für 2022 erwartet man schon ein Wachstum von 2,9 Prozent, und für 2023 von 3,8 Prozent (Nochmal: Das ist so viel, wie wir in den Jahren 2016 bis 2020 geschafft hatten.) 2023 soll das Wachstum sogar bei 5,4 Prozent liegen und 2025 bei ganzen 6 Prozent. 

Die Minsker Traktorenwerke MTS gehören zu den Aushängeschildern der belarussischen Staatswirtschaft / Foto © Creative Commons CC BY-SA 4.0

Völlig unrealistisch sind diese Prognosen nicht – man könnte sie erzielen, doch nur unter der Voraussetzung von tiefgreifenden Strukturreformen. Wir alle kennen die Länder, in denen die Wirtschaft solche überbordenden Sprünge macht. Ich wäre stolz, würde auch Belarus dazugehören. Aber ich bin mir dessen bewusst, dass es dafür Veränderungen braucht, die seit Jahrzehnten fällig sind. Man muss das Fundament für solche hochgesteckten Ziele sofort, schon heute legen. Aber bislang deutet nichts auf Absichten in dieser Richtung hin. 

Der nächste Punkt: Das real verfügbare Einkommen der Bevölkerung soll um 20 Prozent steigen. Dieser Wert lässt sich nicht isoliert betrachten. Er hängt unmittelbar vom Wachstum des BIP ab. Dementsprechend lässt auch er sich nur erzielen, wenn zuvor grundlegende Veränderungen stattfinden, für die es keinerlei Anzeichen gibt. Der Wachstumswert für das Einkommen der Bevölkerung in dieser Höhe ist also sehr hypothetisch. 

Was haben wir noch? In den letzten fünf Jahren sind die Investitionen in Anlagevermögen um 8,6 Prozent gesunken, wobei die Regierung plant, dass sie bis 2025 um 22 Prozent ansteigen. 

Was rechtfertigt derartige Annahmen eines Investitionswachstums, während wir beobachten, wie das Land aufgrund der politischen Krise, der Wirtschaftssanktionen und der Nichteinhaltung von Verpflichtungen gegenüber der wirtschaftlichen Akteure an Attraktivität für Investoren verliert? Die Privatwirtschaft investiert schon heute weniger, und die Prognosen für die nächste Zukunft fallen pessimistisch aus. Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sondern verlassen massenhaft das Land. 

Die Abwanderung der Arbeitskräfte wird weiter zunehmen

Man könnte natürlich annehmen, dass das Wachstum durch staatliche Investitionen zustande kommen soll, die dementsprechend vermutlich in den Staatssektor fließen würden. Aber das hatten wir schon mehrfach: Solche Investitionen sind nicht effizient, sie führen zu finanziellen Problemen in den Unternehmen, die sich dann später im allgemeinen Wirtschaftszustand des Landes, in Inflation und Währungsverlust niederschlagen. 

Die nächste lautstarke Prognose: Die Arbeitsproduktivität in der Industrie soll um den Faktor 1,3 ansteigen. Das wäre tatsächlich leicht zu erzielen, man müsste nur die Arbeitsstellen in den Staatsunternehmen streichen, die unwirtschaftlich sind. Sogar wenn nur die unwirtschaftlichen Unternehmen aufgelöst würden, stiege die durchschnittliche Arbeitsproduktivität im Land schon beträchtlich. Aber offensichtlich sind derlei Maßnahmen nicht vorgesehen. Es bleibt also unklar, wie die Ergebnisse ohne einen Richtungswechsel erzielt werden sollen.

