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Im Schienenkrieg gegen Putin

Seit Beginn des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kam es in Belarus zu zahlreichen Sabotageakten an Eisenbahnstrecken, über die russisches Militärgerät transportiert wurde. Für seine Invasion nutzt der Kreml auch den belarussischen Staat als Aufmarschgebiet, was nur möglich war, weil sich Alexander Lukaschenko vor allem in den vergangenen zwei Jahren in eine fatale Abhängigkeit verstrickt hat. Auch in Russland kam es seit März zu zahlreichen Anschlägen auf die Infrastruktur der dortigen Eisenbahn.
Wer steckte hinter den Sabotageakten an den Bahnstrecken in Belarus? Handelte es sich um vereinzelte Akte des Widerstands oder gar um eine konzertierte Aktion? Wie gehen die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegen die sogenannten Eisenbahn-Partisanen vor, die offenbar eine Art Schienenkrieg führen?
Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die belarussische Journalistin Anja Perowa in einem Recherchestück für das russische Online-Medium Meduza.

Источник Meduza

„Im Frühjahr wurde bei mir eine Hausdurchsuchung durchgeführt: Zunächst habe ich gar nicht verstanden, warum. Aber dann haben mir die Beamten erklärt, ich sei Zeugin in einem Prozess nach Paragraf 309. Dahinter verbirgt sich ‚mutwillige Beschädigung von Verkehrsmitteln und -wegen‘“, erzählt Natalja, eine Belarussin, deren Namen wir auf ihren Wunsch geändert haben. Natalja lebt in einer Stadt mit einem großen Eisenbahnknotenpunkt, auch ihren Wohnort nennen wir auf ihren Wunsch hin nicht, um sie nicht zu gefährden. 

Natalja wurde zu den Sabotageaktionen im Bahnverkehr verhört, anschließend wurden ihre technischen Geräte konfisziert. Mehrere Stunden verbrachte sie auf dem Polizeirevier, dann ließ man sie gehen. Warum sie in dem Fall als Zeugin geführt wird, weiß sie bis heute nicht. „Vielleicht war ich an einem Tag der Sabotageakte irgendwo in der Nähe und man hat mich über mein Mobiltelefon geortet“, vermutet sie. 

Nach den ersten aufsehenerregenden Sabotageaktionen gab das belarussische Ermittlungskomitee Anfang März bekannt, dass Untersuchungen „der Terroranschläge im Schienenverkehr“ eingeleitet wurden. Die Behörde erklärte, die Partisanen verfolgten mit ihren Sabotageakten das Ziel „Katastrophen zu verursachen und Menschen zu töten“. Es folgten massenweise Hausdurchsuchungen in den Städten, wo es Sabotageakte gab. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna betraf das die Städte Dsershinsk, Baranowitschi, Stolbzy – die drei Städte bilden Eisenbahnknotenpunkte auf dem Weg von Moskau nach Brest.

Laut Wjasna wurden in Zusammenhang mit den Sabotageaktionen bis Mitte Juni mindestens elf Personen festgenommen. Sie werden beschuldigt, einen „Terroranschlag“ verübt zu haben. Sie alle befinden sich derzeit in verschiedenen Haftanstalten. Menschenrechtsorganisationen stufen sie als politische Gefangene ein. Sie alle werden nach Paragraf 289 angeklagt: „Verübter Terroranschlag“. Die Höchststrafe dafür ist in Belarus die Todesstrafe. Am 18. Mai 2022 hat Lukaschenko außerdem Änderungen im Strafgesetzbuch unterzeichnet. Seitdem steht auch auf „Versuchten Terroranschlag“ die Todesstrafe. Die belarussische Staatsanwaltschaft habe bereits Anfang März ein Verfahren eingeleitet, so der Staatsanwalt Andrej Schwed. Die Sache sei noch nicht vor Gericht, aber die Ermittlungen liefen. 

Der erste Angriff auf die Belarussische Eisenbahn ereignete sich noch vor dem Krieg: Am 24. Januar, als die russische Armee zu den Truppenmanövern Sojusnaja reschimost nach Belarus kam. Aus dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner geht hervor, dass etwa 200 Züge (je 50 Waggons) mit militärischem Gerät von Russland nach Belarus losgeschickt wurden. In dem Kanal heißt es auch, das sei eine beispiellos hohe Zahl; so seien im September letzten Jahres innerhalb eines Monats 29 Militärzüge für die gemeinsamen Truppenübungen Zapad 2021 nach Belarus verlegt worden. 

