200 Tage Protest: Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und ihre Grundrechte. Derzeit vor allem in Mini-flashmobs, bei Abendspaziergängen in kleinen Gruppen … Die großen Straßenproteste sind mittlerweile verschwunden, was vor allem an den massiven Repressionen liegen dürfte, mit denen der Machtapparat Lukaschenkos gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Sei es gegen Journalistinnen wie beispielsweise Kazjaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa, die kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. (Sie hatten ein Live-Streaming eingerichtet von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern in einem Minsker Hinterhof zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag.) Sei es gegen Oppositionspolitiker wie Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antreten wollte, aktuell vor Gericht steht und dem 15 Jahre Haft drohen. Sei es gegen Musiker wie denen von der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies), die für ein Privatkonzert 15 Tage Haft aufgebrummt bekamen. Sei es gegen jegliche Graffiti oder Symbolik des Protests. Die 75-jährige Iraida Misko beispielsweise erhielt eine Geldstrafe von 175 Euro, weil sie an einer „nicht genehmigten Kundgebung“ teilgenommen haben soll. Als Beweis präsentierten die Justizbehörden ein Foto von Iraida Misko, auf dem sie ein weiß-rot-weißes Lokum, eine Süßigkeit, in der Hand hält.
Menschenrechtsorganisationen wie Libereco haben ermittelt, dass seit Beginn der Proteste über 33.000 Menschen inhaftiert wurden. 266 werden aktuell als politische Gefangene geführt. 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen. Es wurden über 1000 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Der Politologe Waleri Karbalewitsch analysiert, dass sich Belarus aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet, für deren Lösung das Regime nur eine Antwort hat: Gewalt und Repressionen. Er schreibt: „Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht.“ Wie es weitergeht, ist aktuell schwer zu sagen.
Aus Anlass des 200. Protesttages lassen wir die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in einem visuellen Rückblick Revue passieren. Es sind zweifelsohne Ausformungen eines historischen Selbstermächtigungsprozesses, mit dem die Belarussen nicht nur sich selbst, sondern auch die internationale Staatenwelt überrascht haben. Sie zeigen, dass die Sehnsucht der Belarussen nach Wandel nicht nur lange unterschätzt wurde, sondern auch, dass wir mehr auf dieses Land schauen müssen, dass wir Wissen brauchen, um entsprechende kulturelle und gesellschaftspolitische Codes und Entwicklungen entziffern und verstehen zu können.
Deswegen haben wir im November 2020 mit unserem Projekt begonnen: Belarus zu entschlüsseln, mit originären Texten, die wir dem deutschen Leser zugänglich machen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Politik, sondern wir unternehmen auch Ausflüge in die Literaturgeschichte – wie bei der Gnose über Janka Kupala – oder in die belarussische Staatswirtschaft. Wir haben viele Glückwünsche und Lobesbekundigungen zum Start des Projekts erhalten. Sonja Zekri hat uns in der Süddeutschen Zeitung wärmstens empfohlen, das Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks berichtete ebenfalls. Seit Anfang Januar hat sich neben der S. Fischer Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. auch ein neuer Förderer zu uns hinzugesellt, worüber wir uns außerordentlich freuen: Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) wird in Kooperation mit dekoder die wissenschaftliche Begleitung und Fundierung des Projektes unterstützen. So können wir beispielsweise unser Gnosen-Programm zu Belarus entsprechend ausbauen und vertiefen – mit Jakob Reuster als Gnosenredakteur auf unserer Seite.
Wir leisten Pionierarbeit. Damit wir das Projekt „Belarus entschlüsseln“ aber insgesamt auf solide Beine stellen können, die eine Langfristigkeit garantieren, brauchen wir vor allem Eure und Ihre geschätzte Unterstützung. Im Belarussischen nennt man solch eine kollektive Untersützungsleistung talaka. Früher kam sie zum Tragen, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, sie zu reparieren oder neu zu errichten. Bei uns ist glücklicherweise nichts abgebrannt, wir wollen etwas aufbauen. Deswegen werden wir in den kommenden Wochen über die sozialen Medien mit einer speziellen Spenden- und Unterstützungskampagne auf den Belarus-dekoder aufmerksam machen. Helft uns dabei! Reicht uns weiter, schreibt und erzählt von uns, und verschenkt eine Klub-Mitgliedschaft, oder gerne auch zwei.