Der nächste Punkt: Zum Jahr 2025 soll die Arbeitslosigkeit bei höchstens 4,2 Prozent liegen. Wenn wir die Krise überwinden und uns keine neue „einfangen“, ist das realistisch. Die Arbeitgeber können ihre Angestellten ohne weiteres entlassen, deswegen haben sie auch keine Hemmungen jemanden zu beschäftigen. Das gewährleistet einen flexiblen Arbeitsmarkt, senkt aber das Niveau der sozialen Sicherheit der Angestellten. Sogar während der Krise lag die höchste Arbeitslosenquote bei 7 Prozent. Hinzu kommt die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland, die nach der Pandemie wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Die Rechnung ist also denkbar einfach: Es wird immer mehr freie Stellen und weniger Bewerber geben – wie sollte die Arbeitslosigkeit da steigen?

Zeit für rhetorische Fragen: Woher kommen solche Prognosen? Wozu braucht man sie? Ich versuche sachlich zu antworten. Als Richtwert, den man anstrebt, ist eine Prognose sinnvoll und vernünftig. Ohne Planung geht es nicht. Aber zum Erfolg gehört ein zweiter Faktor: die Fähigkeit, exakt zu kalkulieren, was für die Umsetzung notwendig ist. Aber am wichtigsten ist ein dritter Faktor: der Wille, das Geplante umzusetzen. 

Kein Wachstum ohne tiefgreifende Reformen

Unsere Regierung versteht sich zwar auf Optimismus und hohe Ziele, oft gelingt sogar die Wahl der notwendigen Mittel, doch bei der Umsetzung hapert es. 

In den letzten fünf Jahren gab es viele Pläne, richtige und kluge Entwürfe, doch umgesetzt wurde so gut wie nichts. Reformen in den Staatsunternehmen waren geplant, doch es geschah nichts. Es war die Rede von einer Abkehr von staatlichen Krediten, doch sie nahmen im letzten Jahr sogar noch zu. Die Reduzierung von Subventionen in der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft waren geplant, doch sie bestehen nach wie vor. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Regierung auch heute genau weiß: Ohne eine Lösung der politischen Krise und tiefgreifende Reformen im Staatssektor wird es kein Wachstum geben. Doch dazu findet sich in dem Programm kein Wort. 

Zusammengefasst: Ich habe große Zweifel, dass sich ohne grundlegende Veränderungen auch nur ein Teil der prognostizierten Zahlen erzielen lässt. Das Traurigste ist, dass wir das Rezept für umfassende und wirksame Veränderungen all die Jahre direkt vor uns hatten. Aber es wird sich wohl kaum etwas ändern, solange man die für Belarus typische faule Ausrede ernst nimmt, dass die Rezepte für eine Gesundung der Wirtschaft, die in vielen anderen Ländern erfolgreich zur Anwendung kamen, für uns nicht gelten, weil sie unserem „einzigartigen“ Weg und den „Besonderheiten“ unserer Region nicht gerecht werden. Worin diese Einzigartigkeit und Besonderheit bestehen, weiß keiner so genau. Warum? Weil es sie nicht gibt. 

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Der belarussische Sonderweg

Auch nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit hält die Republik Belarus überwiegend an planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung fest. Marktwirtschaftliche Elemente halten nur schrittweise Einzug, ein großer Teil der Arbeitnehmer ist in staatseigenen Betrieben angestellt und die autoritäre Regierung ist nach wie vor der größte Investor des Landes. Doch obwohl das System von Krediten abhängig ist und die Betriebe teilweise massiv veraltet und nicht konkurrenzfähig sind, ist die belarussische Wirtschaft eine zentrale Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko – der ökonomische Sonderweg ermöglicht also den politischen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahmen die meisten osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren Wirtschaftsreformen, die sich mit der Abschaffung der staatlichen Preis- und Mengenplanung am marktwirtschaftlichen Modell orientierten.1 Die Folge waren zunächst starke Einbrüche in Produktion und Beschäftigung. Im Unterschied dazu wandte sich die in Belarus im Amt verbliebene sowjetische Partei- und Wirtschaftsnomenklatura gegen eine „Schocktherapie“ und wählte einen schrittweisen, graduellen Transformationsweg, wodurch Produktionskapazitäten, Lieferverbindungen und Arbeitsplätze möglichst bewahrt werden sollten. Diesen Sonderweg hatte seit 1990 Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch eingeschlagen, der Gorbatschows Perestroika-Politik ablehnte. Seinen Kurs setzte Alexander Lukaschenko fort, dem es 1996 gelungen war, die auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen dringenden Kräfte endgültig auszuschalten.2

