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„Wir haben absolut nichts gegen Russland“

Seit dem 9. August dauern die Proteste in Belarus an – am Wochenende gingen wieder zehntausende in Minsk auf die Straße, auch am Mittwoch hat es massive Proteste gegeben: Nach der im Geheimen durchgeführten Vereidigung Lukaschenkos ist die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Von Anfang an waren die Demonstrationen weder antirussisch noch pro-westlich, sondern richteten sich gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl und gegen Lukaschenko. So fordern die Demonstranten, Swetlana Tichanowskaja als eigentliche Wahlsiegerin anzuerkennen.

Unterdessen ergibt sich in einem gewissen Sinne dennoch eine Lagerbildung: Lukaschenko bat Russland um Hilfe, während Swetlana Tichanowskaja im EU-Ausland Exil suchen musste. Vergangene Woche hat Alexander Lukaschenko sich in Sotschi mit Putin getroffen, der Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar gewährte. 
Eine Woche später trafen die EU-Außenminister Swetlana Tichanowskaja in Brüssel – allein, dass sie sich mit ihr an einen Tisch setzen, hat hohen Symbolwert. Geplante und von Tichanowskaja geforderte Sanktionen gegen das belarussische Regime scheitern jedoch bislang am Veto Zyperns. Moskau verurteilte das Treffen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus.

Das russische Wirtschaftsmagazin RBC, das seinen einstigen Ruf als Vorreiter des unabhängigen Journalismus nach einem Eigentümerwechsel inzwischen eingebüßt hat, hat Tichanowskaja vor dem Brüsseler Treffen online interviewt. Tichanowskaja spricht dabei über ihre eigene Rolle – sie sei mit dem Versprechen für Neuwahlen angetreten, nicht als künftige Präsidentin. Gleichzeitig kann man an einzelnen Äußerungen Tichanowskajas in dem russischen Medium durchaus ablesen, dass sie das „Einmaleins der Diplomatie“ inzwischen beherrscht – wie sie selbst ganz offen sagt. 

Источник RBC

Alexander Atassunzew: Sie hatten bislang noch keinen Kontakt zu offiziellen Vertretern aus Moskau. Warum?

Swetlana Tichanowskaja: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das entscheidet ja jedes Land selbst. Die einen unterstützen uns, andere nicht. Aber natürlich ist Russland ein befreundetes Land, und ich weiß, dass die Russen, das heißt die Menschen dort, die Belarussen unterstützen. Wir bedauern es natürlich sehr, dass Herr Putin Lukaschenko unterstützt hat und nicht das belarussische Volk. Doch wir sind immer offen, unser Koordinationsrat ist immer offen für einen Dialog. Auch ich bin offen für einen Dialog mit Vertretern der Russischen Föderation.

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten

Warum sieht Moskau in der Politik von Swetlana Tichanowskaja nicht das, worauf man bauen will? Worin besteht Ihrer Meinung nach das Problem?

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten. Mein Wahlprogramm bestand aus drei Punkten, von denen der wichtigste die Durchführung neuer, ehrlicher und transparenter Wahlen war. Und erst bei diesen Wahlen wird der Präsident gewählt. Ich bin mir sicher, dies wird eine äußerst starke Führungspersönlichkeit sein, mit der Herr Putin gemeinsame Verhandlungs- und Gesprächsthemen auf Augenhöhe finden wird, falls er mich nicht als Menschen sieht, mit dem er sprechen kann.

Worin besteht der Sinn der regelmäßigen und recht häufigen Treffen mit Vertretern der Europäischen Union? Als Reaktion intensiviert Lukaschenko doch nur die Bindung an Russland, schließt die Grenzen zur EU und kontrolliert die Grenzen zur Ukraine stärker. Meinen Sie nicht, dass Ihre ständigen Kontakte zur EU Moskau verschrecken und Anlass geben zu sagen, dass Ihnen da jemand den Rücken stärkt.