Die ersten 15 eingehenden Spenden, die uns aufgrund – sagen wir – ihrer durchschlagenden Überzeugungskraft fröhlich und freudig stimmen, erhalten als kleines Dankeschön die CD The Red Book of Belarusian Music. Dabei handelt es sich um die erste Compilation belarussischer Musik, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Und zwar im Jahr 2006, als die Machthaber in Belarus gegen Musiker und Band vorgegangen sind: ein wirklich historisches Kulturstück also, das eigentlich längst nicht mehr erhältlich ist.
Für eure Unterstützung und Hilfe sagen wir jetzt schon: Danke und dzjakuj!
Einmal sprach ich mit Schülern über den Krieg. Plötzlich steht ein achtjähriges Mädchen auf: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass die Kinder den Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“ Daniil Granin
Am 28. Juni 1942 stürzte der belarusische Volksdichter Janka Kupala im Treppenhaus des Moskauer Hotel Moskwa zehn Stockwerke in die Tiefe. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt: Der offiziellen Version zufolge handelte es sich um einen Unfall, manche vermuten jedoch einen Suizid und wieder andere nehmen an, dass der Geheimdienst seine Hände im Spiel hatte. So setzt sich noch in der Bewertung von Kupalas Tod eine Zwiespältigkeit fort, die bereits sein Leben und Schreiben charakterisiert hatte. Wer war Janka Kupala?
Geboren wurde Kupala 1882 als Iwan Daminikawitsch Luzewitsch auf einem kleinen Bauernhof in Wjasynka, einem Weiler nordwestlich von Minsk. Das belarusische Gebiet, das bis Ende des 18. Jahrhunderts Teil der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik gewesen war, gehörte damals zum Russischen Reich. Es hatte im 19. Jahrhundert einer massiven Russifizierung unterlegen, die die Entwicklung einer belarusischen Nationalbewegung verhinderte. Die einzige offizielle Sprache war das Russische. Die breite belarusische Bevölkerung lebte auf dem Land, war überwiegend bäuerlich, orthodox, weitgehend ungebildet und sprach Belarusisch. In den Städten überwog dagegen die jiddischsprachige jüdische Bevölkerung. Die dünne Schicht der einheimischen regionalen Elite wiederum war mehrheitlich katholisch und sprach Polnisch.
Kupalas Familie gehörte der besitzlosen Szlachta an, der untersten Schicht dieser regionalen Elite – so konnte Kupala immerhin Lesen und Schreiben lernen (zunächst Polnisch, dann Russisch). Der ökonomische Status und das Arbeitsleben der Familie entsprachen jedoch denen einfacher Bauern; аls Pächter bewirtschaftete der Vater verschiedene Kleinhöfe, und die Familie war gezwungen, alle paar Jahre umzuziehen.
Dieser doppelten Prägung verdankte Kupala sein scharfes Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit, seine Identifikation mit dem belarusischen Bauern, die Empörung über das eigene und über das gesamtbelarusische „Entwürdigt-Sein“, die Bindung an Volksmythologie und Folklore, an den Ackerboden und den Kreislauf der Natur. Sie dominierten sein frühes Werk und trafen literarisch den Nerv seiner Zeit. Gleichzeitig bot diese Herkunft den Impuls und die Möglichkeit für den Sprung aus dem bäuerlichen Dasein in die Kreise der intellektuellen Elite.
Belarusischer Nationaldichter
Im Fahrwasser der Russischen Revolution trieb diese Elite ab 1905 die belarusische Wiedergeburtsbewegung voran, deren wichtigstes Organ die Wochenzeitung Nascha Niwa war. Kupala, der zunächst auf Polnisch gedichtet hatte, wechselte zum Belarusischen, schloss sich dieser Bewegung an und wurde ihre literarische Galionsfigur.