Die großen Staatsbetriebe, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten auf sich vereinen, werden in Belarus bis heute von staatlichen Behörden kontrolliert und gelenkt.3 Sie haben Entlassungen zu vermeiden und die Löhne regelmäßig zu erhöhen. Das ihnen vorgegebene Geschäftsmodell setzt auf große Produktionsmengen. Vorprodukte müssen sie von ihnen zugewiesenen Lieferanten beziehen, bei denen es sich vorwiegend ebenfalls um Staatsbetriebe handelt. Dies gilt auch für die rund 1500 landwirtschaftlichen Großunternehmen, in denen Getreide angebaut und Viehzucht betrieben wird.4

Quellen5

Die wegen ihres nicht mehr zeitgemäßen Produktsortiments und des hohen Personalbestands überwiegend unrentablen Staatsbetriebe – Ausnahmen sind die Lieferanten von Erdölprodukten und Kalidünger – erhalten verbilligte Kredite von staatlichen und privaten Banken, für deren Kapitalausstattung wiederum der Staat sorgt. Doch nicht nur Betriebe, die sich vollständig in Staatsbesitz befinden, sondern auch halbstaatliche und rein private Unternehmen mussten bis 2007 staatlichen Stellen Bericht erstatten. Sie alle hatten staatliche Entwicklungspläne hinsichtlich Produktionsvolumen, Exporten und Lohnsteigerungen zu erfüllen.

2007: Teilweise Deregulierung der Wirtschaft

Erst als sich die Wirtschaftslage zunehmend verschlechterte, entschloss sich die Staatsführung 2007 zu einer schrittweisen Deregulierung von Teilen der Wirtschaft.6 Staatlich festgesetzte Preise wurden jetzt nur noch für Produkte aufrechterhalten, die der Staat als sozial wichtig einstufte, etwa Lebensmittel oder Medikamente. Die Registrierung neuer Unternehmen wurde vereinfacht, die Berichtspflicht für private und halbstaatliche Unternehmen abgeschafft. Die staatseigenen Großbetriebe der verarbeitenden Industrie erhalten jedoch weiter formelle staatliche Anweisungen. Auch werden bis heute Privatbetriebe – ausgenommen ist die vom Regime umworbene IT-Branche – mit Hilfe von administrativem Druck, oktroyierten Vereinbarungen und informellen Absprachen gelenkt.

Zur angespannten Wirtschaftssituation des Jahres 2007 hatte auch der russisch-belarussische Energiestreit beigetragen. Hatte Russland Belarus bis dahin Erdgas weit unter Weltmarktpreisen verkauft und das Land somit stark subventioniert, drängte Gazprom nun auf eine Verdreifachung des Gaspreises. Auch sollte ein Zoll auf Öleinfuhren nach Belarus erhoben werden. In den folgenden Verhandlungen wurde jedoch der Zwiespalt deutlich, in dem sich der Kreml gegenüber der belarussischen Führung befand: Einerseits wollte Russland seine Wirtschaftsbeziehungen zum „Nahen Ausland“ marktwirtschaftlich gestalten und somit deren Subventionierung abschaffen, andererseits wollte es die Hinwendung dieser Länder zum Westen aus militärischen und politischen Gründen nicht tolerieren. Lukaschenko verstand es damals wie auch später, diese Zwangslage für seinen Machterhalt auszunutzen. Der Gaspreis wurde lediglich verdoppelt, wodurch die Subventionen zwar reduziert, aber nicht beendet wurden, und auch in Bezug auf den Ölzoll konnte ein Kompromiss mit Moskau erzielt werden.

