Am heutigen Dienstag, 21. Juni 2022, ist der 118. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Den 100. Tag des Kriegs am Freitag, dem 3. Juni, hatten zahlreiche Medien genutzt, um in Analysen, Hintergründen, Interviews die hundert Tage zu reflektieren, die Europa schon jetzt grundlegend verändert haben.
Für das ukrainische Online-Medium zbruc.eu hat Juri Andruchowytsch einen Text dazu verfasst. Andruchowytsch, der aus Iwano-Frankiwsk in der Westukraine kommt, dem historischen Galizien, ist eine der weltweit bekanntesten literarischen ukrainischen Stimmen. Seine Gedichte, Essays und Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet, auch in Deutschland, etwa mit der Goethe Medaille (2016) oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006).
Andruchowytschs Text ist allerdings nicht am 100. Tag, sondern am 107. Tag des Krieges erschienen. Also nach dem runden Datum, aber noch bevor sich Olaf Scholz zusammen mit weiteren europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangener Woche für einen baldigen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ausgesprochen hat. Vermutlich hätte es Andruchowytschs sehr grundlegenden Text nicht geändert – von dem er selbst schreibt: „Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen.“ dekoder hat ihn aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.
Источник
Zum 100. Kriegstag hat es bei mir [mit einem Text] nicht geklappt, aber am 100. haben auch ohne mich alle über den 100. gesprochen. Genauer gesagt, nicht nur über den 100., sondern über alle 100 Tage, die dieser miteinschließt.
Und das ist nicht verwunderlich, im Gegenteil: 100 Tage sind vermutlich die erste bedeutende politische Zeiteinheit. Die wohl, wie unschwer zu erraten, mit Napoleons 100 Tagen begonnene Methode, 100 Tage nach Beginn jedes beliebigen Prozesses ein Fazit zu ziehen, gefiel und bürgerte sich ein. Mittlerweile ist es nicht nur eine Methode, sondern eine ganze Methodik, um nicht zu sagen eine Methodologie: 100 Tage neue Regierung, 100 Tage missglückte Reform, 100 Tage Diktatur, 100 Tage Pandemie, Protest, Regen, Überschwemmung etc. Ich denke auch an die Hundert Tage, Genosse Soldat. Hier werden jedoch die Tage bis zur Entlassung aus der Armee heruntergezählt, es geht um eine Verminderung, um eine Reduktion, eine Regression, eine Reversion. Also um die Annäherung an die gierig herbeigesehnte, wunderbare Null, mit der die neue Freiheit beginnt.
Heute aber sind wir in der gegenteiligen Situation: Vermehrung, Progression und Aversion. Vor einer Woche war der 100., heute ist der 107. Tag des Krieges, den man häufig großangelegt nennt. In meinen Augen ist er aber noch nicht vollumfänglich. Zur Vollumfänglichkeit fehlt ihm nicht viel: die Generalmobilmachung zum Beispiel, oder ein Atomschlag. Das wissen alle und alle denken daran.
Auch ich denke daran, und ein paar Gedanken habe ich hier versammelt, eigentlich ist es ein ungeordnetes Wirrwarr an Gedanken. Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen. Wenn es denn noch jemanden geben wird, der es lesen und dem man es vorlesen kann. Dennoch sammle ich.
Punkt für Punkt also. Was beobachten wir?
1) Die Regierung – die zentrale, in Kyjiw – ist nicht geflohen, nicht ausgereist, hat sich nicht in Luft aufgelöst (oder wie sie sich selbst rühmt: „Der Präsident ist hier, der Ministerpräsident ist hier.“). Das ist schließlich normal, so muss es sein. Aber die Propaganda modelliert daraus einen unvergleichlichen Heroismus, der in meinen Augen allmählich auf die Nerven geht. Sie sind nicht geflohen, tolle Kerle. Trotzdem sind nicht sie die Helden.
2) In der westlichen Auslegung der ukrainischen Gegenwehr hat sich eine wesentliche Entwicklung vollzogen (und vollzieht sich auch weiterhin): Sie galt als unmöglich, vergeblich, zum Scheitern verdammt, unerwartet, verzweifelt, verlustreich, hoffnungslos, mutig, heroisch, effektiv, gekonnt, erfolgreich. Jetzt hat die Spirale anscheinend dialektisch eine neue Windung erreicht: sie ist gefährlich und sie muss begrenzt werden. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, aber auch russland [sic – dek] darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Diese absurde These wird offenbar gerade zum westlichen und insbesondere europäischen Mainstream.
3) Ich weiß nicht, welcher Schlaumeier die in letzter Zeit oft wiederholte These formuliert hat, dass „jeder Krieg mit Verhandlungen endet“. Nein, nicht jeder. Es gibt auch Fälle von bedingungsloser Kapitulation. Das in unseren Breiten bekannteste Beispiel dafür ist Berlin, 8. Mai 1945.
4) Einer der amerikanischen Geheimdienste hat sich für seine ungenauen Vorkriegsprognosen bereits entschuldigt – ein unerwarteter Faktor wurde nicht berücksichtigt: der Kampfeswille der Ukrainer. Doch die schwärzesten Schwäne kommen noch.
5) Immer deutlicher wird, dass das Zeichen Z für Zombies steht. Im Krieg gegen die Ukraine spielen Leichen eine führende Rolle: kobson, shirinowski, motorola, putin.