Sein literarisches Pseudonym war poetologisches Programm: Die belarusische Koseform Janka des christlichen Namens Johannes (Ivan) in Verbindung mit der Referenz auf die heidnische Tradition des Mittsommerfestes Kupalle in der Nacht auf den Johannitag (Kupalas Geburtstag) verorteten den Dichter im „einfachen Volk“, wiesen ihn aus als Träger christlicher Werte und heidnischer Mythologie, romantischer Symbolik und Utopie – und nicht zuletzt als ‚Prophet‘. Kupala inszenierte sich als glücklosen und schlichten Sänger „vom Dorf“, dem „das Elend Mutter war“1, und der das Glück seines Volkes mehr suchte als persönlichen Dichterruhm.
Sein erster Gedichtband Shaleika (Die Schalmei, 1908) thematisierte in einfacher, an Volkslieder angelehnter Stilistik den bäuerlichen Alltag: den Bauer, das Mädchen, die Sense, die Ernte, den Zyklus der Natur – jedoch nicht als Idylle, sondern aus der Perspektive sozialer und nationaler Entrechtung. Der Gedichtband, der in einen literarisch weitgehend brachen Raum vorstieß, wurde als nationalliterarische Initialzündung euphorisch begrüßt: Kupala avancierte zum Nationaldichter. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass als lyrisches alter ego häufig der Bauer selbst auftrat („Ich bin Bauer, dummer Bauer“)2, daneben aber auch die Belarusen erstmals literarisch als Kollektivsubjekt gefasst wurden:
Was tragen ihre mageren Schultern, zerschundenen Hände und Füße in Bast? − ihre Kränkung. […] Was aber, was wünschen sie, die Blinden und Tauben, ewig Geschmähten? − Menschen zu heißen.3
Vilnius und Petersburg
Der Erfolg und seine Rolle als Nationaldichter bahnten Kupala den Weg in die Zentren der belarusischen Wiedergeburtsbewegung: 1908 ging er nach Vilnius, wo er unter anderem als Literaturredakteur der Zeitung Nascha Niwa tätig war, und ein Jahr später nach Petersburg, wo er sich weiterbildete. Mit dem Eintritt in die Öffentlichkeit wurde Kupalas zwiespältige Autor-imago offenbar, die zur Authentizität des Nationaldichters in einem Spannungsverhältnis stand: Die Selbstinszenierung des im Namen des entrechteten Bauern sprechenden Dichter-Ichs ‚aus dem Volk‘ war nicht deckungsgleich mit der adretten Erscheinung, die den Betrachter aus Kupalas Portrait dieser Zeit anblickte.
Die Vilniuser und Petersburger Jahre waren extrem produktiv. Mit zwei weiteren Gedichtbänden, zahlreichen Poemen, der Komödie Paulinka (1913) und dem Drama Raskidanaje hnjasdo (Das zerstreute Nest, 1913) erweiterte und entwickelte Kupala das Gattungsspektrum der jungen belarusischen Literatur. Das Thema seiner Werke bildete die Notwendigkeit der belarusischen nationalen, sozialen und kulturellen Emanzipation, für deren literarische Inszenierung Kupala unterschiedliche Formen, Verfahren und Modi erprobte. In Paulinka entwarf er mit der selbstbewussten Titelheldin eine Symbolfigur der „neuen Belarus’“ (Belarus ist im Belarusischen weiblich), die beherzt – wenn auch letztlich erfolglos − die Wahl ihres eigenen Weges verteidigt; mit Raskidanaje hnjasdo schuf er die düster-dystopische Schilderung der Zerstörung einer Familie, die ihr Land an einen Großgrundbesitzer verliert und aus dem Haus getrieben wird. Auch hier ruht die Hoffnung auf der jungen Generation.
1913 kehrte Kupala nach Vilnius zurück und übernahm 1914 die Redaktion von Nascha Niwa, bis die Zeitung eingestellt wurde. Während des Ersten Weltkriegs und der Revolution verschlug es Kupala an verschiedene Orte, 1919 ließ er sich dauerhaft in Minsk nieder; seinen Kriegsdienst leistete er hinter der Front. Das literarische Leben kam in jenen Jahren weitgehend zum Erliegen − auch Kupala schwieg. Erst 1918 begann er wieder zu dichten:
Ich nehm die schon verstummte Flöte wieder Die Hirtenflöte. Ob sie wohl noch singt? […] Ein dunkles Bangen will mein Spiel begleiten: Wie hörn’s Verwandte auf den Heimatfluren, Wie Nachbarn? Werden sie es segnend lieben, Zertreten sie’s als einen eitlen Tand? Ich aber irre trauernd auf den Spuren Und spiele, von geheimem Wahn getrieben Für Mutter-Heimat, für das Vaterland.4
Belarusischer Volksdichter
Die Hoffnungen auf die dauerhafte Realisierung eines souveränen Staates schienen sich 1919 zu erfüllen, wurden aber bald wieder zerschlagen. Dafür ging die Gründung der BSSR als Teil der Sowjetunion zunächst mit der Förderung nationaler Kultur einher: Im Zuge der Belarussisazyja wurde neben der Gründung zahlreicher Kulturinstitutionen der Status des Belarusischen angehoben und begonnen, die Sprache zu kodifizieren. Belarusische Literatur, Kultur und Wissenschaft erhielten erstmals eine solide institutionelle Basis.