Ergebnisse des wirtschaftlichen Sonderwegs

Obwohl die politische Führung insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe und bis Mitte der 2000er Jahre auch bei der Preisliberalisierung eine andere Wirtschaftspolitik betrieb als Russland, folgte die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in Belarus in den vergangenen 30 Jahren weitgehend derjenigen seines östlichen Nachbarn. Zwischen 1991 und 1995 verzeichnete Belarus wie nahezu alle Staaten des postsowjetischen Raums einen starken Produktionseinbruch. Allerdings gelang in Belarus, früher als in Russland, zwischen 1996 und 2000 eine deutliche Erholung mit durchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent pro Jahr. Zwischen 2000 und 2008 erlebte Belarus dann – parallel zu Russland – ein stürmisches Wirtschaftswachstum und ab 2011 ebenfalls im Gleichschritt mit Russland nahezu eine Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Als sich im Jahr 2007/2008 eine weltweite Finanzkrise abzuzeichnen begann, setzte die Regierung auf die Erhöhung der Investitionen in Maschinen und Gebäude. So wurde der Anteil der Investitionen zwischen 2007 und 2014 auf über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert. Doch diese Maßnahmen konnten den Rückgang der Wachstumsraten nicht verhindern. Bezahlt wurde das Manöver durch niedrig verzinste Kredite inländischer Banken sowie durch Kreditaufnahme im Ausland, was zu einer erheblichen Steigerung der Außenverschuldung führte. Die Kredite kamen vor allem aus Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und China. Auch niedrige Preise für Energielieferungen aus Russland sowie der Verkauf der Gastransitleitungen an Russland fingen die Finanznöte des Landes auf; allein der Preisnachlass auf Öl- und Gasimporte aus Russland summierte sich zwischen 2001 und 2016 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar.

Doch der Staatskapitalismus führte das Land in eine institutionelle Falle, weil er die überkommene Wirtschaftsstruktur konservierte. Die Orientierung an der Erfüllung zentraler Anweisungen und die Stärkung der Kontroll- und Strafverfolgungsbefugnisse der staatlichen Verwaltung schränkten die wirtschaftliche Flexibilität ein. Die Folge war eine Vergrößerung des Rückstands gegenüber Ländern mit funktionierenden Marktmechanismen, die sich schneller an die Herausforderungen und Realitäten der globalen Wirtschaft anpassen konnten.7



*Polen: 2018
**Je höher der Index, desto geringer ist die wahrgenommene Korruption
Quellen8

Sonderweg: Das Herrschaftssystem

In Belarus existiert wie in Russland und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ein neopatrimoniales politisches System, was bedeutet, dass Herrschaft durch eine Kombination von persönlicher Macht und bürokratischer Regelung ausgeübt wird.Der oberste Patron – hier Lukaschenko – steht an der Spitze einer Pyramide von Netzwerken, die von untergeordneten Patronen kontrolliert werden.10 Die Machtelite schöpft ökonomische Renten vorzugsweise aus dem Rohstoff- und Energiegeschäft ab. Das patrimoniale Herrschaftsmodell in Belarus beruht aber anders als jenes in Russland nicht auf einem Arrangement des obersten Patrons mit Oligarchen, noch wie jenes in Zentralasien auf informellen Abkommen zwischen der Staatsführung und regionalen Clanstrukturen. Lukaschenko bedient sich vielmehr einer Schicht hoher Funktionäre, die er in Behörden und Betrieben eingesetzt hat und nach Belieben austauscht.