Bis zum Frühjahr sollen es mehr als 80 Sabotageakte gewesen sein

Über den Angriff am 24. Januar berichtete die belarussische Initiative Cyberpartisanen. Sie hat sich zu diesem auch bekannt. Mitglieder der Bewegung behaupten, sie hätten das System der automatischen Fahrplanerstellung und das System der elektronischen Datenverarbeitung lahmgelegt. Am selben Tag gab auch die Belarussische Eisenbahn bekannt, dass Online-Tickets aufgrund einer technischen Störung nicht gebucht werden könnten. Das System war zwei Wochen lang außer Betrieb, Tickets wurden nur am Schalter verkauft und mussten vom Bahnpersonal per Hand ausgestellt werden.

„Damit wollten wir demonstrieren, dass die Belarussen mit der Präsenz der russischen Armee in ihrem Land nicht einverstanden sind“, erklärt die Sprecherin der Cyberpartisanen Juliana Schmetowez gegenüber Meduza. Sie sagt auch, die Störungen im Ticketverkauf seien nicht von den Hackern beabsichtigt gewesen. „Wir versuchen die Bereiche, die Normalbürger betreffen, möglichst wenig zu tangieren“, sagt sie. Die Cyberpartisanen würden sich oft gegen Angriffe entscheiden, wenn sich „die Konsequenzen nicht vollständig kalkulieren lassen“. 

Am fünften Kriegstag gab es die ersten Offline-Angriffe. In dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner tauchten Informationen über einen in Brand gesetzten Schaltschrank, einer Anlage zur Steuerung des Bahnbetriebs, nahe der Station Stolbzy in der Oblast Minsk auf. Die Folgen waren ein gestörtes Signal- und Weichensystem. Noch am selben Tag gab die Gesellschaft bekannt, dass auch in der Oblast Gomel auf dem Streckenabschnitt Ostankowitschi – Sherd ein Schaltschrank abgebrannt sei. Die Belarussische Eisenbahn gab zu diesen Vorfällen keinen offiziellen Kommentar ab. 

Am 2. März kündigten die Cyberpartisanen einen Angriff auf das Verwaltungszentrum des Gütertransports der Belarussischen Eisenbahn an. Ein ehemaliger Bahnmitarbeiter äußerte sich dazu anonym gegenüber Meduza:

„Jede Störung der Bahn-Software führt zu einer Störung des Fahrplans. Beispielsweise wird für jeden Gütertransport ein sogenannter Wagenzettel in einem speziellen Programm erstellt – das ist ein Dokument mit technischen und Verwaltungsdetails, das die gesamte Fahrt mitgeführt wird. Darin steht, wie viele Waggons ein Zug hat, ihre Nummern, welche Güter transportiert werden und deren Gewicht, wer Absender und wer Empfänger ist … kurzum, da steht alles drin. Und das für 50 bis 60 Waggons, stellen Sie sich das einmal vor. Bevor es Computer gab, wurden solche Wagenzettel von Hand ausgefüllt und dem Lokführer mitgegeben. Ohne diese Unterlagen dürfen die Züge nicht losfahren. Wenn das System gestört ist, muss das alles von Hand gemacht werden, stellen Sie sich einmal vor, wie lange das dauert, all diese Unterlagen von Hand zu schreiben und zu kopieren. Hinzu kommt ja auch, dass diese Abläufe längst automatisiert sind und die Stellen von Menschen, die das machen könnten, längst gestrichen wurden.“

Darauf waren die Sabotageakte nicht beschränkt: Am 14. März, so die Information in eben jenem Telegram-Kanal, wurde in der Oblast Brest eine Signallampe außer Betrieb gesetzt, am 16. März wurde auf dem Streckenabschnitt Farinowo-Sagatje in der Oblast Witebsk ein Schaltschrank in Brand gesetzt, in der Nacht zum 25. März zwei Schaltschränke nahe Borissow, und am 28. März ein Relais-Schaltschrank unweit der Station Babino im Kreis Bobruisk.

Laut dem belarussischen Innenministerium kam es bis Anfang April zu insgesamt über 80 Sabotageakten am belarussischen Schienennetz. Seitdem gibt es keine Meldungen über weitere Aktionen, weder von der belarussischen Opposition noch von den staatlichen Behörden.