Kupalas Position indessen geriet unter Spannung. Die Verbindung nationaler und sozialer Anliegen, die sein Werk kennzeichnete, wurde durch das offiziell verbindliche Modell proletarischer Literatur zunehmend diskreditiert. Zudem geriet er als Verfechter der Wiedergeburt unter den Generalverdacht „national-demokratischer“ und „antisowjetischer“ Gesinnung. Als Kupala 1925 sein zwanzigjähriges Dichterjubiläum feierte, wurde ihm von höchster Stelle der Titel „Volksdichter“ verliehen – verbunden mit einer ansehnlichen Pension auf Lebenszeit. Mit dieser Überschreibung der inoffiziellen Rolle des Nationaldichters durch den offiziellen Titel des (proletarischen) Volksdichters wurde Kupalas herausragende Position pervertiert und sein Selbstverständnis paradox; er wurde in direkte Abhängigkeit von einem System gebracht, das das bekämpfte, was den Kern seines Schaffens ausmachte.
Tuteischyja
1924 erschien Kupalas 1922 entstandene Tragikomödie Tuteischyja (Die Hiesigen). Mit den „Hiesigen“ als Belarusen ohne nationales Bewusstsein („Auch-Belarusen vom Stamm der Renegaten und Degeneraten“)5 thematisierte die im Minsk der Jahre 1918 bis 1920 angesiedelte Handlung die Neutralisierung der belarusischen Identitätsbildung durch externe Machtansprüche. Im opportunistischen Protagonisten Mikita Znosak, der sich als Prototyp degenerierten belarusischen Selbstverständnisses in Namensform, Sprache, Kleidung, häuslicher Einrichtung, Währung und Profession jeweils an die deutsche, polnische und bolschewistische Besatzung anpasst, sich in der Abfolge wechselnder Regimes in zunehmend prekären Allianzen verstrickt und schließlich von den Bolschewiki verhaftet wird, führte Kupala den totalen belarusischen Identitätsverlust vor Augen:
Ich verstehe nicht, was, nebenbei gesagt, meine Weltanschauung damit zu tun hat. Man kann eine Weltanschauung haben, etwas Anderes denken, etwas Drittes sagen, und etwas Viertes tun.6
Die Subversivität von Tuteischyja lag und liegt in der tiefgreifenden Ambivalenz der grotesk gezeichneten Hauptfigur Mikita, dessen ethische Korrumpiertheit sich in seinem naiv-komischen (Sprach-)Verhalten aufhebt: er ist Verräter und Opfer gleichermaßen.7
Diese Ambivalenz trat in der Uraufführung 1926 offen zutage, und die Zensurbehörde nahm das Stück, dem man nun vorwarf, „voller national-demokratischer Elemente“ zu sein, auf der Stelle vom Spielplan. Bis in die 1980er Jahre erschien dieses hochpolitische, „märtyrerhafteste Werk der belarusischen Literatur“8 in Belarus weder im Druck, noch auf der Bühne. Nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Verbote (einigermaßen regelmäßig lief das Stück nur zwischen 1990 und 2010 am Kupala-Theater in Minsk) ist Tuteischyja für viele Belarusen bis heute Symbol der immer wieder verhinderten nationalen Selbstfindung.