Korruption wird in Belarus weniger geduldet als in anderen neopatrimonialen Herrschaftssystemen des postsowjetischen Raums. Häufige Antikorruptionsprozesse dienen der Kontrolle der Eliten. Wenn hochrangige Funktionäre entlassen werden, kann Lukaschenko sich als Kämpfer für den Volkswillen und gegen die „habgierige Elite“ profilieren. Jedoch werden die in Ungnade gefallenen Akteure später oft auf andere gutbezahlte Posten versetzt.11

Lukaschenko muss keine Rücksicht auf Interessengruppen nehmen und kann politische und wirtschaftliche Entscheidungen unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Machterhalts treffen.12 Dank dieser Methode ist der im internationalen Vergleich extrem große Sektor der Staatsbetriebe neben dem Sicherheitsapparat sein wichtigstes Herrschaftsinstrument. Gerade in der Provinz kann über Staatsbetriebe besonders effektiv politische Kontrolle ausgeübt werden, da sie dort mitunter die einzigen Arbeitgeber sind. Auch aus diesem Grund sind keine tiefgreifenden Reformen der belarussischen Wirtschaft zu erwarten, solange Lukaschenko an der Macht ist.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen
Osteuropa, Heft 10-11, 2020, insbesondere mit den Beiträgen von Astrid Sahm, Petra Stykow, Fabian Burkhardt/Maryia Rohava, Valerij Karbalevič und Roland Götz.

1.Dieser Text beruht in Teilen auf Götz, Roland (2020): Staatskapitalismus à la Belarus: Sonderweg, Umweg oder Sackgasse, in: Osteuropa, 10-11, 2020, S. 35–60 
2.Timmermann, Heinz (1997): Belarus: eine Diktatur im Herzen Europas?, in: Berichte des BIOst, 10/1997, Köln, S. 17–21 
3.International Monetary Fund: IMF Country report 17/384, Washington D.C. 2017, S. 33 ff.. Unter Staatsbetrieben werden hier Betriebe verstanden, die entweder vollständig oder mehrheitlich in Staatseigentum stehen. Die amtliche belarussische Statistik zählt dagegen Beschäftigte in Betrieben, an denen Privatpersonen oder private Firmen Anteile halten, als Beschäftigte im privaten Sektor, und nennt daher nur einen Anteil der staatlich Beschäftigten von 39 %, siehe das Statistische Jahrbuch zu Arbeit und Beschäftigung in Belarus, Minsk 2020, S. 61. Ebenso verfährt die amtliche Statistik beim Ausweis der industriellen Produktion. Sie rechnet nur 13 % der staatlichen Industrie zu, nicht jedoch die Produktion in Industriebetrieben, die auch private Anteilseigner haben. Addiert man beide Werte, so erhält man einen staatlichen Anteil von 66 % an der Industrieproduktion, siehe das Statistische Jahrbuch der Republik Belarus, Minsk 2020, S. 240 
4.Takun, Anatoli (2018): Agricultural sector in Belarus 
5.Quelle: Wikipedia; für Zahlen für 2019 vgl. Zautra.by 
6.Lindner, Rainer (2007): Blockaden der „Freundschaft“: Der Russland-Belarus-Konflikt als Zeitenwende im postsowjetischen Raum, in: SWP-Aktuell 3/2007, Berlin 
7.Havrylyshyn, Oleh (2007): Fifteen Years of Transformation in the Post-Communist World: Rapid Reformers Outperformed Gradualists, Washington D.C. 
8.The World Bank: Indicators; Belstat: Vybrosy parnikovych gazovUmweltbundesamt; Transparency International: Corruption perceptions index 
9.Der Regimetyp des Neopatrimonialismus wurde, ausgehend von Max Webers Unterscheidung von patrimonialer und bürokratischer Herrschaft, 1973 von Shmuel Eisenstadt eingeführt und zunächst zur Charakterisierung lateinamerikanischer und afrikanischer Regime verwendet. Neopatrimoniale Strukturen im postsowjetischen Raum erläutert Hale, Henry (2015): Patronal Politics: Eurasian regime dynamics in comparitive perspective, New York, S. 95 ff. 
10.Leukavets, Alla (2016): Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: Belarus-Analysen 29, 20.12.2016, S. 2–5 
11.ebd. 
12.Frear, Matthew (2018): Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism, London/New York, insbesondere S. 49–62 
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