Eisenbahner helfen mit internen Informationen

Sergej Woitechowitsch war vor zwei Jahren noch ein Arbeiter im Minsker Bahnbetriebswerk, einer Wartungsanlage der Belarussischen Eisenbahn. Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 gründete er den Telegram-Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner, damit sich die Arbeiter vernetzen und ihre Interessen vertreten können. Immer mehr Arbeiter fügten ihre Kollegen hinzu und die Gruppe wuchs auf etwa 6000 Mitglieder. Später entstand noch ein gleichnamiger Kanal mit Nachrichtenmeldungen. Dort wurden Unterlagen veröffentlicht, die für dienstliche Zwecke bestimmt waren.

Anfang 2021 wurde Igor Kozlowski stellvertretender Leiter der Belarussischen Eisenbahn. Nach Angaben der offiziellen Webseite „ist er für den Zivilschutz der Unternehmen der Belarussischen Eisenbahn zuständig“. Informationen zu seinem beruflichen Werdegang finden sich auf der Seite keine. Die Cyberpartisanen haben die Datenbank AIS Pasport gehackt und herausgefunden, dass Kozlowski von 1995 bis 2020 KGB-Mitarbeiter war.

Schon im September 2021 wurde der Telegram-Kanal Live. Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner von der Regierung als „extremistisch“ eingestuft. [Kanal-Admin – dek.] Sergej Woitechowitsch glaubt, dass es direkt, nachdem im Juli der neue Chef aus dem KGB seinen Posten bei der Belarussischen Eisenbahn antrat, zu dieser Einstufung kam. Woitechowitsch hatte Belarus bereits im Mai 2021 verlassen, weil er verfolgt wurde (man ließ ihn wissen, die Sicherheitsbehörden hätten sich seiner bereits „angenommen“). Im Frühling 2022 erklärte der KGB Woitechowitschs Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner endgültig zu einer „extremistischen Vereinigung“ und verbot damit jegliche Aktivitäten in Belarus. 

Am 30. März 2022 erschienen in regierungsfreundlichen Telegram-Kanälen sogenannte Reuevideos von festgenommenen Eisenbahnmitarbeitern. Darin erzählen sie, wann sie Telegram installiert und den als extremistisch eingestuften Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner abonniert hätten. Die Festgenommenen sagen auch, sie hätten sich von dem Kanal abgemeldet, sobald sie dort „Aufrufe zu destruktiven Aktivitäten“ gesehen hätten.

Letztlich seien die meisten von ihnen freigelassen worden, sagt Woitechowitsch mit Verweis auf private Quellen. Manche sind noch als Verdächtige in dem Prozess gelistet, gegen andere wurden administrative Verfahren eingeleitet, weil die Sicherheitskräfte „bei der Gelegenheit“ gleich noch Abonnements anderer als extremistisch eingestufter Kanäle und Chats bei ihnen gefunden hatten. „Die Sicherheitskräfte schmeißen ab und zu spezielle Links zur Deanonymisierung in die Chats – damit finden sie die Leute“, erklärt Woitechowitsch.

„Um einen Schaltschrank anzuzünden, braucht man Fachwissen – die Eisenbahner stellen den Partisanen Information zur Verfügung. Das ist es, womit sie im Wesentlichen helfen“, sagt Woitechowitsch. Mitglieder der Gemeinschaft der Eisenbahner würden mit einigen oppositionellen Organisationen zusammenarbeiten: den Cyberpartisanen, ByPol und dem „Peramoha“-Plan. Sie alle erhielten von den Eisenbahnern Informationen über die Zugrouten.

Auch die Sprecherin der Cyberpartisanen Schmetowez bestätigt, dass die Gemeinschaft der Eisenbahner ihnen Informationen liefert, wie eine Sabotageaktion durchgeführt werden kann. Erklärtes Ziel der Partisanen sei es, den Transport von militärischem Gerät und Treibstoff aus Russland in die Ukraine zu behindern. „Auf dem Luftweg lässt sich so eine große Menge Kraftstoff nicht transportieren – der ist zu schwer. Auf der Straße auch nicht – das Fassungsvermögen reicht nicht. Das wichtigste Ziel der Cyberpartisanen ist es, das Vorankommen der Züge zumindest zu verlangsamen, und so den Ukrainern Zeit zu verschaffen“, so Schmetowez. 