‚Kajan Lupaka‘
Fortan war Kupala im Visier der ideologischen Kontrolle. Im Zuge der „Säuberung“ der künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz von „konterrevolutionären“ und „national-demokratischen“ Tendenzen ab 1929 wurde er der Mitgliedschaft in der Vereinigung zur Befreiung von Belarus beschuldigt (einer Organisation, deren Existenz nicht belegt ist) und wiederholt von der Geheimpolizei verhört. Unter dem Druck der Repressionen unternahm er im November 1930 einen Suizidversuch. Innerlich gebrochen, unterschrieb er nach seiner Genesung ein öffentliches Schuld- und Reueeingeständnis.
Danach schrieb Kupala vornehmlich ‚Dienstlyrik‘ – Gedichte anlässlich von Jubiläen und Jahrestagen, Werke auf die Sowjetunion, die Partei und Stalin, auf die Kollektivierung und den Komsomol, gegen Polen (von 1921 bis 1939 war nahezu die Hälfte des belarusischen Territoriums als Teil Ostpolens unter polnischer Herrschaft), Kriegsgedichte gegen Hitlerdeutschland und ähnliches. Kupalas lyrisches Ich, das 1926, im letzten Jahr authentischen Dichtens, noch die Kraft hatte, „mich der Schmähung nicht zu beugen, mich zu wehren“9, kapitulierte vor dem ideologischen Terror der 1930er Jahre. Es zog sich meist hinter ein unpersönliches Kollektivsubjekt zurück, greifbar bleibt Kupalas ehemalige imago in dieser Zeit einzig in seinen Übersetzungen des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko.
Kupalas Perversion zum „Holzsoldaten“ des Regimes beschrieb der Schriftsteller Alhierd Bacharevič mit dem aus Kupalas Pseudonym gebildeten Anagramm „Kajan Lupaka“: Kupala habe sich „irgendwann aus der Welt der echten Literatur verflüchtigt, wie Gas durch ein Loch im Mantel. […] Ohne aufzuhören zu schreiben, gedruckt zu werden und als Dichter zu gelten.“10 Tatsächlich tut man sich in Belarus mit dem späten Kupala schwer – wohl auch deshalb, weil die Autor-persona dort bis heute eine Kategorie bleibt, die am durch Kupala mitbegründeten Authentizitätspostulat gemessen wird.
Kupala heute
Kupalas Bedeutung für die belarusische Literatur, aber auch für das kollektive Bewusstsein, lässt sich kaum überschätzen. Sein Werk gilt als „Enzyklopädie des Lebens des belarusischen Volkes“11, als „stärkster Ausdruck der belarusischen nationalen Mentalität“12; mit ihm sind die Begründung der modernen belarusischen Literatur, die Entwicklung der Literatursprache, die Ausdifferenzierung und Entwicklung des Gattungssystems verbunden. Vor allem aber wird Kupala, dessen Werk für die nationale, soziale und kulturelle Würde der Belarusen stritt, gewissermaßen als Metonymie eines Landes begriffen, dessen Selbstbestimmung immer noch aussteht. So erklärt sich auch seine Aktualität in der gegenwärtigen Krise – angefangen bei der Losung Belarus’ lebt bis hin zur neuen Popularität der Tuteischyja.13
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen
McMillin, Arnold (1977): Kupała, in: ders.: Die Literatur der Weißrussen: A History of Byelorussian Literature, Gießen, S. 175-195
Moskalik, Michael (1961): Janka Kupała: Der Sänger des weissruthenischen Volkstums, München
7.ausführlicher zu Kupala und Tutėjšyja vgl. Kohler, Gun-Britt (2019): Feldgrenzen, Dissimilation und das Ringen um kulturelles Kapital: Selbst- und reziproke Fremdkonzeptualisierungen polnischer und belarussischer Literatur zu Beginn des 20. Jh., in: Die Welt der Slaven, Internationale Halbjahresschrift für Slavistik 64 (2019) 1, S. 34-66 ↑
Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch wagt eine Prognose für die weitere politische Entwicklung in seiner Heimat – und die sieht alles andere als rosig aus.
Der Faschismus ist in Belarus wieder in aller Munde: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič erzählt, was es mit diesem wechselvollen Begriff in seiner Heimat auf sich hat.
„Warum schweigt ihr?”, fragt Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch die russische Intelligenzija in einem offenen Brief angesichts der Polizeigewalt in Belarus. Hier die Antwort der russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja.
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