Ich würde nicht sagen, dass es häufige Treffen sind. Sie finden je nach Notwendigkeit und Bedarf statt. Treffen mit Staatsoberhäuptern gibt es nicht täglich, nicht mal wöchentlich. Ich glaube nicht, dass Russland da etwas befürchtet.

Unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert

Ich sehe auch keine Verbindung zwischen diesen Treffen und Lukaschenkos Verschärfung der repressiven Maßnahmen, denn unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert. Doch wir sind gezwungen, adäquat zu reagieren, denn uns geht es vor allem um die Unterdrückung der Menschenrechte in Belarus. Die Repressionen gehen weiter und werden stärker, denn die Belarussen sind aufgewacht und haben beschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau aus diesem Grund können sie nicht länger so leben und nicht aus dem Grund, weil wir uns mit Vertretern der Europäischen Union treffen.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Lukaschenko uns noch vor ein paar Monaten [während des Wahlkampfs – dek] beschuldigt hat, wir würden aus Russland gelenkt werden und dass der Kreml uns in der Hand habe. Und jetzt hat dieser Mensch seine Meinung um 180 Grad geändert. Plötzlich finanzieren uns angeblich die USA und diverse andere Strippenzieher, Lettland, Polen, und jetzt ist auch schon die Ukraine mit von der Partie.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind. Und er weiß genau, dass wir immer gesagt haben: Wir sind offen für einen Dialog. Und dass wir, ich meine das belarussische Volk, niemals Russland den Rücken zukehren würden. Wir sind befreundete Länder, und das wollen wir auch bleiben.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind

Wir hätten gern von allen Ländern Unterstützung in unserem Kampf dafür, dass das Volk über die Zukunft des Landes entscheidet. Denn wir kämpfen für das Recht zu wählen, mit wem wir unser Land aufbauen wollen. Das ist kein prowestlicher oder prorussischer Kampf, das ist das Aufstehen gegen einen Mann, zu dem unsere Leute das Vertrauen und vor dem sie die Achtung verloren haben und mit dem wir weder weiter leben noch weiter arbeiten wollen. Das hat weder etwas mit Herrn Putin noch mit der Ukraine noch mit irgendwelchen anderen Ländern zu tun. 

Sprechen Sie denn auf den Treffen mit den EU-Vertretern über mögliche Wirtschaftshilfen für Belarus, etwa durch einen Stabilisierungskredit für den Fall, dass die Opposition siegen sollte? Und wenn ja, wie und zu welchen Bedingungen soll das geschehen?

Ja. Belarus wird für die Stabilisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Hilfe brauchen. Wir haben darüber mit vielen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen gesprochen, auch mit potentiellen Investoren. Es gibt Interesse und den Wunsch zu helfen. Der Ministerpräsident von Polen machte den Vorschlag eines Marschallplans für Belarus. Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die Bedingungen und Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.

Warum sind auf Ihrer Website Links aufgetaucht zu einem Reanimationsmaßnahmen-Paket, das unter anderem den Austritt von Belarus aus der OVKS vorsieht, aus der Russisch-Belarussischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion und so weiter? 

Da verblüffen Sie mich jetzt aber, denn es kann nicht sein, dass von unserer Website, die für Swetlana Tichanowskaja und ihren Wahlkampf erstellt wurde, auf so etwas verlinkt wurde – das hätte ich nicht zugelassen, und ich habe auch nichts davon gehört. Von solchen Ideen habe ich erstmals von Staatsbeamten gehört, die diesen Unsinn verbreitet haben. Das kann jedenfalls nicht stimmen. Mein Programm besteht aus drei Punkten. Wenn irgendwann irgendwo irgendwas aufgetaucht ist, dann hat das mit mir überhaupt nichts zu tun. 

Finden Sie die Ideen des Reanimationsmaßnahmen-Pakets gut? Entrussifizierung, Austritt des Landes aus Bündnissen mit Russland und so weiter?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn bei solchen Fragen muss das belarussische Volk mitentscheiden. Es gibt viele Fragen, in die die Meinung der Menschen einfließt, und wenn der neue Präsident der Republik Belarus einmal solche Entscheidungen treffen muss, dann werden die Menschen darüber abstimmen, sie werden ihre Meinung äußern, und Entscheidungen werden nur unter Berücksichtigung dieser Meinung getroffen werden. 

Wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen

Vor dem Treffen von Putin und Lukaschenko [in Sotschi am 13. September 2020 – dek] haben Sie angekündigt, dass alle Verträge, die Moskau und Minsk jetzt schließen, ihre Gültigkeit verlieren, falls Sie an die Macht kommen. 

Ich habe gesagt, dass ich sie überprüfen werde. Weil das belarussische Volk jetzt kein Vertrauen zu Herrn Lukaschenko hat. Sie betrachten ihn nicht als ihren Präsidenten. Sobald ein neuer, gesetzlich gewählter Präsident sein Amt antritt, werden diese Abkommen, wenn sie Belarus, der belarussischen Wirtschaft oder dem belarussischen Volk irgendwie schaden, natürlich abgeändert. Der zukünftige, gesetzlich gewählte Präsident wird natürlich das Recht haben, Abkommen mit allen Ländern neu zu verhandeln. Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, ob Russland, die Ukraine oder sonst ein Land – das gilt für alle Länder. 
Sie müssen verstehen, wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen. 

Es geht um die Verträge, die nach dem 9. August 2020 [dem Tag der belarussischen Präsidentschaftswahl – dek] abgeschlossen wurden. Ist das der Zeitpunkt, ab dem sich, wie Sie sagen, das Volk von Alexander Lukaschenko abgewandt hat?

Ganz genau. 

Sie haben außerdem erklärt, die zukünftigen belarussischen Machthaber hätten das Recht, den jetzt von Russland gewährten Kredit über 1,5 Milliarden Dollar nicht zurückzuzahlen. Finden Sie das wirklich?

In den Augen der Menschen hat Lukaschenko keine Legitimität, sie haben ihn nicht gewählt. Wenn dieser Mensch einen Kredit aufnimmt und die Belarussen sollen ihn zurückzahlen, obwohl sie diese Person gar nicht anerkannt haben und nicht anerkennen werden, wovon reden wir dann? Natürlich ist das ein emotionales Statement, kann sein, aber ich habe es gemacht, weil wir in Wirklichkeit alle wissen, wofür dieses Geld verwendet wird. Für die Vernichtung der eigenen Leute. Sie kaufen damit kugelsichere Westen. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen? Gegen unbewaffnete Menschen?

Dieses emotionale Statement habe ich gemacht, weil wir wissen, dass dieses Geld für die Vernichtung der eigenen Leute ausgegeben wird

„Den Kredit zahlen wir nicht ab, die Abkommen erkennen wir nicht an“ und so weiter – glauben Sie nicht, dass Ihre Aussagen Moskau erst recht anspornen, Lukaschenko vorbehaltlos zu unterstützen? 

Das weise Moskau denkt nicht so. Denen ist klar, dass man heutzutage alles im Dialog lösen kann, zu dem wir die derzeitige sogenannte Staatsmacht von Belarus gerade einladen. Und genauso werden alle anderen Fragen im Dialog gelöst werden. Zwischenstaatliche Fragen und Fragen bezüglich der Abkommen, die in diesem Zeitraum geschlossen wurden. Das heißt nicht, dass wir alle Verpflichtungen ignorieren, keineswegs. Aber der Punkt ist, dass nur der Dialog aus dieser Situation herausführen kann. Und für uns, die Mehrheit, ist es natürlich schwer zu sagen, dass Wladimir Putin die Meinung der belarussischen Mehrheit nicht berücksichtigt hat. Weil ihm klar sein muss, dass Lukaschenko die Situation nicht mehr im Griff hat. Und als weiser Anführer sieht Herr Putin das alles.
Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Weil dieses Problem ohne äußere Einmischung viel schneller zu lösen wäre. 