Seit 2021 sind die Cyberpartisanen auch Teil der Bewegung Supraziu, die von der belarussischen Regierung als extremistisch eingestuft wurde. Die Cyberpartisanen bekennen sich zum Hack der Datenbanken des Innenministeriums während der belarussischen Proteste 2020, zu den Hacks und den DDoS-Angriffen auf staatliche Webseiten von 2020 bis 2022 und auch zum gegenwärtigen Angriff auf die Belarussische Eisenbahn. Juliana Schmetowez berichtet: 

„Uns war klar, wie das russische Militär das Schienennetz nutzen könnte. Schon letztes Jahr hat die Organisation Tschorny bussel, die auch zu Supraziu gehört, ihre ersten Aktionen an der Schiene durchgeführt. Um nicht zu sehr ins Detail zu gehen, sage ich nur: Es wurde an bestimmten Stellen Stacheldraht ausgelegt, um das Vorankommen der Züge zu verzögern. Das gefährdete keine Menschenleben, aber das Vorankommen, auch der Güterzüge, wurde eben verzögert.“ Schmetowez fügt außerdem noch hinzu, wenn man keinen offenen Widerstand leisten könne, dann seien solche Partisanenaktionen immer noch die einzigen Mittel für den Kampf gegen das Regime. 

„Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen“

In der Nacht vom 1. zum 2. März brachte der Belarusse Sergej Glebko in Stolbzy seine drei Kinder ins Bett, anschließend trank er mit seiner Frau Jekaterina „Schnaps und machte sich dann zu den Gleisen in seiner Stadt auf“. Dort zündete er ein paar Baumstämme an, die er aufs Gleis gelegt hatte, und filmte das mit seinem Mobiltelefon. Diese Szene lässt sich anhand des Protokolls aus dem Innenministerium rekonstruieren. Die Behörde veröffentlichte ein „Reuevideo“, in dem Glebko seine Tat gesteht. Man sieht, dass er geschlagen wurde, er hat frische Wunden auf der Nase und an der Stirn. 

„Ich hab übertrieben viel Telegram-Kanäle geschaut und war dagegen – ich wollte meinen Beistand [mit den oppositionell eingestellten Eisenbahnern] irgendwie ausdrücken, deswegen habe ich die Baumstämme angezündet“, sagt Glebko. Er ist nach Paragraf 289 Strafgesetzbuch [„Terroranschlag“] angeklagt. Derzeit befindet er sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Minsk und wartet auf den Prozess, ihm droht die Todesstrafe – alles hängt davon ab, welcher Teil von Paragraf 289 bei ihm zur Anwendung kommt. Bislang ist das noch nicht bekannt. 

„Die Spezialaktionen, die die Eisenbahn lahmlegen, [die Leute,] die nachts verschiedene Anschläge durchführen – das gehört alles zum Testlauf des Peramoha-Plans“, sagte Alexandra Logwinowa, die Außenbeauftragte von Swetlana Tichanowskajas Team bei einer Pressekonferenz am 8. März 2022. Laut der offiziellen Webseite des Plans wurde er von ByPol auf Tichanowskajas Anweisung hin erstellt. 

ByPol gab die Gründung des Peramoha-Plans genau ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bekannt. Derzeit sollen etwa 200.000 Menschen daran beteiligt sein. Ein Sprecher des Peramoha-Plans erklärt: „Der Plan umfasst verschiedene Aktionen, unter anderem Blockaden der Infrastruktur. Die Aktionen an der Eisenbahn wurden von Mitgliedern des Plans durchgeführt. Aber [Sergej Glebkos] Aktion mit den brennenden Baumstämmen ist nicht von uns – das war eine lokale Initiative. Wir halten sie für wenig effektiv und gefährlich.“

Laut dem Peramoha-Sprecher fuhren nach dem 5. März 2022 fast eine Woche keine russischen Züge durch Belarus: „Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen.“ Er sagt gegenüber Meduza außerdem, dass die Änderungen des Strafgesetzbuchs, welche die Todesstrafe für einen versuchten Terroranschlag festgeschrieben haben, die Menschen nicht einschüchtern würden: „Die Gruppen, die bereit waren, unter den heutigen Bedingungen aktiv zu sein, sind geblieben.“

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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