6) Alles reimt sich mit allem. Wir haben Volonteure, sie Marodeure. Bei uns wird vertraut, bei ihnen geklaut.
7) Sowohl bei uns als auch bei ihnen sterben Menschen. Aber unsere für Freiheit und Würde, und ihre für putins Hirngespinste. Hier reimt sich nichts miteinander, denn bei uns rettet man Hunde, und bei ihnen isst man sie.
8) Der Wirbel im Internet um das „Canceln“ der GRK (der Großen Russischen Kultur) ist im Grunde nichts anderes als ein gezieltes Ablenkungsmanöver. Während die GRK boykottiert wird, wird die ukrainische Kultur vernichtet. Ein Boykott ist eine Form gewaltloser Ablehnung. Vernichtung ist ein Gewaltakt. Lauthals über das Erste klagen, und das Zweite „nicht zu bemerken“ – das ist ein Element der russischen Kriegsführung. Die Säuberung von Bibliotheken im okkupierten Gebiet wird merkwürdigerweise nicht so lebhaft besprochen wie das „Verbot“ von Tolstoi und Bulgakow.
9) 2014 war es shirinowski, jetzt sind es lawrow, lukaschenko, patruschew und unzählige andere, die immer aufdringlicher auf die mögliche „Annexion der Westukraine durch Polen“ hinweisen. Die Mitglieder von putins Politbüro sind von einer Manie des Zerteilens befallen. Transkarpatien werde auf Bitten Orbans nicht angegriffen. Es gibt plötzlich so viele Orwell, dass ganz Russland auf einen Kommentar zu seinem Roman zusammengeschrumpft ist.
10) Während die Opinionmaker weltweit bedrückt über Millionen von „refugees from Ukraine“ berichten, erwähnen sie lieber nicht, dass ein Drittel dieser Millionen bereits zurückgekehrt ist. Das ist unbequem, es passt nicht in ihre kollektive „Syrer-Schublade“: Lässt man ihn einmal herein, wird man ihn nie wieder los. Und die hier gehen freiwillig zurück, obwohl sie es schon reingeschafft hatten. Sind sie anders?
11) Wir sind anders. Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste. Heute ist der 107. Tag, an dem sie – wie sich gezeigt hat – anders ist. Man sollte lernen ihr zuzuhören, damit man mit den eigenen Friedensbemühungen weniger Schaden anrichtet. Man sollte sie bei ihrer schwierigen Aufgabe internationaler Teufelsaustreibung nicht stören.
12) Das Böse wird bestraft werden. Gott ist kein Naivling.
Die Band Okean Elzy gilt in der Ukraine als Kultband. Ihr Frontmann und Sänger Swjatoslaw Wakartschuk reist selbst während des Krieges, um seine Landsleute mit seinen Songs zu unterstützen. Ein Interview über die Kraft der Musik, seine Heimat und über Belarus.
Putin verkennt die gesellschaftlichen Realitäten in der Ukraine, meint Artyom Shraibman. Auf seinem Telegram-Kanal erklärt der belarussische Politikanalyst, warum der „Entnazifizierungs“-Plan von vornherein realitätsfern war – mit nun immer fataleren Folgen.
„Russland ist faschistisch”, sagt US-Historiker Timothy Snyder und löst damit eine Diskussion aus: Sind solche Vergleiche überhaupt zulässig und falls ja – auch nützlich? Eine Debattenschau.
Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur.
Ringsherum Imitation und Fassade: Maxim Trudoljubow über eine Welt der Lüge, mit der Putin sich selbst und sein Land vergiftet habe und nun die Ukraine in eine Katastrophe stürzt.
Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.
Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.
Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.
Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation.
Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.
Selfmade Tschinownik
Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.
Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild.
Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten.
Perestroika
Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.
Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1
Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2
Neustart
Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu.
Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.
Antiwestliche Wende
Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz.
Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“
Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie
Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4
Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen
Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.
Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:
1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg). 2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy). 3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“). 4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel. 5. Wir haben die Atombombe.
Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.
Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.
Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Fernsehen seine Hand im Spiel. Wer sind die Protagonisten der Sendungen? Eine Recherche.
Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.
Wie war das eigentlich Anfang der 1990er Jahre? Welche Fehler der Westen damals in Russland begangen hat und was er heute zusammen mit Russland tun kann, um sie zumindest ein bisschen zu korrigieren, kommentiert der Historiker und Spezialist für russisch-amerikanische Beziehungen Ivan Kurilla.
Vor 14 Jahren brach der Russisch-Georgische Krieg aus. Er forderte rund 850 Tote und tausende Verletzte und machte etwa 100.000 Menschen zu Flüchtlingen. Der Krieg zementierte die de facto-Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens von Georgien. Sonja Schiffers über Ursachen, Auslöser und Folgen des Konflikts.
Das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989 an. In der sowjetischen Armee dienten neben den Eliteeinheiten vor allem junge Wehrpflichtige. Auf der sowjetischen Seite wurden 15.000 Soldaten getötet und 54.000 verwundet. Der Krieg führte bei der Bevölkerung zu einem Trauma, das bis heute nachwirkt und die Deutung des aktuellen Einsatzes der russischen Luftwaffe in Syrien nicht unerheblich beeinflusst.
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