Warum sprechen Sie von der Weisheit Moskaus und schließen aus, dass Wladimir Putin annimmt, dass Sie in der Minderheit sind oder dass Sie NATO-Stützpunkte in Belarus wollen?

Ich könnte auch etwas anderes sagen, aber ich habe mir das Einmaleins der Diplomatie schon ein wenig angeeignet – das musste ich –, daher sage ich es genau so.

In einem Interview sagten Sie, Lukaschenko bekäme im Fall seines friedlichen Rücktritts eine Garantie auf Immunität. In einem anderen Interview sagten Sie dagegen, er hätte sich für die Verbrechen der Silowiki zu verantworten. Welche Zukunft sehen Sie denn nun für Lukaschenko? 

Bei dieser Frage gerate ich immer ein wenig ins Schlingern, weil ich auch nur ein Mensch bin und meine eigene Haltung dazu habe. Aber ich verstehe, dass es Leute gibt, die von den Ereignissen seit dem 9. August besonders betroffen sind, deren Angehörige getötet wurden, die diesem Menschen niemals verzeihen werden, und sie wären absolut dagegen, dass er diese Garantie bekommt. Und daher schlagen bei dieser Frage immer zwei Herzen in meiner Brust. Was kann ich da antworten als Vertreterin aller und für mich persönlich?

Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen

Wahrscheinlich ist die richtige Antwort: Wenn es keine weiteren Opfer gibt, dann kann und wird diese Frage zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Wenn wir uns an einen Tisch setzen, können wir das alles diskutieren. 

Sie werden das letzte Wort haben, wenn Sie Präsidentin werden.

Nein, das letzte Wort wird ein faires Gericht haben. 

Wie kann es ein Gericht geben, wenn eine Garantie auf Immunität gewährt wird?

Da sehen Sie es, es ist klar, dass solche Verbrechen unverzeihlich sind. Wir wollen nicht, dass auch nur ein Tropfen Blut fließt. Daher sind unsere Demonstrationen prinzipiell friedlich. Daher kann die Frage der Immunität unter der Bedingung, dass es keine weiteren Opfer gibt, Gegenstand von Verhandlungen werden. 

Warum kehren Sie nicht nach Belarus zurück?

Ich fühle mich dort nicht sicher. Sogar wenn man sich in keiner Weise schuldig macht, denken sie sich irgendeinen Paragrafen für dich aus, dazu braucht es nicht viel. Ich bin ja nicht aus freien Stücken im Ausland. Wenn man bei uns offen reden und seine Position zum Ausdruck bringen könnte, glauben Sie, dann würde irgendjemand auswandern? Es würden natürlich alle in ihrer Heimat bleiben und von dort aus predigen und ihre Meinung kundtun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, glauben Sie mir, ich wäre geblieben, ich hätte keine Minute überlegt. 

Finden Sie nicht, dass Sie sich seit dem Wahltag stark verändert haben? Am 9. August haben die Menschen für eine Swetlana Tichanowskaja gestimmt, die ihnen eine Volksabstimmung versprochen hat. Jetzt sind Sie zur Politikerin geworden mit eigener Meinung zu vielen internationalen Fragen. Obwohl die Belarussen damals eigentlich keine Politikerin gewählt haben. 

Natürlich war ich gezwungen, in sehr kurzer Zeit einiges zu lernen, und ich lerne weiter, das Leben verlangt mir das gerade ab. Aber meine Position in Bezug auf Belarus hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir beginnen müssen, gemeinsam mit den Menschen ein neues, demokratisches Land aufzubauen, das sehe ich nach wie vor so. Und ich weiß, dass mich die Leute als Symbol für den Wandel gewählt haben, auch wenn das pathetisch klingt. Weil alle wussten, dass ich mein Versprechen halten würde, dass, wenn sie Tichanowskaja wählen, was die Mehrheit auch gemacht hat, es Neuwahlen geben wird, in denen sie einen richtig starken Ökonomen, einen Politiker wählen. Das wird dann ein Wettkampf unterschiedlicher Programme sein, aber er wird fair und transparent sein. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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